Sind jetzt nicht mal mehr Popstars doof? Kann man sich denn auf gar nichts mehr verlassen? Haben alle die recht, die der beliebten bürgerlichen Erregungsdroge »Kulturpessimismus« verfallen sind? Was kommt noch alles auf uns zu, wenn sich eine Frau, die ihre Brüste meistens nur mühsam im Zaum halten kann und mit platinblonder Perücke Partyexzesse feiert, auch noch zu Montaigne äußert? »Was wir Missgeburten nennen«, schreibt Montaigne in den Essais, »sind für Gott keine, da er in der Unermesslichkeit seiner Schöpfung all die zahllosen Formen sieht, die er darin aufgenommen hat.« Lady Gaga, die damals noch den Namen Stefani Germanotta trug und an der New York University Musik studierte, folgerte daraus 2004, dass wir »in unserer nackten Gestalt, wie in unserer deformierten, nicht nur unsere Verletzlichkeit, unsere Haut, unsere Narben und unsere Genitalien ausstellen. Sondern auch unsere Geheimnisse.«
Ein paar Jahre und einige Millionen Platten und Dollar später zeigt Lady Gaga, was sie damit meint. Im Video zu ihrem Hit Just Dance robbt sie auf einem Plastikkillerwal herum und spielt sonst das ungezogene und ziemlich ausgezogene Mädchen. Im Video zu ihrem zweiten Hit Poker Face schmust sie mit ein paar Riesenhunden, tanzt als eine Mischung aus Kleopatra und Bond Girl in einem blauen Badeanzug herum und frönt dem Gruppensex. Und in ihrem Video zu ihrer neuen Single Love Game fassen sich die Männer in der U-Bahn dauernd an den Schritt, während sie sehr breitbeinig dasitzt, bevor sie in einer Tiefgarage auf ein paar Autos klettert und schließlich einen Polizisten vernascht. »Der soziale Körper und vor allem der nackte Körper«, schrieb Stefani Germanotta 2004 in Bezug auf Montaigne, »ist notwendigerweise eine sexuelle Sache.« Schon richtig, kann man da nur sagen, und ziemlich heutig, aber erklärt das schon ihren Erfolg? Was also hat es zu bedeuten, dass diese 23-jährige New Yorkerin, die mit vier Jahren Klavier lernte, mit elf auf die berühmte Juilliard School gehen sollte und sich dann doch für die katholische Privatschule Convent of the Sacred Heart entschied, die erste Erfolge underground feierte und heute diesen Riesenruhm reitet ganz über Grund – dass Lady Gaga also mit ihrem Elektro-Disco-Pop, der an Queen und David Bowie geschult ist und natürlich auch Madonna eine Menge schuldet, weltweit auf Platz eins steht? Ist Lady Gaga nur eine weitere Britney Spears oder Christina Aguilera? Oder kann es sein, dass sich die Barbiepuppen emanzipiert haben? Der New Yorker berichtet jedenfalls, Lady Gaga rede gern über Kommunismus und Rilke. Sie selbst sagt, in einer Art Andy-Warhol-Crash-Kurs, dass sich »heute jeder berühmt fühlen kann«. Wie »nicht dumm« ist Lady Gaga also, das fragt zu Recht der New Yorker.
Es ist schwer, aus der Distanz eine Antwort darauf zu finden. Aber man kann immerhin erst einmal das doch sehr post-ironische Selbstbewusstsein von Lady Gaga konstatieren, das weniger mit Britney Spears zu tun hat und mehr mit solchen Erotik-Irritatorinnen wie den Sängerinnen Peaches oder Beth Ditto – Frauen, die sehr souverän über ihr Image, ihren Körper, ihre Sexualität bestimmen: Peaches, indem sie die aggressive männliche Sexualität einfach umdreht und gegen die Männer wendet, Beth Ditto indem sie ihr eigenes, schwergewichtiges Schönheitsideal definiert. Lady Gaga hat gerade im Rolling Stone erklärt, sie werde nicht nur inspiriert von schönen Frauen, sie sei auch bisexuell, was ihr Freund »etwas unangenehm« finde. Aber was soll man auch erwarten von einer Frau, die schon früh wusste, dass »Kunst entsteht, wenn die natürlichen und die künstlichen Körper befreit werden«. Montaigne sagte dazu: »Was wider die Gewohnheit geschieht, nennen wir wider die Natur. Doch es gibt nichts, überhaupt nichts, was nicht gemäß der Natur geschähe.« Auch nicht doof für einen Philosophen.
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