Unmittelbar dabei zu sein, wenn ein menschliches Leben endet, gehört zu den tiefgreifendsten Erfahrungen unserer Existenz. So tiefgreifend, dass der moderne Mensch diese reale Situation möglichst vermeidet. Der Umgang mit dem Tod wird ausgeblendet, an Spezialisten wie Ärzte und Krankenpfleger delegiert. Als vermitteltes, fiktional nachempfundenes Unterhaltungserlebnis dagegen ist die Sterbeszene umso allgegenwärtiger.
Die Zahl der inszenierten, meist gewaltsamen Todesfälle, die man beispielsweise an einem einzigen Fernsehabend zu sehen bekommt, übersteigt jede Fähigkeit unseres Mitleidens oder Mitfühlens bei Weitem. Solches Sterben berührt uns in der Regel nur noch auf der Ebene der Anerkennung einer schauspielerischen oder inszenatorischen Leistung. Aufnahmen des realen Sterbens, die uns als Handyvideo, als Webcam-Aufzeichnung, als Nachrichtenfilm oder als Fotografie erreichen, nehmen eine Mittelstellung zwischen diesen Extremen ein. Das Entsetzen, das gerade ein unerwarteter, sinnloser oder brutaler Tod darin auslösen kann, ist virulent, es kann sogar überwältigend sein. So ist die Entscheidung vieler Menschen zu verstehen, das Internetvideo vom Tod der iranischen Studentin Neda Agha-Soltan bewusst nicht anzusehen – auch wenn es einen Wendepunkt im Freiheitskampf der Iraner markiert, auch wenn es seit mehr als einer Woche die Welt in Aufruhr versetzt.
Noch härter scheint es, sich der Wirkung diverser Enthauptungsvideos, die von Al-Qaida-Terroristen ins Netz gestellt wurden, auszusetzen. Obwohl das Geschehen in allen Fällen undeutlicher, weniger blutig und weiter entfernt sein mag als jede Spielfilmszene – allein das Wissen, dass hier im Moment der Aufnahme wirklich ein Leben zu Ende ging, hebt die Wirkung dieser Bilder über alle anderen hinaus. Darin liegt auch eine dunkle Faszination.
Dieser Effekt lässt sich immer wieder beobachten: Selbst unbewegte Schnappschüsse – Robert Capas Loyalistischer Soldat im Moment seines Todes aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder Eddie Adams’ Aufnahme der Exekution eines Vietcong-Offiziers in Saigon 1968 – sind auf diese Weise Teil des kollektiven Bildgedächtnisses geworden. Gesichter des Todes, jene makabre Filmkompilation tödlicher Unfälle aus den Siebzigerjahren, schlug voyeuristisches Kapital aus dem Schauereffekt genauso wie die urbane Legende vom Snuff-Horrorfilm – angeblich werden Darsteller bei den Dreharbeiten getötet.
Neben kühler Missachtung gibt es bloß zwei Strategien, diesen Schrecken zu bannen: einmal durch die Entlarvung als Fälschung, wie in Gesichter des Todes – alles nur gespielt! Selbst gegen Robert Capa wurden posthum (unbewiesene) Vorwürfe erhoben, er habe sein berühmtestes Foto gestellt. Einen Fake haben wohl auch die Live-Zuschauer im Internet beim angekündigten Medikamenten-Selbstmord des amerikanischen Studenten Abraham Biggs 2008 vermutet – der aber starb wirklich vor laufender Webcam.
In solchen Fällen, wenn der Tod des gezeigten Menschen tatsächlich erwiesen ist, kann der Vorwurf der Inszenierung die Wucht der Bilder noch immer schwächen. Auf diese zweite Strategie setzt das iranische Regime im Fall Neda Agha-Soltan. Der staatliche Fernsehsender Khabar jedenfalls behauptete drei Tage nach der Erschießung, das Video sei gestellt – es sei offensichtlich, dass diejenigen, die die Aufnahmen machten, auf etwas gewartet hätten und das Ganze dann aus mehreren Winkeln gefilmt hätten.
So absurd der Versuch wirkt, hier eine Art Filmkritik ins Spiel zu bringen und die inszenatorische Handschrift eines Regisseurs (der gleichzeitig Auftraggeber eines Mordes sein müsste) zu »entlarven«, so sehr entspricht dies doch der Dualität der Sterbeszene in unserer Kultur. Ein Mord, bei dem Millionen Menschen mitgefühlt haben, als hätten sie ihn selbst gesehen, soll damit in eine dieser fiktionalen Szenen verwandelt werden, die wir im Fernsehen nur noch mit einem Schulterzucken quittieren: der schändliche Plan einer brutalen Diktatur, der nicht gelingen wird.