Dirndl

Das Dirndl macht dürre Frauen fülliger und dicke schlanker. Und fast nur darum geht es heutzutage.

Als der Münchner Autor Ernst Hoferichter 1929 für die Zeitschrift Jugend vom Oktoberfest berichtete, riskierte er in seinem Artikel auch einen Ausblick auf die Wiesn im Jahr 2000. Über die Kleidung der künftigen Besucher schrieb er, man werde vermutlich »in Badetrikots, Papierhemden und Guttapercha-Anzügen zur Bavaria aufschauen« (Guttapercha: Telegrafenkabel). Diese Prognose hat sich nicht bewahrheitet.

Wo Hoferichter, wie es für Zukunftsfantasien typisch ist, das Ultramodernste der eigenen Epoche zum Ausgangspunkt seiner Vorstellungen machte, hat sich der Kleidungsstil auf der Wiesn bekanntlich in eine ganz andere, traditionsgebundene Richtung entwickelt. Das Tragen von Dirndl und Lederhosen ist zum ungeschriebenen Gesetz unter den Wiesn-Besuchern geworden. Im Käfer-Zelt etwa werden die letzten Gäste in Mantel und Jeans zurzeit gemustert wie Zivilisten, die sich in eine Militärparade eingeschlichen haben.

Der Siegeszug des Dirndls auf der Wiesn hat ganze kulturwissenschaftliche Studien hervorgebracht, wie etwa die der Münchner Volkskundlerin Simone Egger, aus der auch der Hinweis auf die Science-Fiction-Vision Hoferichters stammt. Ihnen allen stellt sich die Frage, warum die Tracht zu einer derart zwingenden Uniform auf dem Oktoberfest geworden ist, dass manche Neumünchner tatsächlich glauben, man werde gar nicht hineingelassen, wenn man nicht Dirndl oder Lederhosen anhat. Wie weit die neue Mode dabei von jener Kleidertradition entfernt ist, an die sie nach dem Bekunden vieler Träger anknüpfen will, zeigt sich allein dadurch, dass die überlieferte Zeichenfunktion von Trachten keine Rolle mehr spielt.

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Die Stoffe, Muster und Verzierungen des Dirndls transportierten in ländlichen Regionen eine Vielzahl von Aussagen über Herkunft und Familienstand der Trägerin. In den Bierzelten wären die wenigsten Gäste überhaupt in der Lage, diese feinen Unterschiede und Codes zu entziffern. Die 100-Euro-Dirndl aus den Kaufhäusern sind dagegen grobschlächtige Zeichen, die allenfalls diffuse Traditionsverbundenheit signalisieren sollen.

Jede Kritik am falschen, künstlichen Gebrauch der Tracht auf der Wiesn muss aber bedenken, dass es nie anders gewesen ist. Die Tradition des Dirndls galt schon am Ende des 19. Jahrhunderts als verunreinigt; eine urbane Imitation ländlicher Arbeitskittel. So alt wie das Kleidungsstück selbst ist daher auch der Vorwurf, es sei bloße »Gesinnungstracht«, getragen nicht im selbstverständlichen Bewusstsein, einem Landstrich anzugehören, sondern um demonstrative Verbundenheit mit nationalen oder regionalen Anschauungen auszudrücken. Die heutigen Klagen über den folkloristischen Missbrauch des Dirndls erklangen genauso schon am Ende der Zwanzigerjahre, als die neu gegründeten Salzburger Festspiele und das weltweit erfolgreiche Musical Im weißen Rössl Scharen dirndltragender Touristinnen nach Bayern und ins Salzkammergut brachten.

Im Trachtenrausch auf der Wiesn scheint diese alte Faszination noch einmal auf. Wobei der Impuls der Besucher, das Spektakel mitzumachen, in erster Linie zweifellos mit bloßer Verkleidungslust zusammenhängt. Die Verwurzelung der Trachtenträger in der Gemeinschaft der Wiesn-Gäste ist keinesfalls tiefer oder weltanschaulich aufgeladener als die Verwurzelung des Clowns in der Gemeinschaft des Faschingszugs. Und was das Dirndl betrifft, hat seine Beliebtheit ohnehin weniger mit einer neuen Sehnsucht nach Volkstümlichkeit zu tun.

Im Gegenteil: Seine Beschaffenheit kommt vielmehr einer höchst individuellen Sorge entgegen, der Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber. Das Dirndl verhüllt unliebsame Konturen, lässt die Dürren fülliger erscheinen, die Dicken schlanker. Es macht fast alle weiblichen Körper gleich, und die elastische Schnürung des Mieders wirkt zudem wie ein natürlicher Wonderbra. Verschleierte Problemzonen, optimiertes Dekolleté: Wahrscheinlich besteht die neue Liebe zum Dirndl nur darin, dass sie dem gegenwärtigen Körperbild schmeichelt wie kein zweites Kleidungsstück.

Foto: ddp