Ein Sessel aus Plüschtieren, eine amorphe Sitzlandschaft aus Korbgeflecht, eine Leuchte aus Antirutschmatten – die Möbel von Fernando und Humberto Campana sind anders, surreal, mitunter auch komisch. Aus recycelten Alltagsgegenständen bauen sie Objekte in Kleinserien wie für Fantasyfilme und haben es damit zu weltweiter Berühmtheit und in das Wohnzimmer von Kanye West geschafft. Ihr Durchbruch gelang ihnen 1991 mit dem »Favela Chair«, einem aus Holzresten krude zusammengezimmerten Stuhl, ihrer Hommage an die Improvisationskunst brasilianischer Slumbewohner.
Ihr Studio befindet sich in einer unscheinbaren Straße in São Paulo, in direkter Nachbarschaft zu einem Fleischerladen, einer Näherei und einer Autowerkstatt. Der Eingang zum Studio ist ein Garagentor. Dahinter: eine Werkstatt und ein paar winzige Büros – die Arbeitswelt der berühmtesten Designer Brasiliens ist so unprätentiös, grün und sympathisch wie eine Kleinstadtgärtnerei. Der erste Termin platzt. Fernando Campana ist plötzlich krank geworden, heißt es. Wir führen das Interview mit Humberto, dem älteren der beiden Brüder.
SZ-Magazin: Humberto, wie geht es Ihrem Bruder Fernando?
Humberto Campana: Er hatte einen Nervenzusammenbruch, zu viel Stress. Aber es geht ihm schon besser, danke.
Was fehlt Ihnen, wenn Ihr Bruder nicht da ist?
Die Hälfte von mir. Manchmal laufen Fernando und ich durch die Straße und sehen gleichzeitig etwas, das anderen gar nicht auffallen würde. Wir haben eine sehr intensive Beziehung, sehr direkt und transparent, wir teilen die guten wie die schlechten Dinge. Wir führen eine Ehe ohne Sex. (Lacht.)
Waren Sie schon als Kinder so eng verbunden? Schließlich sind Sie acht Jahre älter als Fernando …
Als mein Bruder geboren wurde, war ich es, der meinen Eltern vorschlug, das Baby Fernando zu nennen. Der Altersunterschied spielte keine Rolle. Wir wuchsen in einem sehr langweiligen Dorf auf, drei Stunden von São Paulo entfernt. Es gab nichts außer einem Kino. Der Besitzer liebte italienische Filme. Weil er ein Freund unserer Familie war, durften wir schon als kleine Kinder alles sehen. Bertolucci, Antonioni, Fellini, Visconti. Was wir im Kino sahen, bauten wir in unserem Hinterhof nach.
Stimmt es, dass Sie auch Kubricks 2001 im Garten mit Schaufeln und Schubkarren nachgestellt haben?
Ja, das war Fernando. Raumschiffe haben ihn immer schon interessiert. Ich dagegen wollte Amazonasindianer sein, ich habe Bambus geschnitten und daraus Pfeil und Bogen gebaut. Es war Fernando, der unsere beiden Welten, das Moderne und das Archaische, verbunden hat.
Es gibt ein schönes Kinderfoto von Ihnen beiden: eine Kirchenprozession in Ihrem Heimatort. Sie sitzen auf einem Wagen neben Ihrem Vater, auf der Ladefläche ein mannshoher Nachbau der Kathedrale von Brasília …
Ja, sehr symbolisch! Mein Vater organisierte die Prozessionen, er hat auch dieses Kathedralenmodell gebaut. Hinterher haben wir es mit nach Hause genommen, ich deckte es mit Plastikfolie ab – die Kirche war mein Indianer-zelt. Ich wurde geboren, als die neue Hauptstadt entstand. Bei uns zu Hause sah ich in Magazinen wie Life oder National Geographic die Bilder der Bauarbeiten. Die Skelette der Paläste kamen mir wie Dinosaurier vor. Es herrschte eine große Aufbruchstimmung. Ich habe die Kühnheit von Oscar Niemeyer immer bewundert, er hat mich sehr geprägt.
Dabei haben Sie zunächst Jura studiert. Wann spürten Sie zum ersten Mal den Drang, Dinge zu entwerfen?
Als ich fertig studiert hatte, fiel ich in ein Loch. Ich machte alle möglichen Kurse, wollte Skulpturen machen oder Schmuck. Dann hatte ich einen Unfall. Ich war gerade in Amerika und machte Rafting auf dem Colorado River. Nachts hatte ich einen heftigen Traum, ich sah eine riesige, unheimliche Spirale. Am nächsten Tag geriet mein Schlauchboot in eine Strömung und kippte um. Ich geriet in einen Strudel, der Sog zog mich nach unten. Ich wäre fast ertrunken. Zwei Stunden nach dem Unfall habe ich einen Stuhl gezeichnet. Ich glaube, dass dieser plötzliche Kontakt mit dem Tod mich erkennen ließ: Jetzt hast du keine Zeit mehr zu verlieren. Jetzt beginnt das echte Leben!
Arbeiteten Fernando und Sie zu der Zeit schon zusammen?
Er kam 1984 nach São Paulo, um mir zu helfen. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt damit, Bambuskörbe aus meinem Heimatort anzumalen und sie in São Paulo zu verkaufen. Mein Bruder lieferte die Körbe in die Geschäfte.
Er war Ihr Lieferjunge?
Ja, lustig, nicht wahr? Von da an waren wir ein Team. Es war die Zeit nach der Militärdiktatur. Etwas Neues lag in der Luft. In Brasilien gab es Meister des Designs wie Sergio Rodrigues oder Lina Bo Bardi, aber die repräsentierten die Fünfziger-, Sechzigerjahre. Danach gab es eine Leerstelle. Man war lange auf die Moderne fokussiert, das Bauhaus, form follows function, und ich dachte: Das ist nicht Brasilien! Das funktioniert im industrialisierten Deutschland, aber nicht hier. Wir sind ein barockes Land. Städte wie Rio de Janeiro oder São Paulo sind ohne großen Plan entstanden, sie wurden wild in die Natur gebaut. Wir haben immer diesen intuitiven, emotionalen Zugang gesucht. Und das Neue. 1989 brachten wir die Serie »Desconfortáveis« (die Unbequemen) auf den Markt. Die Möbel waren aus Eisen, hatten etwas Aggressives, wir suchten die Poesie im Fehler, im Unperfekten.
»Wir sind uns jeden Tag uneinig.«
Wie wichtig ist Ihnen Funktionalität?
Sie steht an zweiter Stelle. Wichtiger ist mir, eine Idee in ihrem Rohzustand festzuhalten. Später wächst sie weiter. Ich arbeite sehr intuitiv, ich fühle mich wie eine Antenne, die Dinge aus dem Universum aufnimmt, wie ein Medium.
Sind Sie ein spiritueller Mensch?
Ja. Ich glaube an die Verbindung mit etwas Höherem – ich weiß nicht, ob das über den Indio oder den Italiener in mir kommt. Deshalb lasse ich mich auch nicht vom Erfolg berauschen. In dem Augenblick, wo ich das tun würde, würde ich diesen Kontakt verlieren.
Kann Design spirituell sein?
Unbedingt. Ich glaube, unsere Modernität ist die Freiheit im Denken. Wir haben in Brasilien eine enorme Bandbreite von Möglichkeiten. Wir Brasilianer sind hybrid. Wir bringen alles zusammen, wie der Ethnologe Darcy Ribeiro es einmal formuliert hat, die Spiritualität des Afrikaners, die Sensualität des Indio und die Rationaliät des Europäers. Unsere Identität bildet sich über den freien Zugang zu diesen unterschiedlichen Welten. So arbeiten wir auch. Manchmal sind wir Designer, manchmal Künstler, manchmal Landschaftsgärtner, manchmal Architekten. Außerdem glaube ich, dass wir Brasilianer flexibler sind, uns besser an Neues anpassen können. Wir haben so viele Krisen durchlebt und erleben sie immer wieder. In den Achtzigern hatten wir eine Inflation von siebzig Prozent im Monat. Mental sind wir bestens auf alles vorbereitet.
Spiegelt sich diese Bandbreite auch in der Beziehung zu Ihrem Bruder wider, sind Sie sehr verschieden?
Sehr. Ich bin pünktlicher, bin jeden Tag im Studio. Wenn Fernando mal keine Lust hat zu kommen, bleibt er zu Hause und arbeitet dort. Um entwerfen zu können, muss es ihm gut gehen. Ich dagegen brauche die Routine, um Ordnung in meinen Kopf zu bringen.
Solange Sie sich bei Ihrer Arbeit einig sind …
Nein, nein, wir sind uns jeden Tag uneinig.
Streiten Sie sich oft?
Früher mehr. Heute sind wir liebevoller zum anderen. Aber wir sind auch Italiener, da gibt es oft Drama. Emotionen, Almodóvar, Fellini! Wir sind sehr Fellini.
Ihre Entwürfe hingegen lassen sich nur schwer einordnen. Was inspiriert Sie?
Wir haben in Brasilien eine Meeresküste, die mehr als siebentausend Kilometer lang ist. Damit sind wir verbunden. Das brasilianische Design ist nicht trocken, es ist flüssiges Design. Die Intuiton ist in ihrer Beweglichkeit dem Wasser sehr ähnlich. Wenn man auf den Boden Wasser schüttet, fließt es weiter, es breitet sich aus, ohne Kontrolle.
Außer Kontrolle ist auch Ihr »Banquete«-Sessel, der aus Kuscheltieren besteht. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Eines Tages lief einer dieser Luftballonverkäufer in unserer Straße vorbei. Aufblasbare Puppen, Flugzeuge, Tiere, ein wildes, buntes Durcheinander. Das war schon ein »Banquete«-Sessel, nur in der Luft! Ich glaube, wir sind Geschichtenerzähler. Unsere Möbel zeigen, woher sie kommen.
Manchmal wirken sie auch ulkig.
Menschen, die unsere Möbel sehen, denken oft, wir seien Spaßvögel und haben immer beste Laune. Das Gegenteil ist wahr. Es gibt auch eine finstere Seite in unserem Schaffen. Wir sagen ja nicht: Lass uns was Lustiges machen! Manchmal sind negative Erlebnisse oder Extremsituationen, wie diese jetzt mit meinem Bruder, der Auslöser. So was bringt einen ins Grübeln. Letztlich ist unsere Arbeit der Versuch, wiedergeboren zu werden wie Phönix. Daraus ziehen wir unsere Kraft.
Wie finden Sie Ihre Materialien?
Überall, auf der Straße. Bei Bauarbeiten stehen auf der Straße so große Behälter, wo die Leute ihren Müll reinwerfen. Schutt, Dämmstoffe, alles Mögliche. Solche Details ziehen mich an. Die Texturen, die Kombination der Farben. Die DNA der verschiedenen Materialien. Das kann einen Schock auslösen, wenn sie aufeinandertreffen und etwas Neues hervorbringen. Die große Herausforderung ist ja, ein billiges Material in ein hochwertiges zu verwandeln. In unserer Anfangszeit war das eine Notwendigkeit, heute ist es die Basis unserer Arbeit. Wir fühlen uns wie Alchimisten. Wir zeigen, dass man etwas Sterbendem ein zweites Leben geben kann.
Welche Rolle spielt dabei São Paulo, die Stadt, in der Sie leben?
São Paulo ist eine bipolare Stadt. Nachts, wenn sie Schatten wirft, wirkt sie magisch, da sieht sie kubistisch aus. Tagsüber finde ich sie hässlich, brutal, traurig. Der Verkehr, das Grau, es ist eine erdrückende Stadt. In São Paulo geht es um existenzielle Dinge, ums Atmen. So etwas treibt an. Uns zum Beispiel, Dinge zu entwerfen.
Sie glauben, an einem schönen Ort ist es schwieriger, kreativ zu sein?
Wenn ich nach Rio de Janeiro fahre, kapituliere ich vor dieser Schönheit. Rio lässt mich ruhig werden. São Paulo nicht. Ich transformiere das, was die Stadt auskotzt. Man darf sich der Hässlichkeit nicht ergeben, sondern muss versuchen, sie zu bekämpfen. Ich muss etwas erschaffen, das mir Hoffnung gibt. Ich brauche das im therapeutischen Sinne. Wissen Sie, das, was mein Bruder und ich tun, ist sehr egoistisch. Wir machen das nämlich, um uns zu kurieren – um zu überleben.
Fotos: Fernando Laszlo (1), Gabriela Bernd (1), Alessi (1), Luis Calazans (2)