SZ-Magazin: Laut dem Farbunternehmen Pantone heißt die Trendfarbe des Jahres 2018 Ultraviolett. Was ist von Farbmoden zu halten?
Hella Jongerius: Das kenne ich nur aus der Mode. Die Modeindustrie braucht immer eine bestimmte Farbe, nach der sie sich jedes Jahr ausrichtet. Sie wird drei oder vier Jahre vorher festgelegt, um rechtzeitig die passenden Stoffe für die Kollektionen herzustellen. Das ist pures Marketing.
Aber gibt es nicht auch in Ihrer Branche Trendfarben, die sich durchsetzen?
Natürlich existiert auch da ein Zeitgeist, aber der wird nicht von oben festgelegt. Er bildet sich heraus. Manche dieser Moden sind kurz, manche tragen länger und finden wirklich Niederschlag im Alltag. Es kann sich ja niemand der Zeit entziehen, in der er lebt. Solche Moden zu erspüren ist Teil meines Jobs als Art-Direktorin bei Vitra.
Wie würden Sie den derzeitigen Zeitgeist beschreiben?
Die meisten Menschen würden immer sagen, sie lieben Farben. Besuchst du sie aber zu Hause, siehst du nur Schwarz-Weiß. Tatsächlich ist aber zu spüren, dass Kunden wieder offener für Farben werden. Sie wollen ihre eher nüchternen Interieurs, viel Holz oder Beton, mit etwas Knalligem aufpeppen, sagen wir mit einem knallbunten Teppich.
Junge Hersteller wie Hay haben auf solchen leuchtend-bunten Accessoires ihr Geschäftsmodell begründet. Wird es wirklich bunter in unseren Wohnungen?
Ich hoffe! Aber wie wollen Sie das feststellen? Das geht nur über Verkaufszahlen. Hay verkauft fast nur Wohnaccessoires. Sobald es größer als ein Geschirrtuch wird, greift die alte Furcht vor zu viel Farbe. Ein buntes Sofa? Bitte nicht, lieber kauft man sich ein magentarotes Kissen dazu und freut sich über die eigene Verwegenheit.
Im Design unterscheidet man zwischen Form und Funktion. Wozu gehört Farbe?
Für mich ist Farbe ein Teil der Form. Farbe kann die Wahrnehmung der Form entscheidend beeinflussen. Glänzender Lack wirkt anders als matter. Farbe wirkt vor allem über die Schatten. Ein Plastikstuhl mit einer organischen, geschwungenen Form zeigt viele Nuancen seiner Farbe erst in den Schatten, was ihn auch schmaler erscheinen lässt, als er ist.
Hat Farbe auch Auswirkungen auf die Funktion von Dingen? Natürlich, aber dann sprechen wir von Gefühlen, von Psychologie. Da ist man schnell bei den gängigen Klischees: Rot macht wach, Grün beruhigt. Davon halte ich nicht viel, auch wenn manches sicher einen wahren Kern berührt. Ich sage immer: Vertraut eurer Intuition!
Wie meinen Sie das? Machen sich die Leute zu viele Gedanken? In Kleidungsfragen sind wir viel ungezwungener. Wir haben ein ungefähres Verständnis davon, was uns steht. Nicht so beim Möbelkauf. Die meisten Menschen haben da zumindest eine gewisse Scheu vor Farben. Sie glauben, es gebe die eine, perfekte Farbe für sie. Oder sie denken, man brauche guten Geschmack, um eine Farbe zu beurteilen. Also gehen sie lieber auf Nummer sicher und entscheiden sich für das beigefarbene Sofa oder den unauffälligen Stuhl in Grau.
Glaubt man professionellen Einrichtern, ist die richtige Farbkomposition eines Raumes eine Wissenschaft für sich.
Das kann man so sehen. Aber Farbe ist eben auch eine sehr subjektive Angelegenheit. Es gibt keine letzten Wahrheiten.
Manche sagen: Farben existieren nur in unseren Köpfen, wo reflektiertes Licht unterschiedlicher Wellenlänge als Farbeindruck wahrgenommen wird.
Hier fängt es an, interessant zu werden, nicht wahr? Was ist Farbe? Hat sie überhaupt eine objektive, materielle Grundlage? Und warum werden gleiche Farben von jedem Menschen unterschiedlich wahrgenommen? Sie empfinden ein bestimmtes Blau anders als ich. Le Corbusier war der erste Designer, der seine eigene Farbpalette und Farbtheorie kreierte. Nicht auf wissenschaftlicher Basis, sondern auf der Basis seiner eigenen Intuition und seines Geschmacks. Damit war er weiter als der Bauhaus-Meister Johannes Itten, der immer noch nach letztgültigen Farbwahrheiten suchte.
»Farbe besteht im besten Fall aus Schichten. Sie atmet. Diese Macht wird viel zu wenig genutzt«
Die Designerin Ray Eames hatte, bevor sie weltberühmte Stühle entwarf, Malerei studiert. Sie sagte: »Ich habe das Malen nie aufgegeben. Ich habe nur meine Palette gewechselt.« Sollten sich Designer ein Beispiel an ihr nehmen?
Nein. Man muss nicht auf allen Gebieten ein Meister sein, um ein guter Designer zu sein. Falsche Farbentscheidungen können relativ schnell und problemlos korrigiert werden. Wenn der gelbe Stuhl nicht funktioniert, bringst du ihn eben in zwei Jahren noch mal in Blau auf den Markt. Das Problem mit den Farben ist eher eines der Hersteller. Es gibt in der Industrie, besonders in der Farbindustrie, kein Bewusstsein für Farbe, für ihre Subtilitäten.
Welche Subtilitäten meinen Sie?
Farbe ist viel mehr als nur die normierte Außenhaut eines Produkts. Sie besteht im besten Fall aus Schichten. Sie atmet. Diese Macht von Farben wird viel zu wenig genutzt. Wir Designer müssen das nehmen, was uns die industriellen Farbhersteller anbieten. Dabei gäbe es viele aufregendere Arten, um Metall, Holz oder Kunststoff zu färben.
Was unterscheidet atmende Farben von Normfarben?
Sie reagieren auf unterschiedliche Lichtverhältnisse. Man nennt dieses Phänomen Metamerie. Das Morgenlicht hat eine lange Reise durch viele Atmosphärenschichten hinter sich, es ist klar und erscheint bläulich. Mittags ist das Licht dagegen scharf und grell, viel Gelb, starke Kontraste. Gegen Nachmittag wird das Licht flacher, weil die Luftverschmutzung im Laufe des Tages zunimmt – die Farben werden stumpfer. All diese Veränderungen will man doch sehen an seinen Wänden, dem Sofa, der Metallvase! Erst das macht das Leben dreidimensional.
Was fehlt den Industriefarben?
Sie haben entweder die falschen Pigmente oder zu wenig Pigmente. Industriefarben sind nach ökonomischen Gesichtspunkten gemischt. Dunkle Schattierungen werden durch Zugabe von Schwarz erreicht. Die alten Meister haben dafür die Komplementärfarbe benutzt, was ihren Farben Tiefe und Vielschichtigkeit verlieh. Ein anderes Problem ist der Kult um die Beständigkeit.
Was soll falsch daran sein, dass Farben lange stabil bleiben? Nichts, aber es wird zu viel Wert darauf gelegt. Deshalb sind die Farbrezepte der Industrie so, wie sie sind. Farben haben lichtbeständig zu sein, sie sollen immer gleich leuchten, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Das bekommt man nur durch viel umweltschädliche Chemie hin. Das Resultat ist das Gegenteil von Metamerie. Industrielle Farben oder gefärbte Textilien werden in Labors endlosen Testprozeduren unterzogen, bis die stabilste Rezeptur, das haltbarste Garn gefunden ist. Das aber vertreibt jedes Leben aus den Dingen. Die Industrie sagt: Die Leute wollen das so. Ich glaube das nicht.
Nicht jeder möchte sein Sofa alle drei Jahre neu beziehen lassen.
Und die Hersteller wollen nicht verklagt werden, und sie wollen Reklamationen vermeiden. Alles verständlich. Aber das Testen hat jedes Maß verloren. Armlehnen von Stühlen müssen 100 Kilo aushalten. Polsterstoffe werden 20 000 Mal mit Klett malträtiert und sollen immer noch fusselfrei sein. Das ist weltfremd. Wir verlieren dadurch viel Qualität. Und warum das Sofa nicht nach sechs, acht Jahren neu beziehen? Es fühlt sich danach neu an, obwohl es alt ist. Besser, als sich alle drei Jahre ein neues Schrottsofa zu kaufen.
Ab 1997 haben Sie Vasen mit Autolacken besprüht und damit die traditionsbewusste Keramikszene befremdet. War das der Anfang Ihrer Beschäftigung mit Farbe?
Ich wollte knallrote Vasen. Das aber war unmöglich mit den üblichen Glasuren, angeblich zu gesundheitsschädlich. Die Aufregung in der Porzellanwelt damals habe ich nie verstanden. Es ist nur eine Art der Färbung! Aber ja, seitdem experimentiere ich mit unterschiedlichsten Techniken und interessiere ich mich für Farben, ihre Herstellung, ihre Wirkung.
Einer Ihrer erfolgreichsten Entwürfe als Designerin war das Sofa »Polder« von 2005. Es war asymmetrisch und bestand aus verschieden großen Polstermodulen mit Bezügen in verschiedenen Farbnuancen. Was gilt es bei Farben und Stoffen zu beachten?
Farbe in Stoffe zu weben kann wie Pointillismus in der
Malerei sein. Um Grün zu erhalten, können Sie beispielsweise gelbe und blaue Garne miteinander verweben. Das erzeugt viel mehr Tiefe, als wenn Sie einfach grünes Garn nehmen.
2013 haben Sie mit dem Stararchitekten Rem Koolhaas zusammen die Delegiertenlounge der UN-Zentrale in New York neu gestaltet. War es schwer, die Bürokraten von bunten Sesseln und Patchwork-Sofas zu überzeugen?
Viel schlimmer waren die Sicherheitsfragen. Tische und Sessel mussten so arrangiert werden, dass niemand die Bildschirme von Laptops einsehen konnte. Es durfte nur eine Horizontale geben, damit sich kein Attentäter irgendwo verstecken kann. Aus dem gleichen Grund keine zu großen Möbel, kugelsichere Vorhänge vor den Fenstern. Also entwarf ich einen Vorhang aus großen Porzellankugeln. Das führte zu weiteren Diskussionen: Zerspringen die bei einem Anschlag nicht in Millionen todbringende Schrapnelle?
Sie haben mal gesagt, am liebsten seien Ihnen Tertiärfarben, also die gebrochenen Brauntöne, die man aus den drei Grundfarben Rot, Blau und Grün mischen kann. Was mögen Sie so sehr daran?
Es sind Farben, die man nicht recht zuordnen kann, für die einem kein Name einfällt. Sie liegen irgendwie dazwischen. Ich mag es, wenn man etwas nicht zu fassen kriegt. Natürlich brauche ich die anderen Farben auch, aber die Tertiärfarben bringen mich zum Nachdenken.
»Farbe in Stoffe zu weben kann wie Pointillismus sein«
Ihr Vater war Tomatenbauer in einem Dorf nahe Utrecht. Mochten Sie das Landleben?
Ja, ich hatte eine sehr glückliche Kindheit, die meiste Zeit war ich mit meinen drei Brüdern draußen. Der Alltag war nach festen Regeln strukturiert, und doch fühlten wir uns frei. Das Geld war meistens knapp, also machten wir viel selbst. Es waren die Siebziger. Wenn ich nicht draußen spielte, saß ich mit meinen Freundinnen zusammen und strickte oder dekorierte mein Zimmer um. Mit siebzehn zog ich nach Amsterdam.
Sie haben zunächst Ergotherapie studiert, bevor Sie eine Tischlerlehre machten.
Na ja, ich wusste noch nicht genau, wo es hingehen sollte. Natürlich fand ich danach keinen Job, die meisten meiner Freunde waren arbeitslos. Aber man konnte damals eine Weile lang auch gut vom Staat leben. Es war Anfang der Achtzigerjahre, wir gingen viel in die Clubs. Ich lernte ein paar Kunststudenten kennen und dachte mir, das könnte doch was sein. Erst mit 25 begann ich mein Studium an der Design Academy Eindhoven. Ich hatte keine Ahnung von Industriedesign, doch als ich fertig war, wusste ich, was ich wollte.
Sie wurden Teil des niederländischen Designkollektivs Droog, das dem elitären Design der Achtzigerjahre eine neue, spielerische und stark subjektive Formensprache entgegensetzte. Hat Ihre Rebellion etwas bewirkt?
Ich hatte Glück, dass meine Interessen mit dem Zeitgeist zusammenfielen. Droog war ein gutes Podium für mich. Wir suchten nach einer neuen Individualität im Design. Und wir suchten die Nähe zur Industrie, denn wir wollten auf dem Markt etwas bewegen – nicht nur Einzelstücke für Sammler herstellen. Zu jener Zeit gewann ich meine ersten großen Hersteller.
2015 schrieben Sie ein Manifest, das sich gegen den Kult des Neuen im Design richtet.
Das Manifest richtete sich vor allem gegen Messen wie den Salone del Mobile in Mailand, wo das Neue oft genug nur Altes im neuen Gewand ist, wo es um Styles geht, nicht um echte Innovation. Mir ging es darum, nicht länger am Rand zu stehen, sondern meine Stimme zu erheben: Was entwerft ihr da fortwährend, Kollegen? Wie viel Zeug braucht die Welt noch?
In einem Vortrag dazu sagten Sie, es gebe zu viel »shit design«. Was zum Beispiel?
Jede Saison gibt es Hunderte neue Stühle, Hunderte neue Beistelltische. Warum? Ich zweifle nicht daran, dass echte Innovation noch möglich ist, auch im Stuhldesign, denken Sie an die Stühle von Konstantin Grcic. Aber nur wenige Designer haben diesen Anspruch noch. Dafür gibt es dieses riesige Echo, das den echten Innovationen folgt, ein viel zu großes Arsenal an Nachahmerprodukten. Statt unseren Hyperkonsum auf großen Messen wie dem Salone in Mailand zu hinterfragen, wird er dort angeheizt.
Sind Sie kulturpessimistisch?
Gar nicht. Ich bin Optimistin und weiß sehr wohl, dass wir in aufregenden Zeiten leben. Die Digitalisierung stellt unsere Welt auf den Kopf. Nur müssen wir Designer langsam auch anfangen zu begreifen, dass unsere Ressourcen endlich sind.
Der Designer Philippe Starck bekannte in Interviews, er möge seinen Beruf nicht besonders. Der Beruf sei nutzlos angesichts der Probleme, die der ungezügelte Konsum mit sich bringe. Wie steht es um Ihren Berufsstolz?
Ich verstehe Starck, aber ich glaube ihm nicht. Er hat eine ganz schöne Menge Geld verdient mit seinen Produkten. Und es waren nicht wenige. Aber ja, auch mich verbindet eine Hassliebe mit meinem Beruf. Deshalb ist mir Qualität so wichtig – und gewisse ethische Grundsätze.
Produktdesign und Architektur gelten als Männerdomänen. Haben Sie das manchmal zu spüren bekommen?
Eigentlich nicht. Aber ich musste mich auch gegen drei Brüder behaupten, das prägt.
»Auch mich verbindet eine Hassliebe mit meinem Beruf«
Hat Ihnen geholfen, dass Sie ein Handwerk gelernt haben?
Auf jeden Fall. Man kommt besser mit den Typen auf der Baustelle oder an den Maschinen ins Gespräch. Man kann auch leichter die Bedenkenträger, die es bei jedem Hersteller gibt, widerlegen, die immer behaupten: Das geht nicht.
Warum tragen fast alle Architekten Schwarz und fahren schwarze Autos?
Weil sie glauben, damit auf der sicheren Seite zu sein. Weil sie immer noch der modernistischen Tradition des 20. Jahrhunderts verhaftet sind. Sie überspielen ihre Unsicherheit. Sie lehnen Dekoration als unmodern ab – und Farbe ist Dekoration. Und natürlich wirkt man in Schwarz schlanker.
Warum ist das Spielzeug in den Kaufhäusern immer noch in Rosa für Mädchen und Hellblau für Jungs unterteilt?
Das ist reines Markenbuilding. Sie wollen ihr Zeug verkaufen, und das machen sie dir so leicht wie möglich, indem sie sich auf zwei Farben konzentrieren. Das ist ja auch für sie die billigste Lösung. Was für ein Bullshit!
Ihr Chef bei Vitra, Rolf Fehlbaum, wollte Ihnen den berühmten »Lounge Chair« von Eames für Ihre Wohnung zur Verfügung stellen. Sie haben abgelehnt, warum?
Es ist ein Papa-Sessel. Außerdem ist er mir zu dunkel und wuchtig. Draufhin schlug er mir vor, zusammen eine leichtere, hellere Variante zu entwerfen. Und das haben wir dann gemacht.