Als Erstes muss der Kaugummi runter. Fest wie erstarrtes Pech klebt er auf den schrundigen Latten. Mit der Finne eines Hammers wird er weggeschlagen. Auch die Nägel und Schrauben müssen rausgepult werden, alle, sonst geht die Maschine kaputt, die aus dem Altholz gleich blitzsaubere Bretter fräsen wird. Martino Gamper lässt einen Metalldetektor über jede Latte gleiten, sicher ist sicher. Das Holz stammt von Bänken, Tischen oder Arbeitsflächen einer Schule, so genau ist das nicht mehr auszumachen. Bunsenbrennerspuren und Ätzstellen deuten auf den Chemieraum hin. Warum er das trotz Tintenflecken und Gekrakel aufgehoben hat? »Weil es bestes, superhartes Teakholz ist.«
Gamper, 45, Designer aus Südtirol mit Wohnsitz in London, hat sie einem Freund abgekauft, der berufsmäßig Altholz von Baustellen einsammelt. Auch Gamper sammelt viel: alten Hausrat, Verschnitt großer Möbelhersteller, ausrangierte Designklassiker und Bretter, Bretter, Bretter. All das lagert in einer etwa sechs Meter hohen Halle in raumfüllenden Regalen. »Mein Archiv«, sagt Gamper. Es befindet sich auf dem Gelände eines ehemaligen Bauernhofes bei Laddingford in der Grafschaft Kent, etwa eine Stunde östlich von seinem Londoner Designstudio im Stadtteil Hackney. Auf dem alten Hof, zwischen Getreidefeldern und Erntemaschinen, betreibt er mit einem Freund eine Schreinerwerkstatt. Hier entstehen seine Auftragsarbeiten, meistens Einzelanfertigungen für Galerien, Firmen und Privatleute. Riesige Besprechungstische zum Beispiel oder große Speisetafeln, natürlich auch Stühle. So ein Fünf-Meter-Tisch mit achteckiger Platte und aufwändigen Details kann 15 000 Euro kosten, er und seine drei Mitarbeiter arbeiten mindestens zwei Wochen an einem solchen Stück.
Heute jedoch ist Gamper hier, um für das SZ-Magazin einen Tisch zu bauen, ein Unikat, etwas Besonderes, ein Readymade. Denn das war die Idee: Was kommt heraus, wenn man einen Designer bittet, spontan ein Möbelstück herzustellen? Ohne Reißbrett und Computer. Per Hand und nur mit dem, was die Werkstatt und das Lager hergeben. An einem Tag.
Gamper musste für dieses Projekt nicht groß überredet werden. Die Wahl fiel auch nicht zufällig auf ihn. Mitte der Nullerjahre hat Gamper aus Sperrmüll, verwaisten Stuhlklassikern und anderen Dingen, die er in Kellern oder auf der Straße fand, hundert Stühle gebaut. Im Zeitraum von zwei Jahren, aber immer jeweils an einem Tag. Kein Stuhl glich dem anderen. Er baute sie zusammen, wie DJs aus Samples alter Lieder neue Musikstücke arrangieren. Die Stilepochen wirbelten nur so durcheinander. Gamper zwängte einen Sitzsack in ein Gerippe eines Thonet-Kaffeehausstuhls, machte die Lehne eines Plastikstuhls zur Sitzpfanne eines Eiermann-Klappstuhls aus Holz und bezog einen weißen Monobloc mit Samt. Und doch passte alles zusammen. »Mir ging es bei diesem Projekt nicht darum, auf den bestmöglichen Stuhl zu stoßen. Ich wollte das Neue im Alten finden, Möglichkeiten, die sich ergeben, wenn man strukturelle und stilistische Elemente neu kombiniert.« Gampers Aktion traf einen Nerv, weil er das Recycling weiterdachte. »Es gibt mir eine große Genugtuung, gebrauchte Dinge kreativ zu transformieren und in den Kreislauf zurückzuführen. Das macht aber nur Sinn, wenn dabei auch was Besseres rauskommt. From waste to taste.«
Gampers Eklektizismus war so charmant, weil er eine alte Frage stellte: Was macht einen Stuhl aus? Vor allem aber hatte er neue Fragen: Was erzählen Stühle über die menschliche Geschichte? Wie ändert sich ihr Wert, ihr Status, wenn wesentliche Elemente aus ihrem Zusammenhang gerissen werden? Was ist Komfort? Und: Kann ein Stuhl Humor haben?
Die hundert Stühle wurden weltweit mehrfach ausgestellt und machten Gamper in der internationalen Designszene schnell bekannt. Heute gilt er als einer der eigenwilligsten Köpfe seiner Branche, der seine Nische an der Schnittstelle von Kunst, Handwerk und Industriedesign gefunden hat. Er entwirft Möbel für Hersteller wie Moroso, Magis und Kvadrat, aber auch Schaufenster für Prada oder Ledertaschen für Valextra. Er kuratiert Ausstellungen, lehrt an Designschulen und richtet Restaurants ein. »Ich brauche diese Vielfalt, diese Abwechslung. Und wir müssen kreativ sein mit unserem Geschäftsmodell. Das Zeitalter des Designers, der in seinem Studio still an seinen Entwürfen für große Hersteller feilen kann, ist vorbei.«
London ist im Umbruch. Auf der Fahrt nach Kent hat Gamper auf die vielen Hochhäuser gezeigt, die in East London aus dem Boden wachsen. Jetzt fallen die Immobilienpreise. Viele werden leerstehen. Der drohende Brexit ist längst spürbar. Auch ihm bereitet er Sorgen. Es drohe unnötiger Papierkram, wenn man einen Studenten aus der EU anstellen oder Produkte ausführen will. Der Standort könnte an Attraktivität verlieren, sagt Gamper, die Qualitätsstandards noch weiter sinken, wenn EU-Richtlinien nicht mehr gelten. Da kommt der vielgereiste Festlandeuropäer in ihm durch. Vor Kurzem hat er eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt und auch bekommen, sicher ist sicher. Irgendwann möchte er Brite werden. Auch damit er das nächste Mal mit abstimmen kann, wenn existenzielle Entscheidungen anstehen. Demnächst wird eine Monografie über ihn erscheinen. »Das hilft mir, mir darüber klar zu werden, was ich in den letzten Jahren so alles gemacht habe, was ich überhaupt mache und wie das alles zusammenhängt.«
Die gesäuberten Latten krachen Stück für Stück auf einen Haufen. Noch sieht es aus, als wolle hier jemand ein Lagerfeuer aufstapeln. Ob er schon weiß, was er machen wird? Gamper macht eine unschlüssige Handbewegung: »Nein, nicht wirklich. Mir schwebt schon was vor. Aber so ein Tisch muss beim Machen entstehen.« Er ist kein Mann großer Worte. Er führt nicht durch die Show, sondern ist ganz vertieft. Wenn er spricht, dann leise und spärlich, im Südtiroler Singsang.
Gamper wirft die Kreissäge an, packt die Bretter und zersägt sie in einem bestimmten Winkel in verschieden lange Teilstücke. Sieht alles sehr Pi mal Daumen aus bislang. Dann fängt er an, die Segmente auf einer Arbeitsfläche zu neuen Brettern zusammenzusetzen, sodass die Maserung ein Zickzackmuster ergibt, helle und dunkle Teile sich abwechseln. Schreiner-Origami. Adam, sein Werkstatt-Partner, schaut ihm lange schweigend zu, die Arme vor sich verschränkt: »Was soll das werden? Ein Brett? Wow, Martino hat ein Brett erfunden! Seht her!« Die beiden arbeiten seit mehr als 15 Jahren zusammen. Gamper, der stille, schmale Südtiroler mit Bergsteiger-Vollbart – Adam, der sarkastische Londoner Kraftwürfel, der beim Arbeiten am liebsten Run DMC hört, und zwar so laut, dass es die Kreissäge übertönt.
Nach rund drei Stunden wird langsam klar, worauf Gamper hinauswill: Die Tischplatte wird ein Arrangement aus mehreren dieser Patchwork-Bretter, ein Puzzle. Sie werden mit schwarzem Polyurethan-Kleber verbunden und eingespannt, später glattgefräst und zu einer Fläche verklebt. Holzleim würde nicht halten, dazu sei Teakholz zu ölig, wie Gamper erklärt. Durch das viele Sägen und Hobeln hat sich ein süßer Holzduft in der Werkstatt ausgebreitet. Adam will sich seit zwei Stunden ins Wochenende verabschieden, aber die Neugier hält ihn hier. Wenn er nicht für Gamper arbeitet, restauriert er historische Bahnwaggons. Je schlechter ihr Zustand, desto mehr Freude hat er daran. Draußen neben der Werkstatt stehen ein paar verwitterte Exemplare, durch deren zerbrochene Scheiben der Wind pfeift. Wenn Adam mit ihnen fertig ist, werden sie aussehen, als hätten sie ihre Jungfernfahrt noch vor sich.
Inzwischen ist es Nachmittag. Die ersten Patchwork-Bretter für die Tischplatte trocknen in den Zwingen, und Gamper kruschtelt in seinem Archiv auf der Suche nach geeigneten Tischbeinen. Er kommt mit einem Dutzend gebogener Rundhölzer in den Armen zurück. »Alte Restposten von Thonet-Mundus aus einer Fabrik in Kroatien.« Dem Anschein nach für die Lehnen der berühmten Kaffeehausstühle. Gamper packt sich ein paar, sägt sie an der Kreissäge entzwei, wirft die Hobelmaschine an und beginnt, Kanten in die Hölzer zu fräsen. Adam schaut ihm mit fragenden Augen zu, doch Gamper scheint zu wissen, was er tut. Ein bisschen wird einem angst und bange, wie er da ohne Schutzbrille und mit hochgekrempelten Ärmeln an der Kreissäge herumhantiert oder mit spitzen Fingern das Holz am Sägeblatt entlangführt. Doch es ist Routine, nicht Fahrlässigkeit, die sich in diesen Bewegungen zeigt.
Mit 14 hat Gamper seine Tischlerlehre in Meran angefangen. In den Sommermonaten jobbte er als Koch in der Pension seiner Tante. Nach fünf Jahren als Geselle wurde es Gamper zu eng in seinem Leben. Er ging für zwei Jahre auf Weltreise, USA, Mittelamerika, Asien, Neuseeland. Als ihm das gesparte Geld ausging, verdingte er sich mit Gelegenheitsjobs als Tischler und als Koch. Danach wusste er, dass er mehr wollte, als Gebrauchsmöbel zu bauen. Zurück in Südtirol bewarb er sich sicherheitshalber an zwei Hochschulen für Kunst in Wien, der Bildenden und der Angewandten – und wurde bei beiden genommen. Geblieben ist er bei Letzterer, auch weil seine Lehrer Ron Arad und Matteo Thun, beide Stars des Produktdesigns, schnell sein Talent erkannten. Schließlich landete er als Austauschstudent am renommierten Royal College of Arts in London, an dem er 2000 seinen Master machte. Da er weder zurück nach Südtirol noch nach Wien oder Mailand wollte, blieb er einfach, machte ein Studio auf und kellnerte nebenbei, wenn das Geld nicht reichte. Während der Finanzkrise 2008, als die Preise am Boden waren, kaufte er zusammen mit Freunden und seiner Frau im Stadtviertel Hackney den alten Gewerberaum, den er als Mieter schon umgebaut hatte – im Erdgeschoss betreibt er mit ein paar Mitarbeitern sein Designbüro, im ersten Stock wohnt er mit seiner Frau. Die Möbel für unten wie oben hat er selbst gebaut.
»Aus dem Selbermachen ziehe ich persönlich am meisten«, sagt Gamper und fängt an, mit einem Bleistift auf ein Holzbrett zu kritzeln. Er will die Rundhölzer so zurechtsägen, dass sie wie vier Bogenpfeiler die Tischplatte halten. Wie genau, weiß er noch nicht, also fängt er einfach mal an. »Ungenauigkeit ist für mich ein Offenlassen. Natürlich muss es am Ende auf den Punkt sein, aber vorher brauche ich Spielraum. Nur Machen ist stumpf, nur Denken ist langweilig. Die Symbiose ist es.«
Es wird dunkel. Adam ist dann doch geblieben, um beim Kleben und Klemmen zu helfen. Martino Gamper wird den Tisch heute nicht fertigbekommen: Das Polyurethan trocknet noch. Der Tisch erwies sich in der Herstellung als aufwändiger als einer seiner hundert Stühle. Auch der Tisch zitiert Designklassiker, aber subtiler. Es steckt mehr Handarbeit in diesem Tisch, mehr Gamper. Tags darauf lässt er die fertige Platte mit schwarzem Öl ein und bringt die Beine an. Nichts deutet darauf hin, dass das Holz für diesen Tisch jahrelang in seinem Archiv schlummerte. Dass chemische Reaktionen und Schülerhände ihre Spuren darauf hinterlassen haben. Das Vorleben dieses Tisches erschließt sich nur Eingeweihten. Jetzt beginnt seine neue Geschichte.
Charity-Aktion: Tisch sucht Zuhause
Sie möchten diesen besonderen Tisch haben? Martino Gamper hat sich dazu bereit erklärt, ihn im Rahmen unserer jährlichen Unikate-Aktion im November zur Verlosung freizugeben. Dabei können Leser sich für Unikate namhafter Hersteller und Designer bewerben. Voraussetzung ist die Spende eines Mindestbetrags von fünf Euro an eine wohltätige Organisation. Sie können auch mehrere Lose erwerben und so Ihre Gewinnchancen vergrößern. Alle Informationen hierzu erfahren Sie in Ausgabe 45 des SZ-Magazins, das am 10. November erscheint. Schreiben Sie uns eine E-Mail an denkdran@sz-magazin.de, wenn wir Ihnen rechtzeitig eine E-Mail-Erinnerung zukommen lassen sollen.
Diesen Tisch gibt es nur einmal. Doch natürlich nimmt Gamper auch Privataufträge an: martinogamper.com – dort führt ein Link zu »Martino’s Shop«, wo es Gartentische, Hocker, Pfeffermühlen und andere handgemachte Stücke aus Gampers Werkstatt zu kaufen gibt.
Fotos: Angus Mill