Das Paradies liegt am Arsch der Welt. Wer es nicht sofort findet und die nähere Umgebung absucht, der sieht: Sozialbauten der Sechzigerjahre, eine Tankstelle, Discountmärkte, ein Billighotel, sanierte Plattenbauten, nackte Brandwände; schließlich einen Kreisverkehr, der zwei Verkehrsadern verknüpft, durch die sich Tag und Nacht Autos schieben und mit ihren Abgasen die Luft verpesten. Hier wurde vor gut zwei Jahren das Paradies eröffnet.
Man betritt es durch eine Tür in einem Maschendrahtzahn, der diesen wuchernden Garten umgrenzt. Ein giftgrüner Rechen liegt am Boden, Schubkarren stehen herum, blecherne Waschzuber, Holzböcke, aus zwei Autoreifen wachsen Bäumchen, in einem kleinen Wald von Robinien, Scheinakazien, hängen fünf Vogelhäuschen. Und überall: Hunderte von Plastikgitterkisten in Weiß, Rot, Grau, aufeinandergestapelt, mit Erde gefüllt und zu Beeten zusammengestellt.
Hier wachsen 15 Sorten Kartoffeln, zwanzig Sorten Tomaten, neun Sorten Karotten, zwanzig verschiedene Minzen, es wachsen Mangold und Chili, Kopfsalat und Zucchini, Lauch und Bohnen. An jeder Kiste hängt ein Zettel mit Buchstaben, Zahlen und dem Namen des Grünzeugs, das darin wächst. Weiter hinten steht auch eine große Holztafel mit einer Ernteliste, auf der sich die Buchstaben und Zahlen wiederfinden; im ganzen Durcheinander hat alles seine Ordnung.
Dies also ist der Prinzessinnengarten in Kreuzberg, Berlin, direkt am U-Bahnhof Moritzplatz. Seinetwegen war die Neue Zürcher Zeitung da, die New York Times, La Repubblica und die norwegische Aftenposten – die halbe Weltpresse; sogar CNN hat Kameras hierhergeschleppt, um zu berichten: Ein wunderlicher Garten inmitten von Beton und Verkehr! Ein Trend? Eine neue soziale Bewegung gar? Jedenfalls kein weiterer Fall von normalem Urban Gardening wie beim Tempelhofer Feld um die Ecke, bei dem jeder seinen eigenen Quadratmeter beackert. Im Prinzessinnengarten bearbeiten alle alles gemeinsam.
Es ist ein sonniger Herbsttag, die Saison geht langsam zu Ende. Mittagszeit. Ein Dutzend Leute um die dreißig werkeln herum. Ganz hinten an einer Hauswand steht ein weißer Container mit drei ausgeschnittenen Fenstern, aus denen es nach Gebratenem duftet. Die Küche serviert jeden Tag ein preiswertes vegetarisches Gericht; an warmen Tagen werden schon mal 200 zahlende Gäste bewirtet. Das Gelände wirkt zwar ein wenig wie eine Hippie-Kommune, aber mit den Pflanzen und dem Essen soll durchaus Geld verdient werden. Neun durch den Garten finanzierte Arbeitsplätze sind schon entstanden, die sich 18 Leute teilen.
Der Container neben der Küche: Toilette. Der rote Container: das Café. Ein Gast bestellt einen doppelten Espresso, ein anderer Kräutertee. Die Frau hinterm Tresen schiebt ihm ein kleines Küchenmesser hin und zeigt auf zwei Pflanzen: »Das ist Verbene, Eisenkraut, sehr lecker. Schneide dir Blätter ab und tu sie in das Glas.« Sie gießt dann heißes Wasser auf, stellt Biohonig daneben und kassiert 2,50 Euro.
Irgendwo müsste auch Robert Shaw sein, 34, gelernter Dokumentarfilmer mit britischem Vater, seit zehn Jahren wohnt er hier um die Ecke. Er hatte mit einem Freund die Idee zu diesem wunderlichen Garten. Shaw? Die Frau vor dem Ladencontainer sagt lachend, das sei der mit Kappe und Handy. Und da geht er schon auf und ab, redet in die rechte Hand und raucht mit der linken. Er trägt Braun: Jackett, weite Hose, festes Schuhwerk; die Schiebermütze aus Tweed. Es ist der lässige Chic der Kreativen. Der Mann hat sein Geld meist mit Kulturprojekten verdient.
Nachher muss er eine zwanzigköpfige Delegation durch den Garten führen
Später sitzt Shaw an einem Tisch und isst Kartoffelspalten, Kirschtomaten, gebackenen Tofu, Feldsalat. Er sitzt in einer offenen Bibliothek, aus rohem Holz gezimmert und überdacht – das geografische Zentrum des Gartens. In den Regalen stehen Bücher mit Titeln wie: Kräuter, Pilzwanderungen, Kalte Küche, Lernt Pflanzen kennen, Gemüse. Shaw redet schnell und präzise, er kaut, raucht nebenbei, er ist in Eile, wie meistens. Nachher muss er eine zwanzigköpfige Delegation durch den Garten führen, die Teilnehmer sind aus ganz Europa zu einem Workshop über »zivilgesellschaftliches Engagement« nach Berlin gereist.
Er wird ihnen das Konzept erklären: dass hier keine Profis am Werk und Fehler die Regel sind, ja, der Fehler zum System gehöre. Avanti dilettanti! Dieses Jahr etwa gab es keinen Fenchel. Doch, doch, sie haben schon welchen gepflanzt, aber zu früh. Dafür haben sie dann viel über die Samen und Blüten des Fenchels gelernt und diese in der Küche verarbeitet. So etwas bringt ihnen eine von den türkischen Hausfrauen bei, die hier bisweilen beim Gärtnern helfen, oder Eugenia, die alte Russin, die regelmäßig kommt und aus der Heimat viel landwirtschaftliche Erfahrung mitgebracht hat. »Informelles Lernen« wird Shaw dieses Prinzip nennen, wenn eine Grafikdesignerin und ein Professor für Umwelttechnik nebeneinander in der Erde wühlen, »so entsteht Wissen ohne Lehrer«.
Irgendwann wird den Besuchern dann dämmern, dass sie mit dem höflichen Herrn Shaw keinen Ökozausel vor sich haben, nur weil er unrasiert ist und schwarze Ränder unter den Nägeln hat.
Was inzwischen als Paradies bestaunt wird, war eine Brache seit dem Krieg. Flohmarkt und Autohändler kamen und gingen. Die Gegend galt als unattraktiv, zwei Steinwürfe entfernt verlief bis 1989 die Mauer. Und wie es so ist, wenn Menschen sich nicht einmischen, macht sich Natur von ganz allein breit; »urbane Vegetation« nennen sie das, was freiwillige Helfer im Sommer 2009 fanden, als sie zwei Tonnen Müll vom Gelände geräumt hatten, um den Prinzessinnengarten anzulegen: Götterbaum und Sandbirke, Zitterpappel und Schmetterlingsflieder, Knöterich und Distel, Goldrute und Scheinakazie: »unsere Pionierpflanzen«, sagt Robert Shaw.
Er steht an einem Beet, das aus 32 Plastikgitterkisten besteht, übereinandergestapelt. In den unteren Kisten, sagt er, werde kompostiert; dazu sammeln sie organische Abfälle ein, auch Haare vom Friseur. Während diese Mischung unten zu bester Erde modert, wächst in den oberen Kisten flach der Thymian. Shaw fährt kräftig mit einer Hand durchs Grün, schnuppert daran. Dann grinst er und sagt: »Das ist typisch für uns, wir haben zehn Sorten Thymian, jemand hat die Schilder vergessen, jetzt weiß keiner mehr, was in welcher Kiste wächst.«
Er wird der Delegation aus Zivilgesellschaftlern noch die acht Bienenvölker zeigen, die am Rand des Robinienwäldchens wohnen, das aus Restholz zusammengenagelte Hexenhaus für Kinder, daneben die an »Matze« verpachtete Fläche; der professionelle Gärtner zieht dort seltene Stauden. Während des Rundgangs purzeln Zahlen über den Prinzessinnengarten, die Shaw draufhat wie der Finanzminister den aktuellen Schuldenstand.
Dreißig Helfer die Kerngruppe, sechzig der erweiterte Kreis, 1200 Freiwillige haben sie dieses Jahr gezählt. Dreißig Prozent der Einnahmen kommen aus Gastronomie, aus Beratertätigkeiten und Gartenbau für andere; der Rest sind Spenden, den geringsten Anteil bringt der Verkauf von Gemüse und Kräutern. Shaw etwa berät die niederländische Stadt Heerlen zum Thema »sozialverträgliche Nutzung von Freiflächen«. Auch die vielsprachige Gruppe, die er gerade führt, bezahlt dafür: ab zwei Euro pro Person. Von hier aus werden gegen Honorar neun weitere Gärten betreut: in Kitas, Schulen, Firmen. Kein Geld vom Staat für die Arbeit am Garten, darauf legen sie Wert.
Stadtplaner kommen, Soziologen, Politologen.
Dieser verwunschene Platz hat seinen poetischen Namen nicht etwa aus märchenhaften Gründen, er grenzt nur an einen gesichtslos kurzen Kreuzberger Verkehrsweg: die Prinzessinnenstraße.
Es ist ja keine große Fläche, für die sich viele Medien aus aller Welt plötzlich so schrecklich interessieren. 6000 Quadratmeter, 0,6 Hektar. Der Fußballweltverband Fifa hat die Norm für einen Rasenplatz auf 0,714 Hektar festgelegt.
Der Prinzessinnengarten ist für alle offen, das wollten seine Gründer so: Jeder kann hereinkommen, soll hereinkommen. Damit stellt er den deutschen Gartenzwerg auf den Kopf, der baut sich wehrhafte Zäune und Hecken um sein privates Geviert. In diesem städtischen Grünland dagegen heißt es: Entspanne dich. Genieße. Oder pack zu. Zweimal die Woche sind öffentliche Gartenarbeitstage, da kann jeder gießen, pflanzen, ernten.
Und sie kommen. Nachbarn, Familien mit Kindern, Touristen, Freiberufler, die um die Ecke arbeiten. An einem warmen Sommertag kann man Dutzende Menschen beobachten, die auf Bierbänken Kaffee trinken, Zeitung lesen, Biobrause schlürfen, quatschen. Dann arbeiten die Espressomaschine des Cafés und die Köche am großflammigen Gasherd auf Hochtouren. Wem es in der Sonne zu heiß wird, der verzieht sich zu den Gartenmöbeln in den Schatten des Robinienwäldchens. Dort stehen auch 14 Heidelbeersträucher, klassische Waldbewohner. Einige Besucher gehen einfach nur umher, schnuppern am Zwiebelgrün, betasten Kopfsalat.
Neulich habe sie stundenlang mit einem vierjährigen Mädchen Samen in die Erde gesteckt, erzählt die Praktikantin aus Hannover, Fachgebiet Landschaftsplanung. Das sei zwar ineffektiver gewesen, als wenn sie’s allein gemacht hätte, doch sie hätten Spaß gehabt.
Dieser Garten lockt nicht nur Kinder und Presse an. Stadtplaner kommen, Soziologen, Politologen. Berliner Universitäten machen Masteranalysen über Schadstoffe (kein Problem), es gibt Symposien zum Thema, Ausstellungen. Dabei existiert Urban Gardening nicht nur in intellektuellen Schriften oder Kunstmagazinen. Diese Art der Selbstversorgung blüht weltweit, ein Phänomen ökonomischer Krise. Seit zwanzig Jahren nennen sie so etwas in Kuba Organopónicos, kommunale Gemüsegärten. Mit dem Kollaps der Sowjetunion blieben die Hilfen aus, und die schiere Not trieb Fidel Castros Partei dazu, so etwas zu erlauben. Und Spötter in Kuba sagen einem, es sei das Einzige, was auf der Karibikinsel noch funktioniere.
Vor zehn Jahren ist Robert Shaw zum Studium dort gewesen, Universität Santa Clara, ein paar Autostunden von Havanna nach Osten ins Inselinnere. Er ist dann durch Zufall auf einen kleinen Organopónico gestoßen, als er einen stillen Ort suchte, um einen Kater ausklingen zu lassen. Und ist immer wieder gekommen. Hat dann zwischen Maniok, Bananen und Gewürztagetes mit Kubanern geredet, mitgeholfen und sich einmal nicht als reicher Ausländer gefühlt, sondern als Teil einer Gemeinschaft.
War das der Humus für den späteren Prinzessinnengarten? Ach nee, vielleicht, Robert Shaw zuckt mit den Schultern. Er hat vor vier Jahren einen Sohn bekommen und sich gefragt, wie für ihn familienfreundliches Arbeiten in der Nähe seines Wohnorts aussehen könnte. Zeitlich flexibel, Kind mitnehmen, so was eben; und sozial sinnvoll sollte es sein. Ein Freund, Marco Clausen, arbeitete in einem Café, und irgendwie entstand dann die Idee: ein nachbarschaftlicher Garten mit Kneipe.
Was nun auch noch völlig neu an diesem Kreuzberger Garten ist: Er wurde mit Bedacht als Provisorium angelegt. Die gemeinnützige GmbH »Nomadisch Grün« (spendentauglich, keine Gewinne ausschütten) ist ja nur Mieter hier, annähernd 30 000 Euro im Jahr zahlt sie ans Land Berlin, jedes Jahr wird neu verhandelt. Könnte ja sein, es wird mal hier gebaut, die Brache ist als Gewerbegebiet ausgewiesen. Deshalb wächst nichts im Boden, alles in Kisten oder stabilen Säcken. Die ambulanten Gärtner haben ausgerechnet, es würde neunzig Fahrten mit einem Zwölftonner brauchen und drei Sattelschlepper für die sechs Container, dann wäre das Wunder Prinzessinnengarten verschwunden und könnte anderswo wieder erblühen.
Technisch wäre die Räumung also leicht möglich. Und die Nachbarn, die Kinder der Gegend? Was würde aus der alten Russin Eugenia, die gern herkommt und deren Rat geschätzt ist? Soziale Bindungen lassen sich schlecht verpflanzen.
Drüben vor dem Container mit dem kleinen Laden sitzen zwei junge Frauen und ein Mann. Im Regal Eingewecktes in Gläsern: Stangenbohnen, Feuerbohnen, auch Marmeladen, Thymianessig. Bio, klar, wie alles hier. Die drei formen mit den Händen schwarze, tischtennisballgroße Kugeln. Sie beschriften weiße Tütchen mit lateinischen Namen und stecken die Kugeln hinein. »Seed bombs« seien das, eine Idee des Guerilla Gardening. Samen werden mit Kompost und Erde vermischt und verknetet. Man wirft die Kugeln an eine Wand, auf eine Brache, legt sie auf eine Baumscheibe, in einen Hinterhof.
Und im nächsten Jahr wächst irgendwo neues Grün. Wenn die Natur funktioniert wie geplant. Wer weiß? Es sei, erzählen die drei, das erste Mal, dass sie ökologische Bomben bauen.
Fotos: Manuel Vasquez, Felix Brüggemann/Brigitta Horvat, Marco Clausen/Prinzessinnengarten