SZ-Magazin: Frau Nicosia, auf Ihrem Blog kochen Sie Rezepte aus den Jahren zwischen 1600 und 1800 nach. Wie schmeckten denn Maccaroni mit Käse vor mehr als 250 Jahren?
Marissa Nicosia: Großartig. Die Textur war sehr cremig, Eier, Sahne, Sherry und Muskat machten den Geschmack sehr intensiv. »Maccarony Cheese« war das erste Rezept, das wir ausprobierten. Es stammt aus einer Rezeptesammlung, die zwischen 1765 und 1830 entstand. Und wissen Sie was: Wenn ich keine Lust auf die ordinären Mac'n'Cheese habe, koche ich ab und an das Gericht von 1765.
Wie kamen Sie auf die Idee, alte Rezepte zugänglich zu machen und nachzukochen?
Als meine Freundin Alyssa Conell und ich Doktorandinnen waren, mussten wir Paläographie lernen, also die Entzifferung von handschriftlichen Texten. Das taten wir oft mit alten Rezepten, die sich sehr gut dazu eignen, denn sie enthalten viele seltene Wörter, Maßeinheiten und Abkürzungen. Und wir fingen an, Witze darüber zu machen, dass wir die Rezepte auf jeden Fall auch kochen könnten.
Einfach so daheim in Ihrer Küche?
Wir machten ein Forschungsprojekt daraus, für das wir sogar eine kleine Förderung von der Universität von Pennsylvania bekamen. So startete rarecooking.com. Dort präsentieren wir die Gerichte, die unsere User dann selbst ausprobieren können. Mittlerweile planen wir auch ein Kochbuch.
Wo suchen Sie nach alten Rezepten?
Entweder sitze ich in der Uni-Bibliothek oder ich mache das digital. Sehr viele Universitäten in den USA haben in den letzten Jahren ihre handschriftlichen Manuskripte digitalisiert und zugänglich gemacht. Nur: Das hilft ja erst einmal niemandem, der weder davon weiß noch die Schriften lesen oder die Rezepte verstehen kann. Geschweige denn, sie nachzukochen. Viele Rezepte sind für eine Feuerstelle ausgelegt. Die haben ja die wenigsten noch daheim.
Sie aber schon?
Nein. Es geht mir bei dem Projekt auch darum, die Rezepte ins Jetzt zu transportieren. Deswegen benutze ich modernes Kochequipment, anstatt drei Stunden lang Sahne zu schlagen oder Mandeln zu mörsern. Man kann nicht alles genau so herstellen wie damals. Sonst bräuchte ich draußen einen Kuhstall und müsste selber schlachten. Es geht darum, die Seele des Rezepts zu transportieren.
Was sind denn die Probleme, wenn man ein Rezept von 1600 nachkochen will?
Es passiert regelmäßig, dass es gewisse Zutaten nicht mehr gibt. Oder es gibt diese Zutaten noch, sie werden aber nicht mehr in der Küche verwendet. Was immer wieder in Rezepten auftaucht, ist Moschus, also das Drüsensekret des Moschustieres, das heutzutage zur Parfümherstellung benutzt wird. Oder auch Ambra, eine Substanz aus dem Verdauungstrakt von Walen. Diese Substanzen sind schwer zu bekommen und sehr teuer – abgesehen davon, dass ich sie lieber nicht verwenden will.
»Es gibt eine Vielzahl alter Biere, denen beim Brauprozess entweder Fleisch oder Tierblut zugegeben wurde«
Also ersetzen Sie sie?
Ich weiß nicht, wie Moschus oder Ambra schmecken, also lasse ich sie raus. Aber andere Dinge ersetze ich. Verjus etwa, ein saurer Saft aus unreifen Trauben, wird nicht mehr produziert, lässt sich aber einfach durch Essig und Zitrone ersetzen.
Stoßen Sie oft auf solche kuriosen Zutaten?
Regelmäßig. Zuletzt fand ich ein Rezept mit Neunaugen. Das sind fischähnliche Wirbeltiere ohne Augen und mit vielen Zähnen, die sich seit 500 Millionen Jahren kaum verändert haben. Oder die Fleisch-Biere.
Fleisch-Biere?
Es gibt eine Vielzahl alter Biere, denen beim Brauprozess entweder Fleisch oder Tierblut zugegeben wurde. Zum Beispiel das sogenannte »Cock Ale«, bei dem ein junger Hahn samt diverser Gewürze dem Bier hinzugegeben wurde. Für moderne Zungen natürlich eher gewöhnungsbedürftig. Dementsprechend habe ich es auch noch nicht ausprobiert und werde das auch nicht tun. Ich probiere sowieso nur Gerichte aus, von denen ich denke, dass sie lecker sein könnten.
Sind denn die heutigen Standardzutaten mit denen vor so langer Zeit vergleichbar?
Das Mehl war früher feuchter, die Eier kleiner, die heutigen Tiere sind deutlich größer. In vielen Rezepten fehlen außerdem genaue Maßangaben, auch gibt es manche Zubereitungsmethoden nicht mehr. Damit gehen übrigens auch tolle Rezepte verloren. Früher haben die Leute vor dem Schlafengehen Eier in die Asche der Feuerstelle gelegt und so die Resthitze des Feuers genutzt. Am nächsten Morgen waren die Eier irgendwas zwischen hart und weichgekocht, fast marmeladenartig. Mit Verschwinden der Feuerstellen macht das natürlich niemand mehr. Schade, es klingt nämlich sehr lecker.
Wie verändern sich die alten Rezepte im Lauf der Jahrzehnte?
Man sieht den Wandel der Welt in diesen Gerichten. Zum Beispiel wird sehr oft Rosenwasser verwendet, an Stellen, an denen wir heutzutage Vanille benutzen. Aber früher war Vanille eine seltene tropische Pflanze, Rosen konnte man im Garten haben. Als sich das änderte, änderten sich auch die Rezepte.
Also gibt es von der Weltgeschichte angestoßene Nahrungsrends?
Genau, zwischen 1600 und 1800 passierte extrem viel. In der Forschung spricht man vom Kolumbianischen Austausch, also der Verbreitung von bis dato unbekannten Waren und Produkten zwischen der östlichen und westliche Hemisphäre als Folge der europäischen Expansion. In Manuskripten des späten 17. Jahrhunderts sieht man plötzlich vermehrt Zutaten wie Schokolade oder Kaffee. Einfach weil sie plötzlich verfügbar waren. Man kann erkennen, dass mit dem Einsetzen der Sklaverei auf den karibischen Zuckerrohrplantagen der Preis für Zucker fällt und dieser dann häufiger auftaucht, auch in Rezeptbüchern von Familien aus der Mittelklasse. Auch Gerichte mit Reis finden sich Ende des 17. Jahrhunderts vermehrt, was mit dem Anbau von Reis in North und South Carolina zusammenfällt. Er musste nicht mehr importiert werden.
Erfahren Sie aus den Rezepten etwas über die Menschen dahinter?
Die Rezepte stammen meist von Frauen, manche Bücher gehen von Frau zu Frau über ganze Generationen weiter, teils vom 17. bis ins 19. Jahrhundert. Und dahinter verbergen sich faszinierende Geschichten. Es gibt dieses Buch der Familie Franklin: Einer der Männer war im 18. Jahrhundert in Indien, weswegen sich plötzlich Curry-Rezepte in dem Buch finden. Später war diese Familie im transatlantischen Skalvenhandel verwickelt, im Buch findet man daher Rezepte aus den Kolonien, aus denen die Sklaven kamen. Die Rezeptbücher sind wie ein Fenster in die Leben dieser Leute.
Was erfährt man über die konkrete Lebenssituation der Menschen damals?
Die Bücher kommen meist von bessergestellten Familien, man musste schließlich lesen und schreiben können. Außerdem waren die Frauen das Herzstück des Haushalts und damit das Herzstück der Familie. Das erkennt man auch daran, dass es keine Grenzen zwischen Kochrezepten und medizinischen Rezepten gibt. Hier offenbart sich übrigens auch ein feministischer Aspekt, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftige.
Inwiefern?
Man kann einen Blick auf die Arbeit der Frauen in dieser Periode werfen. Diese Bücher beweisen die wichtige soziale Position der Frau. Wie mache ich Nahrung für den Winter haltbar? Wie behandele ich die Bisswunde eines Hundes? Wie erkenne ich Brustkrebs und was mache ich bei Schwangerschaftsproblemen oder Fehlgeburten? Das waren zu dieser Zeit Fragen von Leben und Tod. Die Rezeptsammlungen sind wahre Fundgruben weiblichen Wissens, das im wissenschaftlichen Kontext oft übersehen wird. Frauen haben dieses Wissen archiviert und aktiv daran gearbeitet, es zu verbessern. Das zugänglich zu machen, ist auch ein persönliches feministisches Bestreben von mir.
Haben Sie auch schon ein medizinisches Rezept ausprobiert?
Ja, den »Toast for the Weakness of the Back«. Ein Brot mit Eiern, Muskatnuss und Zimt. Es stammt aus einer Zeit, in der die Leute noch an die Humoralpathologie glaubten, also die Lehre der Körpersäfte. Dem Gericht wurde augenscheinlich ein belebender Effekt auf die Körpersäfte zugeschrieben, der Rückenschmerzen lindern sollte.
Und geht es dem Rücken besser?
(Lacht.) Ich fand den Toast auch sehr belebend, ja. Was immer wieder auftaucht sind Possets. Das sind zumeist alkoholische Getränke gemixt mit Eiern, Sahne, Gewürzen und ähnlichem, die gut schmecken, die aber auch einen positiven Effekt auf die Verdauung und den Schlaf haben sollen. Man kennt Possets aus Shakespeares MacBeth. Lady MacBeth versetzt die Possets der Wachen mit Drogen, damit MacBeth Duncan umbrigen kann.
Haben Sie ein Lieblingsrezept?
Zur Zeit sind das »My Lady Chanworth's recipe for Jumballs«.
Was sind denn Jumballs?
Das sind Kekse mit Mandeln, Rosenwasser, Koriander und Kümmel. Sie sind so lecker, mittlerweile mache ich sie regelmäßig und bringe sie sogar zu Partys mit. Ich habe auch schon versucht, herauszufinden, wer Lady Chanworth war. Leider ohne Erfolg.
Und was ist das älteste Rezept?
»To boile Chickens on sorrell sops«, Huhn mit Sauerampfer. Es ist ein sehr einfaches Gericht aus dem späten 16. Jahrhundert. Und unglaublich lecker.
Und was war das schlimmste Rezept, das Sie je hatten?
Fish Custard. Eine Creme aus Mandelmilch, Rosenwasser und Fischrogen. Während der Zubereitung konnte ich mir noch vorstellen, dass das auf eine eigenartige Weise zusammenpassen könnte. Aber es war einfach nur eklig. Auch schlimm war ein Posset mit Sherry, Ei und geriebenen Mandeln, der nicht mal so schlecht schmeckte, aber ein sehr schleimige Textur hatte. Aber das sind zwei Rezepte aus knapp 70. Die überwiegende Mehrheit ist sehr lecker. Oder zumindest essbar.
Hier geht es direkt zu den von Marisa Nicosia erwähnten Rezepten:
Maccarony Cheese
My Lady Chanworth's Recipe For Jumballs
Und für besonders Mutige: Fish Custard