Kartoffeln sind Mimosen – Menschen aber auch. Kartoffeln, weil die Hersteller ihre liebe Not haben, ihnen bei Boden, Düngung, Ernte, Verpackung und Lagerung alles recht zu machen. Menschen, weil ihnen immer irgendwas nicht passt an der Kartoffel. Mal ist es der Preis, dann das Aussehen. Seit einigen Jahren sind die Kartoffeln billig und vor allem hübsch, dafür nörgeln wir jetzt, weil sie uns oft nicht mehr schmecken.
Das sagt Rainer Lesch, seit zehn Jahren Kartoffelbauer. Sein Hof liegt in dem Örtchen Gaukönigshofen, einige Hügel südlich von Würzburg. Lesch, Fleecemütze, Staub im Gesicht, die Brille ein wenig verrutscht, sagt, dass Kunden heutzutage Kartoffeln allein nach dem Aussehen kauften. Deshalb baut er die Sorte Gala an – obwohl sie ihm selbst gar nicht schmeckt. Sie lasse sich halt gut vermarkten, »weil sie so schick ist«, sagt Lesch. Aber Schönheit hat ihren Preis. Und die Kartoffel bezahlt mit ihrem Geschmack. Meist verliert sie ihn irgendwo auf dem langen Weg zwischen Ackerboden und Kochtopf. Kartoffeln, die aus Sandböden wachsen, schmecken oft aromatischer, heißt es zum Beispiel in der Fachzeitschrift Kartoffelbau. Schöner aber werden sie in Tonböden. Will der Bauer vom Kartoffelanbau leben, sät er also lieber eine Sorte, die in seinem Boden weniger Geschmack entwickelt, dafür aber im Laden besser aussieht. Zusätzlich düngen viele Bauern mit Stickstoff, dem Wachstumsturbo. Der Ertrag muss ja auch irgendwie stimmen. Zu viel Stickstoff aber bringt den Stärkehaushalt der Kartoffel durcheinander. Sinkt der Anteil von Stärke unter zehn Prozent, so schmeckt sie wässrig.
Aber wenigstens sieht sie schön aus, die moderne Kartoffel. Die Kriterien einer großen Supermarktkette: »Eine Speisekartoffel sollte formschön, oval bis langoval sein, eine glatte Schale haben und innen gelbfleischig sein.« Kein Wort zum Geschmack. Das Aussehen ist mittlerweile so entscheidend, dass sich sogar das Bayerische Landwirtschaftsministerium damit befasst. Weil die Franzosen ganz besonders hübsche Kartoffeln aus dem Boden ziehen und den heimischen Bauern den Markt streitig machen, hat das Ministerium Fotos der idealen Kartoffel gemacht, damit der Landwirt weiß: So soll sie aussehen, so mag sie der Kunde, und so wollen sie die Einzelhändler.
Wem das ein wenig übertrieben scheint, der sollte Johann Dittenhauser kennenlernen, seit 47 Jahren im Kartoffelgeschäft, Urbayer mit Bauch und Dialekt. Dittenhauser ist einer der größten Kartoffelhändler Deutschlands. Sein Unternehmen Agropa kauft die Ware von den Bauern, verpackt sie und liefert sie dann an Lidl, Edeka und Co. Auch Dittenhauser sagt, Geschmack sei bei der Kaufentscheidung im Supermarkt nicht mehr gefragt, »leider, leider«. Und weil die Kunden ihre Kartoffeln sauber und glänzend haben wollen, hat er 300 000 Euro investiert: in eine neue Kartoffel-Polieranlage.
Das aber ist Technik, für die nicht alle Sorten geeignet sind. Schon gar nicht die aus Großmutters Zeiten. Damals wurde per Hand geerntet, die Knolle ungewaschen auf dem Markt verkauft. Aber mit der Technisierung stiegen die Ansprüche. Heute muss die Kartoffel die grobe Behandlung durch die riesigen Erntemaschinen ertragen können, die industrielle Verarbeitung, die monatelange Lagerung, moderne Viren und Pilze. Sie darf keine blauen Flecken bekommen, weil blaue Flecken schlecht schmecken. Ihre Schale darf nicht reißen, wenn die Maschinen sie schick machen für den Supermarkt-Laufsteg. Sie darf nicht faulen, nicht schrumpeln, nicht austreiben. Die Mimose soll zum Superhelden werden.
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Zehn Jahre dauert es, eine neue Sorte zu züchten – aber Globalisierung und Technisierung sind schneller. Der Markt fordere die Eier legende Wollmilchsau, sagt Dittenhauser. Aber die gebe es schlicht nicht. Damit eine neue Züchtung die Zulassung vom Bundessortenamt in Hannover erhält, muss sie besser sein als die älteren. Auf den Geschmack wird natürlich auch geachtet. Der muss mindestens die Note fünf (von neun) erhalten. Fünf bedeutet: »fade, leicht bitter, leicht kratzend, leicht süßlich«. Das Amt lässt also auch Sorten zu, die fade schmecken.
Bei der Agropa kommen den ganzen Tag über Bauern mit ihren Traktoren und Anhängern voller Kartoffeln an. Der Betrieb liegt am Rande des oberbayerischen Örtchens Brunnen, im Nirgendwo ragen die Lagerhallen auf. In der Sortierhalle riecht es nach Erde, nach Kartoffeln. Meterhoch über den Köpfen der Arbeiter quietscht und rattert das Förderband – es transportiert 400 Tonnen pro Tag. Schritt für Schritt wird aus den Erdklumpen ein leuchtend gelbes Oval: Auf Kettenbändern werden die Kartoffeln gerüttelt und geschüttelt, bis die gröbsten Erdklumpen abfallen. In Zylindern, groß wie VW-Busse, werden sie gewaschen und poliert, dann getrocknet, nach Größe sortiert und verpackt. Der Kartoffel bleibt nicht einmal ihr Erdmantel, der sie davor schützen könnte, was die moderne Welt dann für sie bereithält.
Thilo Hammann ist Züchtungsforscher am Julius Kühn-Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen. Hört man ihm länger zu, möchte man umgehend eine Organisation zur Rettung der Kartoffel gründen, aus Gründen wie diesem: Kartoffeln atmen wie Menschen Kohlendioxid aus. Enden sie in einem Plastikbeutel, atmen sie ein, was sie ausgeatmet haben – und ersticken an einer Kohlendioxid-Vergiftung. Dagegen ist selbst die moderne Superzüchtung machtlos. Erstickte Kartoffeln schmecken muffig. Aber Plastikbeutel sind halt so praktisch.
Weil der Kunde aber keine muffigen Kartoffelsärge kaufen mag, werden die Kartoffeln immer öfter in Netzen angeboten. Trotzdem seufzen Hammann, Dittenhauser und Lesch, wenn sie von den Lagerbedingungen in den Supermärkten sprechen. Zu warm sei es und viel zu hell. Aber der Kunde soll ja nicht frieren und die Ware sehen können, die er kauft. Liegen die Kartoffeln aber zu lange im Supermarkt, schwitzen sie, verlieren Wasser und verdursten. Das Licht fördert die Fotosynthese, die Kartoffel bildet das giftige Solanin – und wird grün. Und solaningrüne Kartoffeln schmecken bitter. Kalt soll es also sein, dunkel und luftig. Man könnte auch sagen: Mensch und Kartoffel passen einfach nicht zusammen.
Tun sie doch, sagt der Bauer Rainer Lesch – wenn der Mensch die Kartoffel nur Kartoffel sein ließe. Wenn es nach ihm ginge, gäbe es viel mehr alte Sorten. Die würden einfach gut schmecken, auch wenn sie nach heutigen Maßstäben die mimosenhaftesten aller Mimosen sind – und der Mensch es mit ihnen bei Weitem nicht so leicht hat wie mit den glattschaligen, wohlgeformten, monatelang lagerfähigen Superzüchtungen von heute.
Rainer Lesch liebt Bamberger Hörnla. Die fränkische Kartoffelsorte gibt es wohl seit dem 18. Jahrhundert. Sie ist krumm und bucklig wie Ingwer und lang wie eine Zigarre. Die Schale ist dünn, der Ertrag gering, die Ernte aufwendig. Trotzdem wollen Lesch und der Bamberger-Hörnla-Förderverein die Zulassung beim Bundessortenamt – und damit eine Lizenz für das Pflanzgut. Das geht erst seit dem vergangenen Sommer, seitdem eine Verordnung Ausnahmen für die Zulassung von alten, nach den ästhetischen Standards unvollkommenen Sorten ermöglicht.
Das Hörnchen hat wegen seines Geschmacks eine wachsende, zahlungskräftige Fangemeinde. Bisher wird es nur von einigen Menschen im Privatgarten angebaut, ein paar Landwirte wie Lesch ernten Kleinstmengen. Er braucht die Zulassung, um selbst Pflanzgut herstellen und verkaufen zu dürfen, um damit die alte Sorte professionell zu züchten und zu erhalten. Das auf traditionelle Waren spezialisierte Kaufhaus Manufactum verkauft die Hörnchen bereits der Exklusivität wegen, Lufthansa bietet sie in der Businessclass als regionale Spezialität an, auf dem Münchner Viktualienmarkt sind sie selbstverständlich.
Dort frieren die Händlerinnen trotz ihrer dicken Westen. In den Körben vor ihnen liegen die ungewaschenen Kartoffeln. Ihre Farbe schimmert unter einem Schleier aus Lehm und Staub. Man sieht, woher sie kommen. Aus der Erde, dem Dreck. Sie machen Arbeit in der Küche. Sie sind unpoliert und keinesfalls perfekt. Aber sie schmecken.
Ihre Recherchen bei Bauern und Kartoffel-Experten haben Ariane Stürmer auf die Idee gebracht, selbst Blaue Schweden und Bamberger Hörnla zu züchten. Leider steht ihr als Ackerfläche im Augenblick nur der Blumenkasten auf ihrem Balkon zur Verfügung.