Die letzte Kirsche

Weil er auf sein Lieblingsobst allergisch reagiert, hat der Vater unseres Autors seit 27 Jahren keine Kirsche gegessen. Aber eine müsste doch gehen? Über ein sentimentales Abenteuer.

Illustration: INTERFOTO

Mein Vater hält die Kirsche in der flachen Hand wie eine seltene Perle und betrachtet sie von allen Seiten. Ihre Haut ist ein blanker, rubinroter Spiegel. Eine harmlose kleine Frucht. Aber sie könnte meinen Vater töten. »Na, wollen wir mal nicht übertreiben«, sagt er. »Eine wird schon gehen.« Er steckt sich die Kirsche in den Mund und schließt die Augen, ich höre das Fruchtfleisch knacken.

An seinen schönsten Stellen und zur richtigen Jahreszeit ist das Kinzigtal zwischen Offenburg und Schiltach so luftkurortstill wie das Auenland. In den späten Stunden des Tages fällt die Sonne schräg von Westen ein, sie färbt das Land und alles und jeden darin in warme Milde: Grasgrün wird zu schimmerndem Petrol, Braun zu elegantem Mokka, das Hellblau der Kinzig zu einem Glitzer­meer. Sogar der schmutzrote Peugeot meines Vaters leuchtet im Frühsommerabendlicht auf der B 462. Auf dem Weg nach Hause biegt er plötzlich über die Gegenspur nach links auf einen Feldweg ein und hält an. Ich sitze auf dem Bei­fahrersitz, zwölf Jahre alt, es ist das Jahr 1986. Er schaut mich grinsend an, die Sonne fällt von hinten genau durch seine Brillengläser: »Komm, wir klauen Kirschen.«

Das machen wir dann auch. Mein Vater hält seine Hände zu einer Räuberleiter verschränkt, ich klettere die alten Bäume hinauf und werfe ihm die Früchte paarweise zu, knackreif, tiefrot, beinahe schwarz, mit schwerem, zuckrigem Fleisch. Weil wir vorsatzlos unterwegs waren, haben wir keine Eimer oder Tüten, um die Kirschen darin zu sammeln, nur den rasch ausgeleerten Verbandskasten aus dem Auto und die Schuhe meines Vaters. Vieles ist damals nicht leicht in unserer Familie. Es gibt viel Liebe, aber auch viel Enttäuschung und Kummer, und es fehlt an Gelassenheit und Geld. Aber von da oben, aus dem Baum, mit meinem Vater, der unten barfuß durchs Gras streift und fröhlich Kirschkerne in die Gegend spuckt, scheint die Welt bewältigbar.

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Auf dem Heimweg bläst er den Rauch seiner Selbst­gedrehten aus dem Fenster, singt Schon so lang von Hannes Wader mit und doziert nebenbei sein laienjuristisches Verständnis der strafrechtlichen Privilegierung des »Mundraubes«. Michael, sagt er, wenn man wirklich Lust hat auf Kirschen, einen Hunger, den nur diese Kirschen stillen ­können – dann muss es doch wohl gestattet sein, sich ein paar zu pflücken! Auch wenn ich mir damals schon sicher bin, dass es verboten ist, Obst fremder Menschen ohne Erlaubnis zu ernten, nicke ich. Außerdem waren ja noch genug da.

Meine faule Fünf in Musik ist kein Thema mehr, wir ­haben gemeinsam ein Abenteuer bestanden, und mein Vater leuchtet an diesem Abend vor Selbstzufriedenheit und Glück, als hätte er nicht nur ein paar Handvoll herrlicher Kirschen, sondern auch ein paar Strahlen des magischen Westlichts aus dem Kinzigtal mit nach Hause gebracht.

Manche Erinnerungen bewahren wir wie Erbstücke, gelegentlich holen wir sie hervor und polieren sie mit dem Tuch der Verklärung. Andere versuchen wir zu vergessen. Weil das so selten gelingt, hegen wir diese Erinnerungen in dunklen Ecken des Verstandes ein. Manchmal begegnen sie uns – oder wir ihnen –, nie wissen wir, was im Dunkeln aus ihnen geworden ist. Sind sie zu Traumata gewachsen? In aller Stille verkümmert? Haben sie gestreut wie ein bösartiger Tumor? Lassen sie sich wieder einhegen? Lassen sie sich noch ignorieren? Und was prägt uns mehr: die gute Erinnerung oder die schlechte?

Einige Jahre nach dem Kirschenklau im Kinzigtal ist die Familie auf Reisen durch Frankreich. Auf einem Rastplatz hinter Paris veranstalten wir mit einer Plastiktüte voller Obst aus einem Mammouth-Supermarkt einen Kirschkernweitspuck-Wettbewerb. Dann weiter, mein Vater sitzt am Steuer. Plötzlich wird sein Mund pelzig, die Lippen, die Zunge, er lallt: »Da h’immt wa’ nich’!«. Er fährt rechts ran. Meine Mutter, Krankenschwester auf einer Intensivstation, allzeit katastrophenwitternd, hat eine ausreichende Menge des Antihistaminikums Celestamine zur Hand. Wir bangen eine halbe Stunde am Rande der Route nationale, bis es ihm besser geht. Und mein Vater, bereits allergisch gegen Birkenpollen, blühendes Gras, Haselnuss, Raps, Apfel, Pflaume, Reneklode, Birne, Nektarine, Pfirsich, Aprikose und Walnuss, darf jetzt auch keine Kirsche mehr essen. Zur Beruhigung machen wir Witze. Vielleicht sei er ja nur auf gekaufte Kirschen allergisch – und könne weiter welche vom Baum klauen? Er lacht nicht mit. Der Schreck sitzt tief. Und da ist noch was, aber er kann es nicht erklären. Keine Goldparmänen mehr aus dem Breisgau, seine Lieblingsäpfel – das war nicht schön, aber auszuhalten. Das hier ist schlimmer. Es ist das Jahr 1991. Keine Kirschen mehr für meinen Vater. Bis heute.

»Eine müsste doch gehen?«, frage ich die Allergologin.
»Eine könnte gehen, aber schriftlich gebe ich Ihnen das nicht. Wie ist sein Gesamtzustand?«
»Na ja, ziemlich über siebzig, Herzinfarkt, Schlaganfälle, das hatten wir alles schon.«
»Hm.« Die Allergologin zögert. »Wie lange ist die letzte Kirsche her?«
»27 Jahre.«

Zwei Medikamente verschreibt sie am Ende, kopfschüttelnd über diesen Blödsinn: das eine vorab. Das zweite solle ich sofort bei einer allergischen Reaktion geben. Aber ehrlich: »Noch einmal eine Kirsche zu essen ist ihm das Risiko einer allergischen Reaktion wert? Und Ihnen auch?«

Eine Allergie ist auch eine Erinnerung. Unser Körper merkt sich, womit er nicht zurechtkommt

Wir sprechen zu wenig über unsere Erinnerungen, schreibt der US-Psychologe und Neurowissenschaftler Daniel Schacter in seinem Buch Wir sind Erinnerung. Mithilfe unseres Gedächtnisses versuche das Gehirn, der »Umwelt Ordnung aufzuerlegen«, und erst das stete Sortieren unserer Erinnerungen mache uns zu den Menschen, die wir sind. Das gelte um so mehr für negative Erlebnisse, denn die blieben uns stärker in Erinnerung. Ihre Vorherrschaft in unseren Köpfen diene schon immer der Gefahrenabwehr. Eine Allergie ist auch eine Erinnerung. Unser Körper merkt sich, womit er nicht zurechtkommt.

Du und die Kirschen, lieber Papa. Erzähl. Er erzählt vom Krieg. Der für ihn beginnt, als er geboren wird, 1943. Da ist sein Vater schon tot. Der kaufmännische Angestellte Willi Karl Max Ebert, der doch eigentlich in den Käse-&-Milch-Laden im Souterrain der Berliner Manteuffelstraße 46 gehört, wird am 28.12.1942 etwa 18 Kilometer südlich von Demidow von einem russischen Infanteriegeschoss getötet. Der Obergefreite Ebert, NSDAP-Mitglied seit dem 1.4.1933, zählt beim Russland-Feldzug, das schreibt sein Vorgesetzter im Kondolenzbrief, »zu unseren besten Kraftfahrern«. Seinen Sohn lernt er nie kennen, aber einen Namen hat er für ihn: »Knut soll er heißen«, schreibt er vor seinem Tod von der Front.

Erna Auguste Ernestine Ebert, meine Großmutter, hat nun einen kleinen Sohn und keinen Ehemann mehr. Das Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsamt schickt ihr einen Bescheid über eine Witwenrente von monatlich 91,07 Reichsmark. Bereits angewiesener Fami­lienunterhalt wird davon abge­zogen.

Als die russischen und die amerikanischen Soldaten kommen, nimmt sie alles Geld, das ihr geblieben ist, und näht es in den Teddy ihres Sohnes ein. Das eine Huhn, das meinem Vater überallhin folgte und nun zurückbleiben muss, hört auf zu fressen, als sie nachts aus Berlin verschwinden.

Den Kirschkern behält er lange im Mund, das Fruchtfleisch kaut er bedächtig, obwohl Bedächtigkeit nicht seine Stärke ist. Dann schiebt er den Kern mit der Zunge von einer Wange in die andere. »Die Kracher sind die besten.«

US-Soldaten schenken meinem Vater einen Schokoladenschuh, hoch wie ein Apfel. Vor den russischen Soldaten hat er Todesangst. Mutter und Sohn flüchten zu Verwandten nahe Magdeburg, aber dort können sie nicht bleiben. Es ist wieder Nacht, als meine Großmutter mit dem Kind im Arm und einem Rucksack auf dem Rücken durch einen Fluss aus der »sowjetisch besetzten Zone« schwimmt, in Richtung Westen. Das vierjährige Kind hält sich an seiner Mutter fest, sie setzt es am anderen Ufer ab und schwimmt zurück, um restliches Gepäck zu holen, vor allem die wertvolle Nähmaschine. Mein Vater rutscht am Ufer ab und fällt zurück ins Wasser. Meine Großmutter kann ihn gerade noch greifen.

Weil sie immer arbeiten muss, gibt sie ihn zu einem Onkel im Harz, dort bleibt er einige Jahre. Benimmt er sich schlecht, muss er auf Holzscheiten knien. Dann weiter nach Rötenbach in Schwaben, zu einer neuen Pflegefamilie.

Mein Vater ist acht oder neun, seinen Vater hat er nie gekannt, seine Mutter arbeitet fern von ihm in anderen Städten als Schneidermeisterin, er wird von einer Pflege­familie zur nächsten gereicht, manchmal wird er schlecht behandelt, wenn er Glück hat, nur ignoriert. Er ist groß für sein Alter und nachkriegskinderdünn, er braucht eine Brille und wechselt Schulen wie andere ihre Garderobe.

Aus Rötenbach wird er weitergegeben nach Schorndorf in Bayern, zu einer katholischen Pflegefamilie mit sechs eigenen Kindern. Und dort kommt er zum ersten Mal in seinem Leben zur Ruhe. »Ich erinnere mich, dass man mich mitgenommen hat in die Messe. Eines der Kinder hieß Stefan, glaube ich. Der Stefan hat sich um mich gesorgt und mir erklärt: Wenn du ein Messer abtrocknest, solltest du nie die scharfe Seite nach unten halten, sonst schneidest du dich. Dann sind wir zum Spielen hinters Haus, dort stieg das Land an, und rundherum wuchsen herrliche Kirschbäume.«

Ich musste 44 Jahre alt werden, um zu verstehen, dass mein Vater bis heute ein einsames Kind ist.

Mein Vater spuckt den Kern aus. Seine Stimme wird heiser. Eine zweite, sagt er, sollte er besser nicht essen.

»Wie hat sie geschmeckt?«
»Gut.«
»Wonach?«
»Nach dem Leben in süßen Momenten.«