»Mach dir keine Sorgen, Papa, wird gut«

Moritz bekommt heute sein Zeugnis. Eine gute Gelegenheit für unseren Kollegen Lars Reichardt, mal ein ernsthaftes Gespräch mit seinem Sohn zu führen.

SZ-Magazin: Mori, meine Kollegen in der Redaktion wollen, dass ich dich interviewe.
Moritz Reichardt:
Warum?
Sie wollen wissen, was Zwölfjährige von der Schule denken und ob das G 8 wirklich so schwierig ist.
Okay.
Am 28. Juli bekommt ihr Zeugnisse.
Mach dir keine Sorgen, Papa. Wird ganz gut.
Ihr habt jetzt als erster Jahrgang das G 8 bekommen. Haben die Lehrer euch erklärt, was das genau bedeutet?
Natürlich. Nach acht Jahren Gymnasium Abitur, statt nach neun, aber dafür müssen wir mehr arbeiten und haben mehr Unterricht.
Wie viel mehr Unterricht habt ihr?
Zwei Nachmittage. Einmal bis 14 Uhr 25 und einmal bis 15 Uhr 10.
Was isst du eigentlich an diesen Tagen in der Schule?
Die Mama gibt mir Geld mit, für eine Schnitzelsemmel.
Gibt es nichts Gesünderes?
Schnitzelsemmel ist gesund, Papa. Da liegt immer ein Salatblatt drauf. Die anderen Sachen da schmecken mir halt nicht.
Wer macht die Schnitzelsemmel?
Der Hausmeister, glaube ich. Der verkauft sie.
Und wo esst ihr?
Im Klassenzimmer. Eine neue Kantine wird gerade gebaut. Bis die fertig ist, müssen wir halt beim Essen aufpassen und die Tische danach abwischen.
In der Zeitung stand, dass wegen des G 8 viele Stunden ausfallen. Du hast jetzt während der WM oft später Schule gehabt, praktischerweise. Warum eigentlich?
Ich weiß es nicht. Entweder ist jemand krank oder es findet wieder ein Lehrerseminar statt, wir haben nämlich auch einen Lehrer, der die Referendare unterrichtet, unser Deutschlehrer. Und dann gibt es noch relativ viele Projekte, bei denen die Lehrer mit ihren Klassen wegfahren. So wie meine Klasse letztes Wochenende nach Inzell.
Also, wie findest du das G 8?
Gut, wenn man dafür ein Jahr früher fertig wird. Die zwei Nachmittage Unterricht sind nicht so schlimm.
In der Zeitung stand auch, ihr müsstet jeden Tag zwei Stunden Hausaufgaben machen und kämt so mit Schulweg auf rund fünfzig Stunden pro Woche. Bei dir kommt es mir weniger vor.
Fünfzig Stunden? Zwei Stunden Hausaufgaben? Äh, wirklich nicht. Ich mache in etwa einer halben Stunde Hausaufgaben, und lerne dann noch zehn Minuten. Das ist nicht so viel, aber reicht schon. Unser Unterricht ist ziemlich locker.
Lernen die anderen etwa auch so wenig?
Bei manchen sagen die Eltern: Du musst jetzt mal richtig gescheit lernen – obwohl es gar nicht nötig ist. Die lernen dann vielleicht eine Stunde. Zum Beispiel der Alex, der ist richtig gut in der Schule, aber seine Mutter sagt ständig, er müsse lernen, obwohl er es schon kann. Der Adrian lernt sogar vor, damit er im Unterricht schon was dazu sagen kann.
Seid ihr denn alle so gut in deiner Klasse?
Nee, es gibt auch ein paar, die bauen halt Scheiße während des Unterrichts.
Was heißt denn das?
Sie passen nicht auf, lassen Papierflieger fliegen, werfen Stifte herum oder ratschen die ganze Zeit. Und wenn man nicht im Unterricht aufpasst, kapiert man den Stoff halt auch nicht richtig.
Müssen die die Klasse wiederholen?
Neun waren beim Halbjahreszeugnis gefährdet. Fünf könnten wirklich durchfallen.
Neun von wie vielen?
Wir sind jetzt nur noch 24, eine ist zu ihrem Vater nach Hamburg weggezogen.
Das ist über ein Drittel. Der pure Wahnsinn!
Ich glaube nicht, dass es allein an G 8 liegt. Ich glaube, dass sie auch zu wenig aufpassen.
Deine Freunde passen immer auf?
Der Basti schläft manchmal im Unterricht oder träumt vor sich hin oder zählt Löcher an der Decke.
Habt ihr so viele Löcher an der Decke?
Ganz kleine, da kommt nichts durch.
Aber die Mädchen machen keinen Unsinn im Unterricht, oder?
Die machen genauso viel Unsinn wie die Jungs. Bei uns sind auch die Jungs eher besser in der Schule.
Sag mal, Moritz, wenn du keinen Unsinn machst, wofür hast du neulich eigentlich den Verweis bekommen?
Ich habe nicht behauptet, dass ich keinen Scheiß mache. Ich habe nur gesagt, dass der Unterricht nicht so schwer ist. Und manchmal ist der Unterricht eben auch richtig langweilig.
Bei welchem Lehrer?
Dem Herrn Scheurer, der mir auch den Verweis gegeben hat, der Deutschlehrer. Aber dass sein Unterricht so langweilig ist, liegt gar nicht an ihm, sondern am Stoff. Wir nehmen da gerade Werbung durch. Allein wenn ich das Wort Werbung schon höre, schaltet sich mein Gehirn ab.
Den Fernseher schaltest du bei der Werbung nie ab.
Aber ich registriere da einfach nichts. Und wir sollen lernen, wie Werbung aufgebaut ist. Wen interessiert das schon?
Irgendwann hast du in Englisch auch mal eine Vier in einer Arbeit bekommen. Was wirst du denn für eine Note im Zeugnis haben?
Jetzt bekomme ich wahrscheinlich keine Zwei mehr.
Hättest du da vielleicht doch ein bisschen länger lernen sollen?
Ja.
Ich hatte die Vieren eher in Latein oder Mathe.
Tja, Latein habe ich nicht und Mathe ist mein Lieblingsfach.

Wenn alles gut geht, macht ihr gleichzeitig mit dem Jahrgang über euch Abitur.
Hat natürlich den Nachteil, dass wir vielleicht schwerer einen Job bekommen.
Bei deiner fünfzehnjährigen Schwester reden die Lehrer in der neunten Klasse davon, sie sollten sich schnell überlegen, was sie nach dem Abitur einmal werden wollen. Geht das bei euch denn schon in der siebten Klasse los?
Nein, nein. Um Himmels willen. Das weiß ich auch noch nicht.
Macht dir die Schule Spaß?
Ein bisschen. Die Freunde und die Pausen. Ein bisschen auch, was man lernt. Programmieren und so was.
Kannst du denn schon was programmieren?
Ja, so Männchen, die dann über den Schirm laufen.
Was macht dir am meisten Spaß?
Sport und manchmal Mathe, manchmal Physik, manchmal Informatik. Jedes Fach ist mal schön und mal langweilig.
Wie viele Stunden in der Woche hast du Unterricht?
Fünfmal sechs plus drei, also, äh, 33.
Bei euch braucht also niemand Nachhilfe?
Doch, da gibt es viele.
Wie? Ich dachte, der Stoff sei so einfach.
Die Schüler, die nicht so gut aufpassen, brauchen Nachhilfe.
Und wer gibt denen Nachhilfe?
Meistens ältere Schüler. Der Artur gibt auch Nachhilfe.
Dein Freund ist doch auch erst zwölf Jahre alt, genau wie du?
Aber er hat doch zwei Klassen übersprungen.
Und ist Artur ein guter Nachhilfelehrer?
Der, dem er Nachhilfe gibt, bekommt jetzt eine Fünf ins Zeugnis. Vorher war es eine Sechs.
Was verlangt Artur pro Stunde?
Ich glaube, fünf Euro.
Nicht schlecht. Ist Artur denn immer noch so gut in der Schule, obwohl er wieder eine Klasse übersprungen hat?
Er hat jetzt, glaube ich, auch mal eine Fünf geschrieben. In Französisch, weil er da den Stoff von einem ganzen Jahr ja erst mal aufholen musste.
Dabei heißt es bei den Pisa-Untersuchungen, Schüler mit ausländischen Eltern würden viel schlechter abschneiden.
Beim Artur stimmt das sicherlich nicht, aber bei einigen anderen schon. Der Hakan tut sich zum Beispiel mit den Artikeln schwer, obwohl er sonst gut Deutsch spricht. Aber er hat nur viele Dreier und ist auch nicht richtig schlecht.
Gibt es eigentlich Raufereien bei euch an der Schule?
In der Pause gehen die Lehrer schnell dazwischen. Und manchmal mucken sich die Hauptschüler nach der Schule auf. Aber jetzt haben die schon zehn Minuten früher Schule aus, deswegen gibt es die Raufereien seltener. Ein Mädchen aus meiner Klasse wurde mal verprügelt, beim Bäcker, weil sie zwei andere Mädchen nicht in der Schlange vorlassen wollte. Dann haben diese Mädchen gleich gerufen: Halt’s Maul, du Hure, und sie dann gekratzt und gewürgt.
Wie bitte? Zwölfjährige beschimpfen sich mit »Hure«?
Die anderen Mädchen waren ja schon 14.
Ach so. Haben deine Klassenkameraden eigentlich schon eine Freundin?
Ab und zu halten mal welche Händchen.
Ähm, hat in der Schule eigentlich mit euch schon jemand über Aufklärung gesprochen?
Ja, jetzt in Inzell wurden wir aufgeklärt, bei dem Projektwochenende.
Die Lehrer haben euch eigens nach Inzell gebracht, um euch aufzuklären?
Nein. Es gab da verschiedene Projektgruppen, in denen wir reden und diskutieren konnten. Über Drogen und Sucht, über Freundschaft, über Verhütung und Sexualität, über Glaube und außerdem haben wir in Inzell auch noch viel Fußball gespielt. War eine gute Mischung und ein ziemlich gutes Wochenende. Fußball macht ja immer Spaß.
Wie Recht du hast. Ich habe eigentlich die ganze Zeit schon immer nach einer passenden Gelegenheit gesucht, um mit dir über das Thema zu reden. Bist du enttäuscht, dass nicht ich dich aufgeklärt habe?
Nein, mit jemandem Fremden darüber zu reden ist unpersönlicher und deswegen einfacher. Ich fand es in Inzell auch ziemlich gut, dass man in der Gruppe war und nicht allein.
Waren denn auch Mädchen in der Gruppe?
Nein, nur Jungs, aber eine Lehrerin hat uns aufgeklärt.
Was hat sie erzählt?
Na, wie man gescheit verhütet. Was gute Verhütungsmittel sind. Und dann sollten wir auch mal unsere Traumfrau beschreiben.
Wie sieht deine Traumfrau aus?
Ich habe sie gemeinsam mit Chris und Alex gemalt.
Ihr habt zu dritt eine Traumfrau?
Ja. Und dann haben wir noch gelernt, was die Frau erregt oder den Mann und wie es zum Sex kommt.
Was sind denn sichere Verhütungsmittel?
Kondome sind sicher und schützen auch vor Aids.
Das hat die Lehrerin gesagt?
Ja, wenn man sie richtig anwendet. Das hat sie uns auch gezeigt, an einer Banane. Die Spirale sei nicht so sicher, weil da trotzdem Spermien durchkommen.
Falls du irgendwann doch noch mal mehr wissen willst, kannst du jederzeit zu mir kommen.
Danke, aber im Augenblick wüsste ich nichts, was ich nicht wissen könnte, Papa.
Wofür hast du jetzt eigentlich den Verweis bekommen?
Ich habe eine Tintenpatrone auf jemanden geworfen, der sie brauchte, die Patrone platzte auf und er war voller Tinte. Ich konnte wirklich gar nichts dafür.
Sollte ich mal mit dem Lehrer sprechen?
Lass mal. Ein Verweis ist ja kein Weltuntergang.