Seit zwei Jahren verlaufen unsere Ausflüge etwas anders als bei anderen Familien, und das hat mit meinem Sohn zu tun. Ich erinnere mich an eine Wanderfahrt nach Kochel am See. Nach einer Weile fragte er genervt: »Eine urbane Szene haben die hier wohl nicht, oder?«
Es zieht uns nun eher in die Städte, wenn auch nicht zu den klassischen Sehenswürdigkeiten: In Berlin haben wir Reichstag und Museumsviertel links liegen lassen und stattdessen einen Nachmittag im Lagerweg verbracht, Bezirk Spandau-Haselhorst, gleich neben der »Comfort Polstermöbelfabrik« und der »Kfz-Prüfstelle«. In Wien sind wir kurz auf den Turm des Stephansdoms gerannt und weilten den Rest des Tages am Ufer des Donaukanals, unmittelbar neben der U-Bahn-Haltestelle Rossauer Lände. Denn dort gibt es, wie auch in Berlin-Haselhorst, Wände.
Mein Sohn ist elf und seit gut zwei Jahren verrückt nach Graffiti. Fast täglich malt er neue Skizzen in seinen Block, schaut Videos im Internet von Berliner Jugendlichen, die S-Bahn-Züge besprühen, und sucht auf Google Maps Wände, auf denen er sich selbst verewigen könnte. Seine Vorbilder heißen nicht Götze, Schweinsteiger oder Justin Bieber, sondern Banksy, Sofles, Rasko und irgendein »Street Artist« aus Bulgarien, von dem ich nur weiß, dass er beim Sprühen in Paris erwischt wurde und nun im Gefängnis sitzt. In dem Dosenladen, wo wir ein Mal pro Monat aufkreuzen, hat mein Sohn inzwischen eine Kundenkarte. Was da schiefgelaufen ist in der Erziehung, wollen Sie wissen?
Als mein Sohn neun war, interessierte er sich noch für Züge und malte sie mit viel Liebe zum Detail ab. Also bekam er von der Oma zur Kommunion eine Reise in die Schweiz geschenkt, zu den berühmten Gletscherbahnen. Diese Reise führte zu einem Hotel, dem gegenüber sich eine Wand befand, von oben bis unten besprüht. Eine Leidenschaft war entfacht: Mein Sohn malte und fotografierte die Wand von oben bis unten – und in der Folge Hunderte weitere Lärmschutzwände, an Zuggleisen und entlang der Autobahn. Bald kannte er mehr Graffiti-Crews als Englisch-Vokabeln, wenn wir mit dem Auto irgendwo hinfuhren, hörte ich von der Rückbank immer nur: »Schau mal: WAK!« Oder: »Boah, PHK!« Wir haben in der Stadtbücherei das Buch Subway Art ausgeliehen, ein Buch voller bemalter U-Bahnen in New York. Mein Sohn hat sie alle abgemalt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er selbst zur Spraydose griff. Er hat sich noch nie damit zufrieden gegeben, anderen bei der Arbeit zuzuschauen, sondern ist am liebsten selbst schöpferisch tätig.
Das wäre alles kein Problem – würden wir nicht in München wohnen. Das Angebot an Wänden für Sprayer (oder Writer, wie mein Sohn mich sofort korrigieren würde) ist sehr begrenzt. Im Schlachthofviertel gibt es eine »Hall of Fame«, etwa hundert Meter Mauerwerk auf beiden Seiten der Straße. Das war’s mit der künstlerischen Freiheit. München rühmt sich zwar für seine Graffiti-Szene, der langjährige Oberbürgermeister Christian Ude hat sich sein Bad von Loomit gestalten lassen, der schon vor dreißig Jahren Züge besprühte. Und regelmäßig werden Künstler aus aller Welt eingeladen, um irgendwelche Brücken und Unterführungen einzufärben. Das Tourismusamt schiebt dann gern eine Pressemeldung hinterher, die erklärt, was für eine moderne, weltoffene Stadt München sei.
Die Förderung des Nachwuchses und lokaler Talente haben die Marketingleute aber leider nicht vorgesehen. Zugegeben, für Einsteiger bietet die Volkshochschule München zweitägige Workshops mit Loomit an, mein Sohn war zweimal dort. Gelegentlich veranstalten Bürgerzentren oder soziale Einrichtungen Feste, bei denen Jugendliche mit Sprayfarben Plakate gestalten können oder T-Shirts. Ganz nett für Kids, die mal ein bisschen herumklecksen wollen. Aber mein Sohn hat keine Lust, mit solchen »Toys«, wie er etwas abfällig sagt, popelige Leinwände zu bemalen. Er nimmt die Sache halt sehr ernst. Deshalb hat ihm auch die Kletterwand auf einem benachbarten Spielplatz bald nicht mehr gereicht. Und so befinden wir uns nun ständig auf der Suche nach Wänden, an denen er an seinem Stil feilen kann. Hier beginnt allerdings auch die Gratwanderung.
Züge und Gleise? Absolute No-go-Area! Das haben mein Sohn und ich vereinbart, denn: zu gefährlich, zu teuer, wenn man erwischt wird. Das leuchtet ihm ein, auch wenn zu seinen Favoriten auf Youtube die Videos von 1UP zählen, einer Berliner Truppe, die gern nachts in die U-Bahn-Schächte der Stadt steigt. Tabu sind auch Häuserfassaden. Um das zu unterstreichen, habe ich meinen Sohn früh mit dem kategorischen Imperativ vertraut gemacht (»Stell dir vor, bei uns zu Hause würde irgendjemand …«) sowie mit der Broken-Windows-Theorie (»Wenn ein Haus erst mal verschmiert ist, sehen das doch viele als Einladung, dort noch mehr herumzuschmieren«).
Immerhin: Solche Unterhaltungen hätte ich ja kaum mit ihm geführt, wenn er den ganzen Nachmittag Fußball oder Minecraft spielen würde. Sein Hobby hat noch andere Vorteile: Es ist eine kreative Tätigkeit, er glotzt nicht, wie viele in seinem Alter, die ganze Zeit aufs Tablet oder Smartphone. Außerdem bewegt er sich an der frischen Luft, lässt man mal die Dämpfe außer Acht, denen er bei der schöpferischen Arbeit ausgesetzt ist, aber dagegen helfen Atemschutzmasken.
Unser Deal lautet also: nur Wände, die schon von anderen vollgeschmiert wurden und auch ansonsten in einem maroden Zustand sind. Weil es in München leider nur boomende Firmen und kaum marode Fabriken gibt, findet man geeignete Gebäude am ehesten in der Nähe von Bahngleisen, der oben erwähnten No-go-Area. Deshalb sind meine Frau oder ich immer dabei, betreutes Sprayen sozusagen.
Aus Sicht unseres Sohnes besteht unsere oberste Aufgabe eher darin, Schmiere zu stehen. Weil wir uns meist eh in solchen Ecken der Stadt bewegen, in die sich lediglich Hundebesitzer verirren, drückt er uns noch die Kamera in die Hand, damit wir ihn filmen. Daraus schneidet er später kleine Sequenzen, die er auf Youtube stellt. Das gibt nämlich »Fame«, was für einen Writer nicht ganz unwichtig ist. Mein Sohn hat von Anfang an sehr gutes Feedback bekommen, nur der Kameramann, hieß es, der sei ausbaufähig. Seitdem bemühe ich mich, nicht mehr so zu wackeln beim Filmen, was gar nicht so einfach ist, wenn man an einem kalten Winterabend gleichzeitig mit der Taschenlampe die Wand ausleuchten muss, damit sich der Künstler auf sein Werk konzentrieren kann.
Die Sache hat leider einen Haken, erklärte mir neulich mein Freund Fritz, ein Jurist. Er erzählte etwas von »überholender Kausalität« und war sich ziemlich sicher, dass wir – wenn wir Pech haben – wegen Sachbeschädigung dran sind. Auch dann, wenn unsere Wand zuvor schon mit hundert Schichten Farbe überzogen wurde. Viel genauer wollte ich es nicht wissen, mir ist schon klar, dass wir uns in einem rechtlichen Graubereich bewegen, zumal ich mit meinem Sohn auch schon über einen Absperrzaun geklettert bin, um zu einer aus meiner Sicht hervorragend geeigneten Wand zu gelangen. Das war an einem Abend, mein Sohn hatte ein mulmiges Gefühl dabei. Als dann aus der Ferne noch ein Hubschrauber heranflog, suchte er sofort Deckung und warf sich flach auf den Boden. Der Hubschrauber war aber nicht von der Polizei, sondern flog zum Klinikum. Am nächsten Tag fuhr ich noch mal an der Stelle vorbei und dachte: Wen in aller Welt stört es eigentlich, wenn mein Sohn hier sprüht? Die Wand wurde ohnehin ein paar Monate später abgerissen.
Es geht aber nicht um diese eine Wand. Das Problem ist, dass die Gesellschaft ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Art von Kunst hat. Wenn zum Beispiel die Zeitungen etwas über gierige Banker schreiben, wird der Artikel häufig mit einem Graffito von Geld fressenden Monstern illustriert, das ein paar Sprayer auf einem Bauzaun vor der Frankfurter Skyline hinterlassen haben. Zu Illustrationszwecken ist Graffiti also erwünscht, zu Stadtmarketingzwecken auch. Wenn die Zeitungen aber berichten, dass ein 21- und ein 22-Jähriger in Singapur mit Stockschlägen bestraft werden, weil sie einen U-Bahn-Waggon angesprüht haben, hagelt es Leserbriefe, die solche Strafen auch in Deutschland fordern. Als mein Sohn kürzlich seine Signatur, in der Szene »Tag« genannt, auf einem Stromkasten hinterließ, beobachtete ihn eine Nachbarin und sagte: »Das muss ich fei melden.« Hat sie dann doch nicht gemacht. Auch von seinen Schulfreunden hört er manchmal, dass Graffiti illegal ist und er über kurz oder lang im Knast landet. Zeitweise hatte er Mitstreiter, aber deren Eltern haben jeweils bald ihr Veto eingelegt.
Dass ich meinem Sohn dieses Hobby verbiete, ist mir nie wirklich in den Sinn gekommen. Er betreibt es mit großem Ernst und noch mehr Leidenschaft, und wo wir auch hinkommen, staunen die anderen Sprayer, wie weit er in seinem Alter schon ist. Außerdem neigt er absolut nicht dazu, große Risiken einzugehen. Morgens bricht er viel zur früh zur Schule auf, um bloß nicht zu spät dort anzukommen. Insofern ist es mir auch recht, dass er nicht mit Freunden zum Sprühen geht, denn so haben meine Frau und ich wenigstens eine gewisse Kontrolle, und es kommt nicht zu irgendwelchen Gruppenzwängen und idiotischen Mutproben.
Ein kleines Problem habe ich mit seinen Zukunftsträumen. Er würde gern später nach Berlin ziehen, dort tagsüber mit seinen Freunden Bier trinken und nachts sprühen gehen. Ich vertraue aber darauf (und arbeite daran), dass er irgendwann von selbst kapiert: So erstrebenswert ist das auch wieder nicht.
Mehr Probleme habe ich aber mit der Einstellung der Leute, die dieser Kunstform so feindlich gegenüberstehen. Ich verstehe einfach nicht, warum die Milliarden von mausgrauen, taubengrauen und steingrauen Stromkästen und Lärmschutzkonstrukten, die das deutsche Stadt- und Landschaftsbild prägen, vor dem Zugriff einiger kunstinteressierter Jugendlicher geschützt werden müssen. Über Züge würde ich ja noch mit mir reden lassen, ob die wirklich von oben bis unten besprüht werden müssen, Fensterscheiben inklusive. Schließlich will man als Fahrgast ja ab und zu aus dem Fenster schauen. Andererseits nehme ich gute Graffiti, von denen es wirklich viele gibt, selbst an den Autobahnbrücken zwischen Neumünster und Kiel, als willkommene Abwechslung wahr. Dem Pop-Art-Künstler Claes Oldenburg ging es wohl ähnlich: »Du stehst in der U-Bahn, alles ist grau und düster«, sagte er einmal, »und plötzlich hält einer dieser Graffiti-Züge und erhellt den Platz wie ein großer Blumenstrauß aus Lateinamerika.«
Mein Sohn sieht das übrigens nicht so grundsätzlich. Er wäre schon damit zufrieden, wenn es in der etwas zu sauberen Stadt München ein paar Wände mehr gäbe, wo er in aller Ruhe sprühen kann.
Fotos: Conny Mirbach