Als vor einigen Monaten mein Vater starb, wollte ich mir etwas aussuchen, was mich an ihn erinnert. Das ist gar nicht so einfach, wie man vielleicht denken könnte – den einen Gegenstand zu finden, der genug Symbolkraft hat, um mir ein Trost zu sein. Natürlich ist seine Wohnung, sind seine Schränke und Schubladen voll mit persönlichen Dingen, die etwas über ihn aussagen, an denen seine Geschichte sichtbar wird oder die mich und ihn verbinden. Manche Dinge haben materiellen Wert, andere nostalgischen, aber ich kann nun mal nicht alles behalten. Entschieden habe ich mich schließlich für einen kleinen Haufen gebügelter, sorgfältig gefalteter, weißer Stofftaschentücher.
Stofftaschentücher sind altmodisch und unpraktisch und während der Schnupfensaison aus hygienischen Gründen problematisch, deswegen nutzt sie kaum noch jemand. Sie eignen sich auch nicht unbedingt als Distinktionsmerkmale, wie etwa Füllfederhalter, Manschettenknöpfe oder alte Armbanduhren. Und doch sind weiße Stofftaschentücher ein Symbol für eine aussterbende Art von Ritterlichkeit und ein Stilbewusstsein, das auch die banalsten Alltagsdinge einschließt. Mein Vater hatte, so lange ich mich erinnern kann, immer zwei frische Stofftaschentücher bei sich, in jeder Hosentasche eines. Er war ein Mann, der viel Wert auf Form gelegt hat, niemals hätte man in einer seiner Manteltaschen eine alte, verfusselte Packung Tempos aus dem vergangenen Jahr gefunden (so wie bei mir). Die Taschentücher sind weiß und ungemustert, es ist gar nicht so leicht, sie in dieser Schlichtheit noch irgendwo zu kaufen. Das eine Taschentuch war für ihn selbst, nicht zum Schnäuzen übrigens, das hätte er niemals in der Öffentlichkeit getan, sondern höchstens zum Stirnabtupfen oder um sich diskret eine Träne aus dem Augenwinkel zu wischen, falls ihn etwas rührte – was leicht geschah. Das zweite Taschentuch war dafür bestimmt, es jemandem zu reichen, der eines gebrauchen konnte. Und diese Person war sehr häufig ich.
Es liegt etwas Einladendes und gleichzeitig Tröstliches in der Geste, jemandem ein Taschentuch zu reichen. Es ist eine Geste, die anerkennt, dass man traurig ist, und die dazu einlädt, diese Traurigkeit rauszulassen. Sich nicht zusammenreißen zu müssen, weil einen sonst der Schnodder und die Tränen übermannen könnten. Man kann sich an einem weißen Stofftaschentuch sehr gut festhalten, während man die Fassung verliert. Diese Stofftaschentücher sind für mich die unmittelbarste Verbindung zur Liebe meines toten Vaters. Sie sagen mir: Meine Tränen waren ihm zu kostbar, um in einem schnöden Zellstoffwegwerfprodukt entsorgt zu werden, egal, wie banal ihr Anlass gewesen sein mochte. Mein Kummer war ihm immer ernst. Und er war ein verlässlicher Zuhörer und Tröster, auch das verbinde ich mit diesen Taschentüchern – wie sehr ich mich auf ihre Verfügbarkeit verlassen konnte.
Ich behalte diese Taschentücher nicht, um sie zu benutzen. Sie liegen gefaltet und gebügelt in meinem Schrank, nicht nur als Erinnerung an meinen Vater, sondern als Symbol für das, was ich eigentlich von ihm erben möchte: seine Großzügigkeit. Denn es liegt eine besondere Art von Großmut und Fürsorge darin, sich jeden Morgen beim Anziehen zwei Taschentücher einzustecken. Sich also dafür zu rüsten, jemand anderem möglicherweise hilfreich zu sein. Mir fällt partout kein Gegenstand ein, den man ausschließlich zu dem Zweck bei sich trägt, ihn bei Bedarf verschenken zu können.
Aber es geht auch nicht so sehr um den Gegenstand an sich, sondern mehr um den Gedanken dahinter. In den Morgen zu starten mit dem Vorsatz, jemand anderem den Tag erleichtern, eine Freude bereiten oder einen Kummer erträglicher machen zu können, und sei es nur mit einer kleinen Geste, einer Nachfrage, einer winzigen Mühe – das ist der kleine Gruß aus dem Jenseits, den mir die Stofftaschentücher meines Vaters senden.