Ein Minister, zwei Frauen, vier Kinder. Die deutsche Politik ist um eine Affäre reicher; die großbuchstabigen Medien um Coverstorys, Schlagzeilen und Fotostrecken der Beteiligten, die seriöseren Blätter um Analysen und Kommentare. Horst Seehofers Privatleben ist inzwischen alles mögliche, nur allerspätestens seit letzter Woche eines sicher nicht mehr: privat. Neben denen, die es betrifft, verfolgt auch die Öffentlichkeit interessiert den Lauf der Dinge, so wie sie monatelang mehr oder weniger geduldig auf des Ministers Entscheidung gewartet hatte: Ehefrau oder Geliebte?
Seehofer hatte sich Zeit erbeten, es sich, wie es scheint, nicht leicht gemacht. Kein Wunder, schließlich ging es nicht nur um zwei Frauen und um Liebe, es ging auch um Familie und, ja, neue Familie. Und ein wenig wohl auch um Politik und Karriere. Seehofer befand sich von Anfang an in einer aussichtlosen Lage, schrieb ein Kommentator, gleich, wie er sich verhielte, man könne und würde ihm seine Entscheidung übel nehmen. Steht er zu seinem neuen Kind, kann man sagen, er verlässt Frau und Familie für eine Jüngere, tut er das nicht, lässt er die Geliebte mit dem gemeinsamen Baby sitzen. Das klingt nach einer neuen, neuzeitlichen Variante eines altbekannten Genres: der klassischen Tragödie. Auch dort kann sich der Held durch jedes Handeln nur schuldig machen; am Ende zerbricht er in der Regel an diesem Konflikt. In der Moralphilosophie kennt man derartige Situationen als Dilemmata. Der US-amerikanische Philosoph Christopher W. Gowans definiert sie in seinem Buch Moral Dilemmas als Situationen, in denen ein Handelnder moralisch verpflichtet ist, A zu tun und B zu tun, aber nicht beides tun kann, weil A und B sich gegenseitig ausschließen. So scheint es auch bei Horst Seehofer: Er konnte nur der Pflicht gegenüber seiner bisherigen Familie folgen oder sich der neuen Frau und dem neuen Kind zuwenden. Beides zusammen lässt sich in unserem der Polygamie abgeneigten Kulturkreis nicht verwirklichen.
Doch ist das wirklich so? Kennen wir tatsächlich eine Pflicht, unter allen Umständen bei der ersten Familie zu bleiben? Religiös oder konservativ betrachtet mag man es bejahen, gesamtgesellschaftlich jedoch kaum mehr. »Wo die Liebe hinfällt« ginge als Motto sicherlich zu weit, aber einen Ehepartner, der eine neue Liebe gefunden hat, gegen seine Gefühle und seinen Willen lebenslang an Tisch – und Bett? – zu binden, ließe sich auch mit unserer Vorstellung von Individualität und Freiheit des Einzelnen moralisch kaum mehr begründen.
Um Situationen erfassen zu können, in denen neben Pflichten auch Gefühle eine Rolle spielen, erweiterte der New Yorker Philosoph Thomas Nagel den Dilemma-begriff auf Kollisionen von fundamentalen Werttypen, zu denen er auch Nutzenerwägungen, perfektionistische Ziele oder Werte und persönliche Bindungen zählte. Nach dieser Auffassung befand sich Seehofer zweifelsfrei in einem Dilemma. Doch musste er sich dann schuldig machen, gar untergehen, wie der Held in der griechischen Tragödie? Die Moralphilosophie sieht Dilemmata anders als in der antiken Kunstform. Kant beispielsweise leugnete ihre Existenz, weil eine Pflicht die »objektive praktische Notwendigkeit einer Handlung« bedeute, weshalb »eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar« sei.
Dem folgt die moderne Ethik nur zum Teil, sie erkennt die Kollision von Handlungspflichten an, bewertet sie aber neu. Der Chicagoer Philosoph Alan Donagan etwa meinte, dass sich die widerstreitenden Gründe moralisch rational gegeneinander abwägen lassen und sich einer am Ende als stärker herausstellt. Falls nicht, seien nicht beide Handlungen, sondern nur eine geboten. Der Zürcher Ethiker Peter Schaber kehrt die Folgerung der griechischen Tragödie um, indem er den Blickwinkel ändert: Wenn beides gleich stark geboten ist, macht man sich nicht mit jeder der beiden Taten schuldig, sondern handelt umgekehrt mit jeder Alternative richtig.
Beinhaltet das nun einen moralischen Freifahrschein für Ehebrecher? Keineswegs. Es ist eine ganz andere Frage, ob man sich neben einer Beziehung auf einen Seiten-sprung einlässt oder treu bleibt, das lässt sich bewerten. Aber wenn Gefühle sich verschoben haben oder eine neue Liebe gewachsen ist, hat sich eine andere Situation eingestellt, und jede Betrachtung muss nun von dieser neuen Warte ausgehen, unabhängig, was vorher geschah. Was bedeutet das nun konkret in der Causa Seehofer? Alles richtig, egal wie er sich entschied?
Soweit es allein die Liebe betrifft, mag das gelten, im Sinne eines Love knoweth no laws. Die Vorgeschichte stellt einen klassischen Ehebruch dar, über den man nicht viel sagen muss; und über die wahren Beweggründe der aktuellen Entwicklung schweigen sich alle Beteiligten auch in den neuen Exklusivstorys aus. Ob es nun die Gefühle waren, die den Minister zu seiner Familie zurückgeführt haben, Pflichtbewusstein oder wahltaktische Erwägungen auf dem Weg zum Parteivorsitzenden, das weiß vermutlich nur er allein. Und ohne dieses Wissen wäre jede moralische Bewertung Spekulation.
Am Ende jedoch wird man das Gefühl nicht los, dass das Zögern des Ministers bei der Entscheidung etwas mit einem aus der Philosophiegeschichte bekannten Tier gemein hat: Buridans Esel. Der französische Mönch und Scholastiker Johannes Buridan prägte, zurückgreifend auf Aristoteles, bei dem ein Hund vor diesem Problem stand, im 14. Jahrhundert das Bild von dem Esel, der zwischen zwei Heuhaufen steht und verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, welchen er fressen soll. Bei Horst Seehofer waren es wahrscheinlich ein paar Haufen mehr, die nicht aus Heu, sondern eben aus Liebe hier und Liebe da, Kindern, Pflichtgefühl, aber auch Ehrgeiz, politischem Kalkül und anderem bestanden haben dürften. Wie sehr er Hunger gelitten, wonach ihn am meisten gelüstet hat, wissen wir nicht. Und wie sehr er Schaden genommen hat, wird erst die Zukunft zeigen.
Foto: M. Popow/Thomas & Thomas