Marlene Jakub, "Mutti"
Meine Oma wurde von uns allen Mutti genannt. Für mich war und ist das noch heute die stimmigste Bezeichnung, denn für mich war sie das, was meine Mutter mir nicht sein konnte. Eine wunderbare, starke, großherzige Frau, die mich beschützte und liebte. Sie lebte während meiner gesamten Kindheit in meinem Elternhaus im ersten Stock. Die kurze, enge Holztreppe zu ihr war die Treppe zu meiner Rettung. Meine Zuflucht, wenn meine Mutter mich mal wieder beschimpfte und schlug. Dort oben wohnte die Sicherheit. Als ich als sehr kleines Kind schwer krank war, hat sie an meinem Bett gesessen und mir Märchen vorgelesen.
Die Bilder der Schneekönigin von Christian Andersen sind mir noch heute klar in Erinnerung. Das geborgene Gefühl im warmen Bett, meine Mutti neben mir und die Geschichte von Schneesturm und vereistem Herzen irgendwo da draußen. Aber hier war kein vereistes Herz, hier war meine geliebte zärtliche Mutti. Das Märchen erinnere ich nicht mehr genau, nur dieses wohlige Gefühl beim Gedanken an sie ist mir ein Leben lang geblieben und die Gewissheit, dass es doch jemanden geben kann, der mich bedingungslos liebt.
Als ich schon erwachsen war, hat sie mir erzählt, dass sie damals nachts auf der Straße vor unserem Haus gekniet und gebetet hat, dass ich wieder gesund werden möge. Vielleicht hat das geholfen, auf jeden Fall hat sie mir das Leben gerettet. Durch sie habe ich erfahren, was Liebe und Güte ist. Ihr verdanke ich, dass meine Kindheit nicht nur von Gewalt und Missbrauch geprägt war.
Ihr verdanke ich fast alle der wenigen schönen Kindheits-Erinnerungen, die ich habe. So hat sie zu Ostern für uns Enkelkinder schon Wochen vorher immer wieder kleine Süßigkeiten in Osternester gelegt, die wir aus Moos gebaut hatten in unserem Garten rund ums Haus. Ich erinnere den würzigen Geruch von frischen Daxen, die um diese Zeit immer gehackt und gebündelt wurden als Anheizmaterial. Hundertmal nachschauen, ob schon was drinliegt - und dann - pures Glück - es schimmert stanniolglänzend ein Schokoladenei.
Das war das allerschönste an Ostern: diese Wochen vorher mit der gespannten Erwartung. Der Oster-Sonntag mit dem einen großen Osternest konnte dagegen nicht konkurrieren, war er doch das unwiderrufliche Ende dieses Wunders.
Nach einem alten Brauch aus dem Sudetenland, woher sie stammte und nach dem Krieg nach Bayern geflüchtet war, füllte sie schon am Gründonnerstag für alle ihre Enkel auf ihrem Balkon Osternester - man musste dazu nur ein leeres Nest dort hinstellen. Irgendwann kamen zwei kleine Freunde aus der Nachbarschaft auf die Idee, dass sie das ja eigentlich auch machen könnten. Meine Mutter lehnte das rundweg ab - da könnte ja das ganze Dorf daherkommen.
Meine Oma ließ sich nicht beirren: wer an dieses Osterwunder auf ihrem Balkon glaubte, den wollte sie nicht enttäuschen. Der Osterhase meiner Oma kannte keine Ausgrenzung - er machte keinen Unterschied. Auch "fremden" Kindern wurde also nun Jahr für Jahr dieses österliche Wunder zuteil.
Mir wurde die lebenslange Lehre zuteil, was Großherzigkeit bedeutet - danke Mutti! - ich liebe Dich!
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Edith Bachmayr, "Die Großmutter"
Meine Großmutter und ich lebten zusammen in einem Zimmer. Ich war geschlagen mit Eltern, die ihrer Aufgabe, ein Kind aufzuziehen, weder nachkommen konnten noch wollten. Die Großmutter ersetzte mir die Eltern.
Ich sehe die Großmutter vor mir, wie sie morgens vor ihrer kleinen Spiegelkommode sitzt, sich sorgfältig ein Netz über ihr graues, dauergewelltes Haar zieht, Rouge auf ihren Wangen verteilt, genüsslich ihr Kipferl in den Morgenkaffee tunkt. Nach dem Mittagessen nickte sie regelmäßig in ihrem Korbstuhl ein und abends saß sie, oft bis spät in die Nacht, am Esstisch und schrieb lange Briefe, die sie dann noch zum Briefkasten brachte.
Sie erzählte gerne und gut. „Lass uns Dämmerstunde halten", sagte sie. Dann blieb das Licht ausgeschaltet, nur der Schein des Herdfeuers flackerte über die Wände. Sie erzählte Familiengeschichten, hinter denen Krieg und politische Umbrüche sichtbar wurden. Das verstand ich als Kind noch nicht, aber ich lernte, die Geschichten, die sie mir erzählte, einzuordnen. Ich wusste genau, in welchem Krieg ihr Bruder gefallen war, wann und warum der Großvater eine Sprachprüfung ablegen musste. Namen wie Galizien und Tschechoslowakei, Wien, Prag oder Odessa waren mir von Kind an geläufig.
So saßen Großmutter und Enkelin in einem Zimmer in einer bayerischen Kleinstadt, und die Welt war ihnen weit. Meine eigenen Erinnerungen beginnen in den letzten Kriegsjahren, meist ungenaue Erinnerungen, oft mit Angst besetzt. Dadurch, dass die Großmutter mir von dieser Zeit berichtete, bekamen meine Erinnerungen klare Konturen und verloren viel von ihrem Schrecken.
Die Großmutter erzog mich mit lockerer Hand. Wenn ich im Winter wieder einmal über Ohrenschmerzen klagte, sagte sie: „Hast wieder die Mütze nicht aufgesetzt", tropfte mir warmes Öl ins schmerzende Ohr und band mir ein dickes Tuch um den Kopf. In die Enge des einen Zimmers konnte ich keine Freundinnen einladen. Deshalb ging ich zu den Freundinnen, oft weite Strecken, bis ans andere Ende der Stadt, manchmal auch in ein Dorf außerhalb der Stadt. Die Großmutter ließ mich gewähren, ich musste nur vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein.
Mit dieser Freiheit war es vorbei, als ich auf die Oberrealschule und damit ins Internat kam. Das Internat wurde von Franziskanerinnen geleitet. Ich litt unter den starren Regeln, denen ich unterworfen war. Dazu kam, wir waren arm, ich erhielt ein Stipendium, die Familienverhältnisse waren verworren. Das passte nicht ins Bild, und die Schwestern ließen es mich spüren. "Du hast schon gar keinen Grund, frech zu sein", bekam ich oft zu hören.
Manchmal ging das monatliche Stipendium verspätet ein. Dann vermerkte die Leiterin den noch fehlenden Betrag in einem Heft, in dem die Zahlungen bestätigt wurden, unterstrich ihn rot und legte das Heft offen auf meinen Platz. Ich wagte nicht, mich bei meiner Großmutter wegen solcher Schikanen zu beklagen. Sie war überzeugt, dass ich bei den Schwestern in guten Händen war und erwartete von mir, "brav" zu sein. Außerdem wusste ich, dass es ihr nicht leicht fiel, für meinen Unterhalt zu sorgen, den das Stipendium nicht abdeckte. So schwieg ich aus doppeltem Grund.
Die Großmutter selbst verstand es durchaus, sich in ihrem Umfeld zu wehren, in die Rolle der hilflosen Witwe ließ sie sich nicht drängen. In diesem Spannungsfeld zwischen sich fügen, wie sie es von mir verlangte und sich wehren, wie sie es mir vorlebte, wuchs ich auf. Als 16, 17 wurde, wollte ich vom Internat in ein Wohnheim ziehen, wo es freier zuging. Alle meine Versuche scheiterten an ihrem Nein.
Erst nach und nach erfuhr ich den Grund. Meine Großmutter hielt an den Moralvorstellungen ihrer Zeit fest: eine Frau hat unberührt in die Ehe zu gehen. Nach schlechten Erfahrungen mit den eigenen Töchtern wollte sie bei der Enkeltochter vorbauen. Doch die, nachdem sie nach dem Abitur endlich das Internat verlassen konnte, wuchs in eine andere Zeit hinein, in der die Pille den Frauen eine neue Freiheit schenkte. Wir haben nie darüber gesprochen, obwohl die Großmutter mir Vertraute war bis zu ihrem Lebensende.
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Petra Nikolić, "Meine Clarissa"
Zwei dunkle Augen schauen mich an, in denen der Schmerz und die Weisheit der ganzen Welt zu liegen scheinen. Sie war erst neun Jahre alt, doch ihre Augen blickten, als habe sie schon alles im Leben gesehen und verstanden.
Ich lernte Clarissa durch eine Anzeige kennen. Um während meines Studiums etwas Geld zu verdienen, wollte ich Schülern Nachhilfeunterricht geben. Im örtlichen Anzeigenblatt, das einmal in der Woche kostenlos an alle Haushalte verteilt wurde, hatte ich ein Annonce geschaltet und darin angeboten, zu den Schülern nach Hause zu kommen.
Clarissa wohnte mit ihren Eltern in einem Hochhaus in der Frankfurter Nordweststadt. Die Architekten dieser in den 60er Jahren errichtet Trabantenstadt im Norden Frankfurts hatten versucht, durch das Nebeneinander von Hochhäusern und Einfamilienhäusern die sozialen Schranken aufzubrechen. Doch die Durchmischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen war nicht geglückt.
Die betuchten Familien aus den Einfamilienhäusern zogen bald in die besseren Stadtviertel und die Nordweststadt wurde zu einem sozialen Brennpunkt. Die Siedlung bot jedoch auch einen Vorteil: Sie war reich an Grünflächen und Spielplätzen, was sie zu einem Paradies für Kinder machte und die triste Trabantenstadt mit Fröhlichkeit und Leben erfüllte.
Das Hochhaus, in dem Clarissa mit ihren Eltern wohnte, sah aus wie alle Hochhäuser in Frankfurt: Die Fassade war mit Graffiti-Zeichnungen beschmiert, die Briefkästen mit verschiedenen Stickern beklebt und vor dem Eingang standen kaputte Einkaufswagen, die keiner mehr zurückbringen wollte. In dem dunklen Hausflur hing der Geruch von abgestandenem Essen.
Meine Schritte hallten auf dem kalten Betonboden. Ich fuhr in dem mit Kaugummi beklebten Aufzug in den fünften Stock. Eine blonde junge Frau öffnete mir die Tür. Clarissas Mutter war groß und schlank, sie hatte ein hübsches Gesicht mit dunklen Augen. Ihre Haare waren blond gefärbt, aber die Farbe war nicht aufdringlich. Sie war gut und geschmackvoll gekleidet. Ich war erstaunt, denn sie schien nicht zu der Umgebung zu passen, in der sie lebte.
Die Wohnung war aufgeräumt und sauber. Sie wirkte sehr weiblich - mit vielen Pastellfarben und unzähligen kleinen Porzellanpüppchen und Tierfiguren aus Glas. Wir setzen uns auf ein weißes Sofa. Clarissa war auf dem Spielplatz; das erste Gespräch zum Kennenlernen sollte ohne sie stattfinden. Wir waren uns beide sympathisch und die Arbeit schien einfach. Ihre Tochter sei schon sehr selbständig und gewissenhaft. Aber in letzter Zeit habe sie die Hausaufgaben oft vergessen und ihre Noten in der Schule wurden schlecht, berichtet die Mutter.
Nachdem wir uns geeinigt hatten, rief sie Clarissa nach oben. Ich war gespannt. Die Tür ging auf und ein kleines dünnes Mädchen mit langen dunklen Haaren kam herein. Sie setzte sich auf die Couch und schmiegte sich an ihre Mutter. Wir blickten uns einige Zeit an, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht und sie nickte ihrer Mutter zu. Damit war der Vertrag besiegelt, mehr war nicht notwendig gewesen. Wir gingen zusammen die Treppe hinunter und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass dieses kleine Mädchen mir noch viel bedeuten würde.
Ich wurde nicht nur Clarissas Nachhilfelehrerin, sondern auch ihre beste Freundin, der sie sich anvertrauen konnte. Clarissa war ein Schlüsselkind. Sie trug den Schlüssel zu ihrer Wohnungstür immer an einem rosa Band um den Hals. Ihre Mutter, die als Verkäuferin auf der Zeil arbeitete, ging morgens weg und kam erst spät am Abend wieder nach Hause. Ihr Vater war im Außendienst und selten Zuhause. Damit war das neunjährige Mädchen den ganzen Tag auf sich gestellt. Sie fuhr mit dem Fahrrad zur Schule, kochte sich allein Mittagessen und machte anschließend ihre Hausaufgaben.
Ich legte meinen Vorlesungsplan an der Uni so, dass ich nachmittags zu ihr fahren konnte. Wenn ich die Wohnung betrat, war sie aufgeräumt wie bei meinem ersten Besuch. In der Spüle stand das gewaschene Geschirr vom Mittagessen und im Wohnzimmer lagen schon die aufgeschlagenen Hefte. Manchmal war noch Mariechen dabei, ihre Schildkröte, die es sich unter dem Tisch gemütlich machte. Clarissa kannte sich mit der Lebensweise von Schildkröten aus. Sie wusste genau, was sie Mariechen zu Fressen geben durfte und was nicht. Lachend erzählte mir, dass Mariechen manchmal die Fußzehen von ihrer Mutter anknabberte, wenn sie rot lackiert waren, weil sie die Zehen dann für Tomaten hielt.
Clarissa war eine aufgeweckte und intelligente Schülerin, die schnell Zusammenhänge erfassen konnte. Ich begann mich schon zu wundern, warum sie Hilfe bei den Hausaufgaben brauchte. Doch dann erlebte ich eines Tages eine völlig veränderte Clarissa. Als ich zu ihr kam, lag eine tiefe Traurigkeit in ihren Augen. Sie wirkte übernächtigt und unkonzentriert. Plötzlich konnte sie selbst leichte Mathematikaufgaben nicht mehr lösen. Ich erkannte sie nicht wieder und hatte für diese Wandlung keine Erklärung.
Ganz vorsichtig tastete ich mich an sie heran und lernte dabei ihr Geheimnis kennen. Wenn ihr Vater von der Montage nach Hause kam, gab es immer Streit zwischen den Eltern. An manchen Tagen eskalierte der Streit so sehr, dass ihr Vater die Mutter schlug. Trotzdem liebte sie ihren Vater und freuet sich jedesmal, wenn er zurück kam. Ihre Mutter habe ihr erklärt, dass sie sich streiten, weil sie zu unterschiedlich sind. "Sie kommen von verschiedenen Planeten. Meine Mutter ist von der Venus und mein Vater ist vom Mars", erzählte sie mir und schaute mich dabei mit ihren großen ernsten Augen an, als wollte sie sagen, so ist das Leben halt. "Ja, so wird es sein", antwortete ich, weil ich ihre Illusion nicht zerstören wollte.
Eines Abends klingelte es spät an meiner Tür. Als ich öffnete, stand eine frierende und zitternde Clarissa vor mir. Ihre Eltern hatten sich wieder gestritten, und sie war davon gelaufen. Allein, mitten in einer Regennacht. Ich wickelte sie in eine Decke und ging in die Küche, um eine heiße Schokolade zu kochen. Während ich die Milch auf der Herdplatte erwärmte, dachte ich mit Schrecken daran, dass dieses neunjährige Mädchen ganz allein mit Bus und U-Bahn durch die ganze Stadt gefahren war.
Ich rief ihre Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass Clarissa bei mir war und ich sie bis morgen hier behalten würde. Nur zögerlich willigte sie ein. Wir schliefen zusammen in dem schmalen Bett. Bevor sie einschlief, fragte sie mich: "Hast du einen Freund?" "Ja". "Streitet ihr euch auch?" "Manchmal schon". Mit dieser Antwort war sie zufrieden. Es war nicht viel, aber es genügte doch, um in der Dunkelheit vertrauensvoll die Augen zu schließen. Sie schlief schnell ein.
Ich konnte in dieser Nacht kein Auge zumachen, denn ich grübelte lange über ihre Frage. Hätte ich ihr antworten sollen, dass es nicht normal ist, wenn sich ihre Eltern ständig streiten und schon gar nicht, dass ihr Vater ihre Mutter schlug? Wie hätte sie mit dieser Antwort weiterleben können? Ihr Vertrauen in die Welt wäre zerstört gewesen. Stattdessen lebte sie in der Zuversicht, dass diese schlechten Tage und Nächte Teil des Lebens waren und es nach einer dunklen Nacht immer wieder einen hellen sonnigen Tag gab.
Ihre Eltern schienen sich trotz allem zu lieben, und ich war auch sicher, dass ihr Vater Clarissa niemals schlug. Lange schaute ich auf den kleinen, zerbrechlichen Körper neben mir, der so vieles zu tragen hatte. Am nächsten Morgen war sie wieder fröhlich und freute sich, dass ich sie mit dem Auto in die Schule fuhr. Langsam begann ich, das Leben mit Clarissas Augen zu sehen. Es war viel einfacher, mit der Gewissheit zu leben, dass alles einen Plan und seinen Sinn im Leben hatte und dass kein Schmerz so groß sein konnte, als dass er nicht zu überwinden gewesen wäre.
Wenn wir mit den Hausaufgaben fertig waren, gingen wir auf die Wiese, um Klee und Löwenzahn für Mariechen zu sammeln, oder wir fuhren mit den Fahrrädern durch die Felder ins nahe gelegene Steinbach, einer Kleinstadt nördlich von Frankfurt. Dort gab es Streuobstwiesen, Bauernhöfe und Pferdekoppeln. Clarissa liebte Tiere und sie war fest entschlossen, Tierärztin zu werden.
Zwei Jahre lang nahm ich Nachhilfe bei Clarissa. Ich lernte Lebensmut, Vertrauen und Tapferkeit. Dann trennte sich mein Leben von ihrem. Ich hatte mein Studium beendet, und meine erste Arbeitsstelle lag in einer anderen Stadt. Clarissa schenkte mir zum Abschied ein rotes Herz aus Krepppapier, das eine kleine Öffnung mit einer Tür hatte. Dahinter verbarg sich ein Glückskäfer aus Schokolade.
Der Abschied fiel mir schwer, obwohl ich wusste, dass ich mir um meine kleine Philosophin keine Sorgen machen musste. Eines Tages würde sie mit ihrem Glauben an den richtigen Weg die Situation zu Hause ändern können, da war ich mir ganz sicher. So wie sie mein Herz geöffnet hatte, konnte sie auch das ihrer Eltern öffnen. Ich hatte also keine Angst um ihre Zukunft.
Und doch dachte ich immer wieder an Clarissa, und als ich eines Tages, viele Jahre später, wieder auf Verwandtenbesuch in Frankfurt war, hielt ich es nicht mehr aus. Ich fuhr in die Nordweststadt zu ihrem Hochhaus. Als Erstes fiel mir auf, dass der Spielplatz verschwunden war. An seiner Stelle stand ein mehrstöckiges Parkhaus für die Besucher der nahe gelegenen Klinik. Die Fassade des Hochhauses war jetzt Schwarz von Schmutz der Stadt. Viele Fenster hatten keine Vorhänge und starrten wie tote Augen in die Welt.
Ein alter Mann kehrte vor der Haustür das welke Laub zusammen. Ich erkundigte mich nach Clarissa und ihrer Familie. Er zuckte teilnahmslos die Schultern. Ich deutete auf das Parkhaus und fragte ihn "Wo spielen die Kinder jetzt?" "Es gibt hier fast keine Kinder mehr. Die meisten Mieter mit Kindern bleiben nur wenige Monate, dann ziehen sie in eine bessere Gegend. Schauen Sie mal hier unten die Wohnungen. Sie haben die Mauer vom Parkhaus direkt vor dem Fenster. Es kommt keine Licht und keine Sonne mehr in die Wohnungen. Die Miete haben sie schon heruntergesetzt, aber trotzdem will hier keiner einziehen".
Ich ging ins Haus und fuhr in den obersten Stock hoch. Dann stellte ich mich ans Fenster und schaute auf die Felder nach Steinbach. In der Ferne konnte ich Pferde erkennen, die wild und ausgelassen über eine Koppel sprangen. Wenn ich mich anstrengte und den Blick ganz fest auf die Koppel richtete, dann konnte ich am Horizont auch ein Mädchen mit langen dunklen Haaren erkennen.
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Katharina Kowalczyk, "Meine Freundin"
Vielleicht ist sie noch sauer, auf die Sozialkasse und auf das Gericht. Vorgestern war die Verhandlung und die Entscheidung fiel zu Ungunsten aus. In ihrer letzten E-Mail schrieb sie, dass sie deshalb stinksauer ist und im Moment keine Lust hat, zu mailen. Sie liess es nicht aus, mir noch ein paar, an die besagten Institutionen gerichteten, Schimpfwörter mitzuteilen und das war es. Spätestens morgen jedoch wird sie mir wieder schreiben. Das weiss ich, denn seit nun mehr als neun Jahren mailen wir fast taeglich aneinander.
Kennengelernt haben wir uns auf dem Schulweg. Sie fragte mich nach meinem Geburtstag. Der vierte März. "Das ist auch mein Geburtstag", sagte sie. "Hm, eine originelle Art der Anbiederung", dachte ich. Ich war damals sehr von mir überzeugt, als siebenjährige Klassenbeste. Nicht nur in allen Fächern, auch in den sportlichen Disziplinen war ich stets die Erste.
Bis zu diesem Tag, als sie mich beim 600 m Lauf kurz vor dem Ziel überholte. Da habe ich nach ihr gegriffen und sie festgehalten. Für diese Reaktion schäme ich mich bis heute. Aber wenn dies der Beginn unserer Freundschaft war. Ich hatte mich im Bus, auf der Fahrt vom Sportplatz, zu ihr gesetzt und mich bei ihr für meine Überheblichkeit entschuldigt. Sie hat mir auf der Stelle verziehen.
Bis zum 13. Lebensjahr wohnten wir in gegenüberstehenden Häusern. Abends sassen wir am Fenster und haben einfach nur zueinander rüber geguckt. Reden war nicht möglich, uns trennte eine der Hauptstrassen Elbings, die Strasse des ersten Mai. Laut, da durch eine bimmelnde Strassenbahn befahren.
Dann sind meine Eltern nach Deutschland abgehauen. Und haben mich Gott sei Dank mitgenommen. Als ich ihr am Tag vor der geheimen Abreise von unserem Vorhaben erzählte, hat sie geweint. Ich nicht, denn ich wollte schon immer nach Deutschland. Zunächst haben wir uns Briefe geschrieben. Heute mailen wir. Telefoniert haben wir nie.
In unserer Korrespondenz haben wir viel gestritten, ueber die Unterschiede des Lebens in Ost- und Westeuropa. Mittlerweile bekomme ich sogar hin und wieder eine E-Mail von ihrer Tochter. Sie ist jetzt genauso alt wie ihre Mutter damals, als ich sie kurz vor der Ziellinie festhielt.
Diese unschöne Geste hat mich jedoch letztendlich nach vorne gebracht, denn meine Freundin ist gleichzeitig meine Wurzel. Sie ist die einzige Person, die ich in Elbing, meiner Heimatstadt noch kenne. Auch wenn sie nicht mehr an der Strasse des ersten Mai wohnt. Aber ich träume oft von ihr, wie sie am Fenster sitzt und zu mir herüber schaut.
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Gabriele Neumaier (61 Jahre alt) , "Die falsche Oma"
Maria S., die ich Oma nannte - war die Stiefschwester meiner Großmutter Emma. Sie war klein, schmal gewachsen, aber drahtig, mit dunklem, geflochtenem Haar, das sie mit zahllosen Haarnadeln wilhelminisch streng an ihrem Hinterkopf befestigte. Als ich geboren wurde, waren ihre Haare allerdings schon schlohweiß, und sie selbst noch kleiner, weil sie, wie sie es ausdrückte, dem Boden zu wuchs wie ein Kuhschwanz.
Als Kind musste sie die Schuhe der zwei Schwestern auftragen, obwohl ihr Vater Schuhmacher in St. Märgen war, einem kleinen Dorf im Hochschwarzwald. Diesem Umstand schrieb meine "Oma" es zu, dass sie später riesige Füße hatte, Schuhgröße 42, vier Nummern größer als meine, wo ich sie doch schon mit 16 Jahren um mehr als zwei Köpfe überragte!
Mit 14 Jahren verließ meine "Oma" ihr Vaterhaus, um 20 Meter weiter Küchenhilfe im Hotel "Goldene Krone" zu werden, in dem, wie sie später mit Stolz erzählte, berühmte Philosophen wie Heidegger, Künstler wie der Barockmaler Matthias Faller und viel später das gesamte Filmteam vom "Schwarzwaldmädel" untergebracht waren. Dort verdiente sie als einfache Magd außer der Kost nur 50 Pfg im Jahr, ausgezahlt am "Steffesdag", dem Zweiten Weihnachtsfeiertag.
Als sie 18 war, musste sie bei der Anpflanzung eines kleinen Waldes auf dem heiligen Berglein "Ohmen" mithelfen, dem Landbesitz des Hotels, das früher der Gasthof des Klosters war. Meine "Oma" war tief katholisch, aber nie fundamentalistisch. Jahre später, mit über sechzig, war sie die einzige, die mich vor einem Priester beschützte, der mich im Alter von zwölf Jahren abgegrapscht und abgeküsst hat, wenn er dazu Gelegenheit fand.
Sie war mir "Schutz und Schirm", wie es in einem alten Marienlied heißt. Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs verlor sie ihren Verlobten, ihre große Liebe, mit dem zusammen sie im Nachbarort Buchenbach ein Kolonialwarengeschäft betreiben wollte. Die Feldpostkarte mit der Todesnachricht halte ich heute noch in Ehren. In ihr steckt all ihre Trauer und Verlassenheit, einige Worte sind tränenverschmiert.
Und so blieb sie allein. Fräulein Maria. Einen anderen wollte sie nicht, obwohl der eine oder andere an ihre Tür klopfte. In den Zwanziger Jahren wurde sie von ihrer Stiefschwester Emma in deren Gasthaus "Zum Rößle" geholt. Dort lebte sie zusammen mit ihrem "Schwager" Hermann und den vier von acht Kindern, die überlebten. Ende 1920 starb der Familienvater. Die Gäste in der Wirtschaft, die Tiere im Stall, Feld, Wald und Wiesen mussten gehalten und bewirtschaftet werden von zwei Frauen - meiner "Oma" und meiner Großmutter - mit vier kleinen Kindern, einem Knecht, einer Magd und einer Bedienung aus dem Dorf.
Emma, die ich nie kennen lernen durfte, starb zwei Tage vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. An ihrem Totenbett versprach ihr meine "Oma", die Kinder an Mutter- und Vater statt in ihrer vertrauten Umgebung zu erziehen. Als ich erwachsen war hat sie mir erzählt, was meine Großmutter schon lange vor ihrem Tod zu ihr gesagt hat: "Hitler wird die Kreuze verbiegen, die Kirchturmglocken vom Glockenstuhl holen und eine schlechte Zeit bringen".
In den Dreißiger Jahren zitierten die Nazis meine "Oma" Maria auf die Kommandantur. In ihrem Lokal würde über den "Heuberg" geredet - ein Konzentrationslager auf der Schwäbischen Alb - auf den jeder käme, der zu lose spräche, lautete der Vorwurf. Auch grüße sie nicht mit "Heil Hitler". Oma fuhr daraufhin mit dem Ochsen-Gespann über 10 km bis ins "Himmelreich", von dort mit dem Zug nach Freiburg, nahm den schweren Schlüsselbund mit allen Schlüsseln des Gasthauses Rößle, legte ihn auf den Tisch und sagte: "Do hänner alles unn nu vier klaini Waisäkinder däzue. - Da habt ihr alles und noch vier kleine Waisenkinder dazu."
Obwohl sie auch weiterhin nie das "Hitlerzeichen" machte und in ihrem Gasthaus subversive Gespräche vermutet wurden, ließ man sie von Stund ab in Ruhe. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs versteckte sie meinen künftigen Vater, einen Deserteur, über ein Jahr in einem Bienenhäuschen. Sie hielt zu meiner Mutter, als diese mit mir 1947 in einem hoch katholischen Dorf ledig schwanger wurde, aber mein Vater auf der Suche nach seinen Angehörigen in Norddeutschland und seinen Papieren in der englischen Besatzungszone in Hannover stecken blieb.
Nachdem sie 1962 siebzig Jahre alt wurde, gab sie mir jedes Jahr 300 D-Mark, damit ich mir ein anständiges "Gewand" für ihre Beerdigung kaufen könne. So kam ich zu meiner Lieblingsfarbe schwarz. Jedes Mal, wenn ich später aus meinem Studienort wieder nach Hause kam, holte sie aus ihrem schönen Bauernschrank hinter den Trachten und den seidenen Schürzen, die ich oft durch die Finger gleiten ließ, weil sie so schön funkelten im Licht, eine Flasche Cointreau hervor und wir tranken gemeinsam auf unser Wiedersehen.
Sie roch nach "Atrix", mit der sie ihre großen, rissigen Hände pflegte, nach Seife und nach "Birkin", das sie sich in ihre Kopfhaut einmassierte in der Hoffnung, ihr Haar würde umso kräftiger nachwachsen. Die Haare, die ich ihr beim "Zopfmachen" später auskämmte, versteckte ich geflissentlich und zeigte ihr nur die nachwachsenden, über die sie sich kindlich freute, die allerdings einfach nur abgebrochene Haare waren.
Jeden Abend betete sie um einen guten Tod. Als dieser fast 92 Jahre gewartet hatte, schließlich kam und sanft zu ihr war, stand ich hochmodisch gekleidet in Schwarz an ihrem Grab.
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Carola Esch, "Meine Töchter"
Beim Nachdenken über das Thema sind mir einige Frauen eingefallen, die Spuren in meinem Leben hinterlassen haben. Aber am stärksten bin ich wohl von meinen beiden jetzt erwachsenen Töchtern geprägt worden. Zumal sich dieser Prägungsprozess langsam, man könnte sagen schleichend, über Jahrzehnte vollzogen hat.
Dabei ist bei mir so manche Wunschvorstellung, was Kindererziehung anbelangt, auf der Strecke geblieben. Der Wunsch, dass meine Vorstellungen vom Leben übernommen werden, dass ich mit ihnen über alles würde reden können. Ich habe mich auf das Älterwerden der kleinen Kinder gefreut, da sie dann reif wären für Gespräche, wie ich sie mir gewünscht hätte. Leider hatte ich nicht bedacht, dass das Älterwerden auch mit der schwierigen Zeit der Pubertät zusammenfällt.
Also war wohl eher wieder ich es, die geprägt wurde, manchmal auch durch Sätze, die mich tief verletzt haben: "Ich bin froh, wenn ich alt genug bin, um endlich zu Hause ausziehen zu können." Manche Bestätigung kam spät: Als meine ältere Tochter im Gymnasium im Sozialkunde-Unterricht das Thema "autonomes Gewissen" besprochen hat: Nach meinen Schilderungen über die Erziehungsfehler meiner Eltern hat sie mir geantwortet, dass in meiner Erziehung wohl nicht alles falsch gelaufen sei, denn dann hätte ich nicht dieses autonome Gewissen. Diese Aussage hat sie gemacht, nicht ahnend, was für eine Bestätigung das für mich bedeutete.
Oft habe ich meine Mutterpflichten verwünscht, weil mich die Begleitung meiner Töchter viel Zeit und Kraft gekostet hat, Ressourcen, die ich nicht in mein berufliches Fortkommen investieren konnte. Träume, mich selbst und meine Weiterentwicklung betreffend, blieben unerfüllt. Im Laufe der Zeit ist mir klar geworden, dass ich den "höchst möglichen Erkenntnisstand" in meinem Leben auch ohne Studium und optimale Bedingungen anstreben kann.
Eigene Stärken und Schwächen habe ich bei meinen Töchtern wiedergefunden, oft mit Freude, oft mit Erschrecken. Weitergeben konnte ich, wie auch aus Schwächen Stärken erwachsen können und man manche (vermeintliche) Stärke nicht braucht. Die Widerstände, die mir meine Töchter entgegengesetzt haben, sind zu späten Früchten gereift. Sie haben mir geholfen, die Empathie zu entwickeln, die ich haben möchte und die mich dazu gebracht hat, mit Jugendlichen zu arbeiten.
Es gibt noch wichtige Frauen in meinem Leben, die mich auf meinem beruflichen Weg weitergebracht haben, aber, wie gesagt, am nachhaltigsten bin ich von meinen Töchtern geprägt worden.
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Ich kenne jede ihrer Sommersprossen, jedes kleine Lachfältchen und die Farbe ihrer Augen, die sich je nach Stimmung von einem gewittrigen Blau in ein glitzerndes Grau wandeln können. Ich kenne die Art, wie sie sich ihre blonden, langen Haare hinter die Ohren streicht und wie sie ihre Nase kraus zieht, wenn sie zuhört, sehr genau. Jeden Tag sehe ich sie und kann sie beobachten, kenne ihre Gedanken, ihre Wünsche und Träume.
Ich weiß, dass sie die Eigenwilligkeit und die Willensstärke von ihrer Großmutter geerbt hat. Diese Großmutter, die Mutter ihrer Mutter, zog nach dem Tod ihres Mannes, ihre vier kleinen Töchter alleine groß und versorgte, der Dorfgemeinschaft zum Trotz, einen ganzen Bauernhof aus eigener Kraft. Sie war es, die morgens die Kühe auf die Weide führte, die sich selbst vor den Pflug spannte, das Kartoffelfeld umgrub und abends ihren Töchtern eine Suppe kochte.
So war auch sie es, die hochschwanger von dem durchgegangenen Ochsen auf dem Acker mitgeschleift wurde und trotzdem, sie dankte es Gott, ein gesundes Mädchen gebar. Auf dem selben Acker war es, auf dem ihr die volle Börse mit Milchgeld, ihr gesamtes Bargeld, aus der Schürze glitt, im frisch gepflügten Boden verschwand und erst beim silbrigen Schein des Mondes wieder ausgegraben wurde. Sie war es, die mit bloßen Händen nicht nur die Kartoffeln aufglaubte und den Kuhstall ausmistete, sondern auch eine Brandbombe aus der Scheune trug.
Doch einmal war sie nicht nur auf sich selbst angewiesen, die Heilige Walburga trieb ein bisschen Geld auf und half in letzter Minute, den Hof vor der Zwangsversteigerung zu bewahren. Den Spöttern lehrte die Großmutter das Staunen, indem sie auf das Rad des Aufschwungs aufsprang und drei Mietshäuser baute. Das Land, auf dem ihr einst der Großvater eine Mohnblume pflückte und ins braune Haar steckte, auf dem Kartoffelfeuer entzündet und Getreide ausgesät wurden, das Land, dessen jeden einzelnen Grashalm sie kannte, hat sie ihren Töchtern und Enkeln erhalten.
Ihre Großmutter ist 96 Jahre alt geworden und der Duft nach selbstgebackenen Knieküchle und Johannisbeersaft umwehte sie genauso wie der Geruch nach Weihwasser und Rosenkranzgebeten. Bis zuletzt leuchteten bis weit nach Mitternacht die erhellten Fenster des alten Bauernhauses wie beschützende und wachsame Augen den Enkelkindern den sicheren Heimweg.
Von der Großmutter, der Mutter ihres Vaters hat sie den Mut und die Treue geerbt. Ihre Großmutter flüchtete ohne Mann, dafür mit drei kleinen Kindern aus der Slowakei nach Deutschland. Kaum waren die Kinder sicher hinter der Grenze, ließ sie sie nachts in der Obhut des ältesten Sohnes, machte sich die Dunkelheit zum Freund und den Wald zum Verbündeten und durchquerte ihre einstige Heimat und derzeitiges Feindesland. Auf dem Rücken trug sie ihren Hausstand in die neue Heimat.
Der Schutzengel, in Öl auf einer eineinhalb mal einmeter großen Leinwand gemalt, beschütze sie. Und als es einmal in der Nacht fast tonlos an der Tür pochte und der Großvater, zu Tode erschöpft, den Waldboden auf Jacke und Hose tragend, davor stand, baute sie ihm im Kohlenkeller ein Versteck aus Brennholzscheiten vor den Partisanen. Sie sagte sich, das Leben ist ein Kasperletheater, und spielte ihre Rolle als verzweifelte Ehefrau mit vermissten Mann auf der kleinen Bühne ihres Lebens.
So weinte sie nachts mit den Kindern um ihren Vater, behielt bei der Hausdurchsuchung durch die Verfolger die Nerven und brachte, als die Soldaten weg und die Kinder im Bett waren, in aller Ruhe dem Großvater Abendessen. Das Haar ihrer Großmutter wurde so weiß wie die unzähligen Maiglöckchen im Schwarzwald. Das Haus, in dem sie geboren wurde, das Dorf, in dem sie wohnte, die Kirche, in der sie geheiratet hat, hat sie nie wieder gesehen, aber dennoch war sie glücklich, in dem kleinen Häuschen im Schwarzwald, das sie sich erspart hatten.
Sie war dankbar für die schönen Momente, die ihr das Leben geschenkt hatte und war sich sicher, dass es so, wie es gekommen war, gut war. Zum Abschied auf der Holzbank vor dem Haus flatterte ein weißes Taschentuch in den gichtigen Händen und der Sterz duftete, den sie ihn in einer Tupperdose dem Postboten mit auf den Weg gab. Ihre Mutter hat ihr ihre Lebendigkeit und das Leuchten der Augen vererbt. Den Pragmatismus und die Ehrlichkeit, das Unbequem-Sein und die Fantasie. Ihre Mutter ist mit ihr auf Steckenpferden zu verwunschenen Waldseen geritten, hat die Brombeerkönigin besucht und ist mit einer Rakete und dem Peterchen auf den Mond und die Milchstraße entlang geflogen.
Die Lateinvokabeln folgten auf die sonntäglichen Kinder-Klassik-Konzerte. Sie hat das richtige Gespür für Nähe und Distanz zur richtigen Zeit, lobt und ermahnt, bestärkt und erdet, wenn es nötig ist. Für einen Kaffee hat sie immer Zeit, bringt den selbstgebackenen Kuchen dazu gleich mit und putzt bei der Gelegenheit noch rasch die Fenster. Sie lässt sich nicht einengen und räumt doch zugleich ihrer Familie einen großen Platz in ihrem Leben ein. Sie ist Verbündete und Mitwisserin, Anstifterin und treibende Kraft, sie ist Lehrerin, Freundin und einfach Mama.
Die Parzen verweben diese Lebensgeschichten im Teppich des Lebens mit den Liedern von Traum und Tod und legen aus der Zeit ein Bild von Mosaik. All diese Eigenschaften und ein paar mehr machen sie, die Sommersprossige, zu dem was sie ist, zu dem was ich bin, mich zu der Frau meines Lebens.
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B. Spring, "Helga"
Vor ziemlich genau 25 Jahren, als die Frage nach meiner Berufswahl mehr Konsequenz von mir verlangte, entschied ich mich für die Institution, die mir das Leben jahrelang schwer gemacht hatte und schrieb mich an den Münchner Universitäten für das Lehramt an Realschulen ein, und zwar für das Fach Hauswirtschaftswissenschaft.
Frau Helga T. lernte ich bei der ersten Fachstudienberatung kennen, eine resolute Frau, die den Studierenden bereits beim ersten Kontakt vermittelte: Studieren Sie Hauswirtschaftswissenschaft, aber machen Sie sich auf viel Arbeit, hohe Anforderungen und einen harten Kampf in diesem Fach gefasst.
Hart sollte der Kampf werden, nicht, weil hier mehr Leistung gefordert wurde und ein höheres Anspruchsdenken herrschte als in anderen Fächern, sondern weil das Fach Hauswirtschaft, wie das Unterrichtsfach damals an den Schulen noch genannt wurde, gesellschaftlich wenig Anerkennung fand und noch heute findet, keine Lobby hat und von den sogenannten „wissenschaftlichen" Fächern in den Hintergrund gedrängt wurde und wird.
Frau T., die selbst aus der praktischen Ausbildungsrichtung kam, hatte schon früh erkannt, dass der Unterricht im Fach Haushalt und Ernährung (das ist heute die offizielle Bezeichnung des Unterrichtsfachs an Realschulen) sich nicht auf die Vermittlung von Kochkenntnissen beschränken darf, so wie das lange Zeit an den Schulen praktiziert wurde.
Sie forderte stets, dass die Schüler an den Schulen den zentralen Stellenwert der Hauswirtschaft für die persönliche Lebensführung erkennen und im Hinblick auf Gesundheit sowie ökologischen und ökonomischen Aspekten umsetzen müssen, wobei den Lehrkräften natürlich eine besondere Bedeutung bei der Vermittlung der Erkenntnis zukommt. Als Mitglied der Lehrplankommission brachte sie viele ihrer teils revolutionärer Ideen in die noch heute gültigen Lehrpläne ein.
Ich lernte unsere Dozentin kennen als Verfechterin einer gesunden Lebensführung, die uns Studentinnen vor mehr als 20 Jahren mit Werten konfrontierte, die heute nicht mehr außergewöhnlich sind, damals jedoch, als Naturkost und Lebensmittel aus biologischer Erzeugung ein beinahe unbedeutendes Randsortiment darstellten, für mich als „Landei"neu waren: Lebensmittel sollten - so weit möglich und sinnvoll - aus biologischem Anbau stammen, von regionaler Herkunft und frisch sein.
Ich habe von Frau T. gelernt, dass Fix-Produkte und vorgefertigte Nahrungsmittel in einem Haushalt ein Schattendasein führen müssen und in Schulküchen nichts zu suchen haben. Frisch zubereitete Speisen aus frischen Lebensmitteln von bester Qualität verheißen höchsten Genuss, ohne dass man nur auf teure Produkte zurückgreifen muss. Klasse statt Masse, lautete ihre Maxime, und: weniger ist mehr.
Nach diesen Grundsätzen wurde auch in ihren Seminaren gearbeitet, wobei Traditionen, Jahreszeiten, Kosten und persönlich Vorlieben und Probleme (wie meine vielfältigen Lebensmittelallergien) stets Berücksichtigung fanden. Sie forderte uns mit manchmal fast unlösbaren Aufgabenstellungen heraus, belohnte jedoch Leistung und Kreativität stets mit Lob und Anerkennung und am Ende des Studiums auch mit entsprechend guten Noten.
Stets motivierte sie uns, unkonventionelle Wege zu gehen, zu hinterfragen, Standpunkte zu beziehen. Über die wissenschaftlichen Inhalte der Seminare hinaus war Frau T. für uns Hand voll junger Frauen nicht nur Dozentin, sondern auch Beraterin in allen Lebensfragen. Unsere „Helga", wie wir sie beinahe liebevoll unter uns nannten, war Ansprechpartnerin in Partnerschaftsfragen, Ratgeberin in wirtschaftlichen und sozialen Angelegenheiten.
Auch für politische Diskussionen war sie stets bereit, Zeit in den Seminaren zu opfern unter der Voraussetzung, dass wir zu Hause Stoff nacharbeiteten. Private Unternehmungen wie Café-Besuche oder sogar ein Ausflug nach Salzburg mit anschließendem Besuch in ihrem Wochenendhaus trugen ebenso zu einer guten Atmosphäre bei wie ihr Verständnis für unsere Ängste hinsichtlich der Prüfungen und der beruflichen Zukunft.
Was ich Frau T. verdanke: Sie hat mir didaktisches Wissen in Theorie und Praxis vermittelt, von dem ich in meinem zweiten Unterrichtsfach niemals erfahren habe; aber viel profitiere. Mein Handwerkszeug als Lehrerin habe ich von ihr gelernt. Neben fachwissenschaftlichen Inhalten hat sie mir Werte vermittelt, die mein Berufsethos geprägt haben, deren Weitergabe an Schüler über die Lehrpläne hinaus für mich noch heute von zentraler Bedeutung ist und die ich auch in meiner Familie lebe.
Frau T. hat den Studentinnen immer gepredigt: „Lassen Sie sich nichts gefallen, von niemandem. Kämpfen Sie für Ihr Unterrichtsfach!" Sie hat uns gelehrt, aufmüpfig zu sein und gleichzeitig mit Leistung zu brillieren, uns durchzusetzen in einer von Männern beherrschten Gesellschaft. Dieser Anspruch ist hoch.
Liebe Frau T., nachdem mein Kontakt zu Ihnen vor einigen Jahren leider eingeschlafen ist, möchte ich an dieser Stelle diese Worte als Dank an Sie richten, vielleicht lesen Sie sie zufällig: Sie haben für Ihre Arbeit eigentlich einen Orden verdient. Ich war eine sehr gute Studentin, ich habe gekämpft für das Fach Haushalt und Ernährung und für mein berufliches Fortkommen, ich habe mich mit Schulleitern und Ministerialbeamten angelegt und mit Leidenschaft meine Standpunkte vertreten.
Und dennoch bleibt stets ein fader Nachgeschmack: Habe ich mich vehement genug für meine Ziele, für unsere Ziele eingesetzt? Was bleibt, ist, dass Sie mir ein Vorbild sind.
Foto von Gabriele Neumaier: "Meine Oma Maria und ich 1948"