Goethes Gretchen: hier gespielt von Shantia Ullmann, im Hemdchen und herzig.
Es war am Ende der Schauspielausbildung, als jeder von uns eine Rolle einstudieren sollte, die weit weg lag von seinem Temperament, und ich hatte mir das Gretchen ausgesucht: Sie ist zart und rein, naiv und gläubig – ein Rosenresli. Einmal so sein, das hat mich sehr gereizt.
Noch einmal war die Probebühne des Mozarteums in Salzburg unser Schutzraum. Drei Jahre hatten wir neun Schauspielschüler hier improvisiert und Rollen studiert, geschrien, getobt, geliebt, uns ausprobiert unter den Blicken des Schauspiellehrers, der unser Regisseur war. Bald sollten wir ins Engagement an die Theater, bald würden uns Fehler nicht mehr so leicht verziehen wie hier. Nun war ich dran mit der Schlussszene im Faust: Gretchen sitzt im Kerker, wartet auf ihre Hinrichtung, die Mutter tot, der Bruder tot, ihr Kind hat sie umgebracht, dem Wahnsinn ist sie nahe, was für ein Stoff!
Was habe ich mich abgerackert, mich in Gretchens Wahnsinn gesteigert, in ihre Verzweiflung, ihre Todesangst. Nur: Keine Sekunde habe ich mir meine
Not geglaubt. Dazu dieser verquere Satz: »Weh! Weh! Sie kommen. Bitt’rer Tod.«
Wegen dieses Satzes habe ich den Beruf hingeschmissen.
Immer und immer wieder bin ich über diese Worte gestolpert. Schon während ich sie aussprach, habe ich mich gefragt: Wer soll dir deine Not eigentlich glauben? Genauso gut hätte ich sagen können: »Huch, wo ist mein Hausschlüssel?« Kein Unterschied wäre da gewesen.
Der Wahrheit eine Gasse: Ich habe mich nicht selbst aus dem siebten Himmel holen müssen, die Überraschung, für diesen Beruf vielleicht doch nicht berufen zu sein, zeichnete sich ja in den Jahren auf der Schauspielschule bereits ab, weil man ständig in seinen Gefühlen und Gedanken wühlt, weil man singt und steppt und ficht und sich dauernd mit seiner Stimme, seinen Ängsten, seinem Körper beschäftigt.
Wer ein bisschen ehrlich war zu sich, wusste, wo er stand. Und doch kann die Leidenschaft für diesen Beruf mangelndes Talent eine Weile gut überdecken. Ich fand lang keine Antwort auf die Frage, was mir fehlte: Talent oder Leidenschaft.
Mit dem Gretchen war ich so grausam gescheitert, dass ich beschloss, nicht Schauspielerin zu werden.
Die Angebote, an die Theater nach Heilbronn oder Krefeld zu gehen, lehnte ich ab. Da war mir fast so schwer ums Herz wie Gretchen im Kerker. Hieß es doch Abschied zu nehmen nicht nur von einem Beruf, sondern von einem Traum, ja, von einem Leben. Es gibt Momente – und dieser jetzt gehört dazu –, da schmeißt mich die Sehnsucht nach dem Theater immer noch um. Und ich weiß bis heute nicht, warum.
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Helmut. Helmut Zhuber und ich waren in derselben Schauspielklasse; im Gegensatz zu mir wurde er ein großer Schauspieler, er war zum Beispiel am Thalia Theater in Hamburg engagiert und wurde einmal hinter Bruno Ganz zum besten Theaterschauspieler Berlins gewählt. Nun ist er ans Mozarteum zurückgekehrt – als Schauspielprofessor.
Helmut, warum bin ich damals am Gretchen gescheitert?
Vielleicht, weil du versucht hast, Gretchens Wahnsinn zu spielen, statt gegen ihn anzuspielen. So wie eine Szene mit einem Betrunkenen nur funktioniert, wenn der Schauspieler gegen das Betrunkensein anspielt.
Was hättest du mir geraten?
Gretchen selbst hält sich ja nicht für wahnsinnig, sie ringt um den Rest ihrer geistigen Gesundheit. Diesen Kampf zu zeigen, das wäre es gewesen. Gretchen kann auch zum Beispiel immer wieder etwas für das Kind tun wollen, es streicheln, hochheben, weil sie nicht kapiert, dass es tot ist. Das sind Möglichkeiten, den Wahnsinn sichtbar zu machen. Vor allem aber hättest du darauf vertrauen sollen, dass Goethe diese letzte Szene schon sehr gut geschrieben hat.
Glaubst du, dass ich für diesen Beruf begabt war?
Ja, sehr. Und du bist deiner Begabung nicht gerecht geworden, du hast zu früh aufgegeben. Und daran hast du bis heute zu knabbern, sonst würdest du diesen Text nicht schreiben.
Foto: Landestheater Salzburg