In ihrer zweiten Woche im Feldlager lernt Maren Schulz*(*Namen aller Soldatinnen im Einsatz geändert), was ein »Search Girl« machen muss. Sie stellt sich an eine Wand, und Hauptfeldwebel Nadine Luter erklärt ihr, wie sie Menschen nach Sprengstoff abtastet: »Mach vorher ein Codewort aus«, sagt sie. »Wenn du ein Kabel spürst, sag ›Erbsensuppe‹ – dann weiß deine Kameradin, hier ist was los.« Search Girls sind Soldatinnen, die an den Eingängen des Feldlagers afghanische Mitarbeiterinnen des Camps, Übersetzerinnen oder Putzhilfen, nach Waffen durchsuchen. Codeworte wie ›Erbsensuppe‹ sind üblich für den Fall, dass doch jemand Deutsch versteht. Würde Hauptfeldwebel Nadine Luter das Codewort hören, liefe alles ab wie im Film: Nicht bewegen! Hände hinter den Kopf!
»Und was, wenn die Frau eine Burka trägt?«, fragt Maren Schulz. »Die muss vor dem Durchsuchen runter«, sagt Nadine Luter. »Vergiss nicht: Viele afghanische Frauen tragen eine große Glasscherbe in der Mitte ihres BHs, um sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Die müssen sie auch abgeben.« Jede Soldatin in Camp Marmal ist einmal pro Woche mit dem Search-Girl-Dienst dran, auch wenn sie wie Maren Schulz, 35, eigentlich bei den Sanitätern arbeitet: Nur Frauen dürfen Frauen abtasten, aber unter den deutschen Soldaten in Afghanistan gibt es zu wenige, 206 von 4799.
Camp Marmal nahe Masar-i-Scharif, am Fuß des Hindukusch, ist das größte Feldlager der NATO-Verbündetentruppe ISAF im nördlichen Afghanistan, 430 Kilometer von Kabul entfernt. Das Lager: eine kleine Stadt aus Baracken, Containern, Zelten, Stacheldraht, Mauern aus Sandsäcken, über fünf Kilometer lang, zwei Kilometer breit. 8500 Soldaten sind in Camp Marmal stationiert, aus den USA, Kroatien, Albanien und anderen NATO-Staaten, darunter 3500 der 4799 Soldaten, die Deutschland nach Afghanistan geschickt hat. 153 von ihnen sind weiblich; Maren Schulz’ Kompanie besteht aus 42 Sanitätern, 40 Männer, zwei Frauen. Panzer rollen, F-16-Kampfflugzeuge ziehen über den Himmel.
Nach der Search-Girl-Einweisung hastet Maren Schulz zu ihrem eigentlichen Arbeitsplatz, den Hallen der Sanitäter: Ein Luftwaffenairbus mit Medikamenten ist gelandet, sie muss Kisten voller Schmerzmittel und Antibiotika katalogisieren und an die anderen ISAF-Lager im Land verschicken. Auf großen Tischen ordnen die Sanitätssoldaten Berge von Tablettenpackungen. Maren Schulz ist pharmazeutisch-technische Assistentin, seit 13 Jahren Soldatin, geboren in Hamburg, ausgebildet bei der Marine auf Sylt, jetzt wohnt sie in München, arbeitet normalerweise in der Kaserne in der Dachauer Straße, kümmert sich dort um medizinisches Gerät. In Afghanistan ist sie zum ersten Mal.
Am Abend ruft sie von ihrem Büro in den Baracken der Sanitäter zu Hause an – dort ist Nachmittag: Marie, 6, die jüngere Tochter, fragt: »Mama, wann kommst du heim?« – »Du musst noch ganz oft Barbie Club angucken«, antwortet die Mutter.
Diese kleine Begebenheit ließe sich auch so erzählen: Hauptbootsmann Schulz, Einsatzverwendung Feldapotheke im Februar und März in Afghanistan, spricht am Telefon mit Tochter in München über Sendungen auf Super RTL. Kurz: Die Bundeswehr ist im Jahr 2012 angekommen. Sie ermöglicht Männern wie Frauen, Vätern wie Müttern, alleinerziehend oder in Partnerschaften aller Art lebend, eine Laufbahn beim Bund und schickt sie in den Kriegseinsatz nach Afghanistan. Seit 2001 kommen dafür auch Soldatinnen infrage. Davor waren sie lediglich für einige medizinische Berufe im Sanitätsdienst oder bei der Militärmusik zugelassen. Jetzt sind zehn Prozent aller deutschen Soldaten Frauen, 40 Prozent von ihnen in Sanitätsberufen, der Rest beim Heer, der Marine, der Luftwaffe und der Streitkräftebasis. Sie haben, sagt man, die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten wie Männer, gehen auch in Auslandseinsätze. Wie viele der 18 000 Soldatinnen Mütter sind, wird nicht gezählt, wie viele Väter unter den Soldaten sind, ja auch nicht.
Seit die Wehrpflicht im Juli 2011 aufgehoben wurde, muss die Bundeswehr versuchen, ein attraktiver Arbeitgeber zu werden – für Männer wie für Frauen. Und sie strengt sich ziemlich an: Teilzeit- und Telearbeitsplätze wurden eingerichtet, in 36 deutschen Kasernen gibt es schon Eltern-Kind-Zimmer, 200 sollen es werden: Kinder können dort spielen oder Hausaufgaben machen, während die Mutter oder der Vater arbeiten. Sogar die ersten Abpumpräume für stillende Mütter sind eingerichtet worden und Uniformen für Schwangere inzwischen Alltag.
»Ein Feuerwehrmann muss auch in das brennende Haus – er kann nicht jemand anderen schicken«
Deutschland gehört neben Israel zu den wenigen Ländern, die Frauen sogar in den Kampftruppen erlauben. Die Ausbildung zum »Kommando Spezialkräfte«, der Eliteeinheit der Bundeswehr, hat bisher noch keine Frau geschafft, doch Frauen gehören zum sogenannten Unterstützungsbereich des Kommandos und gehen als Logistiker oder Fernmelder mit in den Kampfeinsatz. Trotzdem: »Die Eingliederung von Frauen in die Bundeswehr ist immer noch eine Herausforderung«, sagt Oberleutnant Mona Stuber, eine der 35 Gleichstellungsbeauftragten bei der Bundeswehr. Die Studie »Truppenbild mit Dame« von 2008 zeigt: Zwar ist der Umgangston unter Soldaten im Allgemeinen netter geworden, seit Frauen dabei sind – ein Drittel der männlichen Soldaten aber findet Frauen beim Bund »bedenklich«.
Statt in ihrer Vier-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad lebt Maren Schulz nun zwei Monate in einem Container im Feldlager in Afghanistan, teilt sechs Quadratmeter mit zwei anderen Soldatinnen. Auf die Kinder passt die Oma auf, die Beziehung zum Vater der Kinder zerbrach vor sechs Jahren, nach der Geburt Maries.
Vor zwölf Tagen hat sie sich von Jacqueline und Marie verabschiedet, um halb vier Uhr am Morgen, sie trug ihre Flecktarn-uniform. Von der Straße sah sie zu dem erleuchteten Fenster ihrer Mietwohnung: Da standen die Kinder und die Oma und winkten. »Gut, dass sie nicht weinen«, dachte die Mutter. Ein letzter Blick, ein letztes Winken. Dann ging es los, zum Bundeswehr-Flughafen Köln-Wahn, mit 200 Soldaten im Luftwaffen-Airbus nach Usbekistan, mit der Transall nach Afghanistan.
Auf den Tag, an dem ihr Vorgesetzter sie fragt, ob sie nach Afghanistan gehen will, hat Maren Schulz lang gewartet. Weil sie ihren Beruf liebt, hat sie Ja gesagt, wissend, dass ihre Kinder daran zu knabbern haben würden. Seit 13 Jahren ist sie beim Bund, für 15 Jahre hat sie sich verpflichtet. Schon ihr Großvater und ihr Onkel dienten.
»Ich will aber nicht, dass du gehst!« sagt Jacqueline, 15. »Kann nicht eine andere gehen?« – »Ein Feuerwehrmann muss auch in das brennende Haus – er kann nicht jemand anderen schicken«, antwortete sie.
In den neun Monaten vor ihrem Einsatz in Afghanistan besuchte sie die »Einsatzvorbereitende Ausbildung für Konfliktverhütung und Krisenbewältigung«, kurz »EAKK«, machte Gesundheitstests, die in Bundeswehrsprache »90/5 Verwendungsfähigkeit für Ausland und Tropen« heißen und den Besuch beim Zahnarzt genauso vorschreiben wie die Bestimmung des Body-Mass-Indexes.
Für Kinder von Soldaten bieten die 81 Familienbetreuungszentren der Bundeswehr spezielle Kurse an: »Papa wiedersehen« heißt zum Beispiel einer. Sie organisieren Ausflüge ins »Sea Life« oder Weihnachtsbasare für die, die daheimgeblieben sind. Beim Betreuungszentrum in München durften sich Jacqueline und Marie Pläne und Luftaufnahmen von Camp Marmal ansehen, und ein Soldat erklärte ihnen, wie ihre Mutter essen, arbeiten, schlafen wird. Marie bekam ein Buch und ein Hörbuch: Karl, der Bärenreporter. Der zieht mit einem Soldaten ins Feldlager und schreibt seine Erlebnisse nach Hause. Das Hörbuch hinkt ein wenig der Zeit hinterher, der Bär ist ein Mann, »Soldatinnen« gibt es nicht. Und der Rang Maren Schulz heißt nicht Hauptbootsfrau, sondern Hauptbootsmann.
Sie stellt ihren Kindern vor der Abreise eine Art Adventskalender zusammen: jeden Tag bis zu ihrer Rückkehr eine Kette, Süßigkeiten oder Barbiekleider, 62 kleine Geschenke. Für sich hat Maren Schulz ein Album mitgenommen mit Bildern der Kinder und der Oma. Hinten, in die noch freien Plastiktaschen, hat sie Karten geschoben: die Kurzfassung der Menschenrechte und des Völkerrechts, Verhalten im Fall von Angriffen mit chemischen oder biologischen Waffen, Blutgruppenausweis.
Der nächste Morgen in Camp Marmal, ein Dienstag, acht Uhr. Die Februarsonne scheint, doch es ist so kalt, dass der Atem als Nebel den Mund verlässt: Mit den 41 anderen aus ihrer Kompanie steht Maren Schulz beim Appell, sie ist klein, ihre Kameraden überragen sie um Kopfeslänge. Der Spieß ruft den Soldaten zu, was an diesem Tag erledigt werden muss: Wundversorgungssets und Bergungstücher sind angekommen und sollen eingelagert werden. Auch Sanitäterinnen müssen im Feldlager eine Waffe tragen, eine Heckler & Koch P8, und alle paar Wochen das Lager verlassen für Schießübungen, damit sie sich im Notfall verteidigen können. Doch weil Maren Schulz pharmazeutisch-technische Assistentin ist, muss sie nicht, wie andere Einheiten des Sanitätsdienstes, die Kampftruppen auf Patrouillen begleiten, die gefährlich sein können. Sie kommt mit dem Krieg nur dann in Berührung, wenn große Mengen Blutplasma oder Mittel gegen Schwerstverbrennungen angefordert werden, weil beispielsweise ein Anschlag auf Soldaten verübt wurde. »Zuerst habe ich überlegt, meinen Kindern zu sagen: Ich gehe auf eine Übung für Sanitäter. Wir müssen ja ständig auf Übungen gehen. Aber was, wenn mir wirklich etwas passiert? Dann haben sie immer das Gefühl, ich habe sie angelogen.«
Im Lager gibt es einen afghanischen Markt, »Mazar Bazar« nennen ihn die Soldaten, dort kann man Bauchtanzkostüme kaufen, Schmuck aus Lapislazuli oder kleine Burkas als Dekoration für Flaschen. Mitbringsel, die besonders US-Soldaten lieben. Geschenke für ihre Kinder jedoch findet Maren Schulz im Feldlager-Shop im norwegischen Teil des Lagers, Süßigkeiten und Stofftiere, die sie per Feldpost schicken wird.
Testament und Sorgerechtsverfügung sind für den Notfall vorbereitet
Dann ist Mittagessen, keine besonderen Vorkommnisse. In der deutschen Feldküche gibt es Gulasch, Knödel, Erbsen, Obstsalat mit Sprühsahne, eingeflogen aus Deutschland. Hunderte Soldaten essen an langen Tischen, einige haben ihre Maschinengewehre auf den Boden gelegt. Im Fernsehen läuft die Deutsche Welle, an der Wand hängt eine schwarz-rot-goldene Flagge. Alltag.
Im Lager gibt es keinen Samstag, keinen Sonntag: »Jeder Tag ist Mittwoch«, sagt Maren Schulz. Zur Abwechslung ein bisschen fernsehen, und höchstens mal zwei Bier am Abend zwischen acht und zehn Uhr, mehr erlaubt die »Zwei-Dosen-Regelung« nicht. Die Soldaten sitzen dann zusammen in den Baracken, die den Deutschen als »Betreuungseinrichtungen« dienen, sie heißen »Oase«, »K2«, »Lounge« und »Planet Mazar«. Manchmal verabreden sie sich im amerikanischen Teil des Feldlagers, bei den Containern der Fast-Food-Ketten »Pizza Hut« oder »Burger King« oder sehen den US-Soldaten zu, wie sie sich in ihrem Betreuungszelt bei Ballerspielen auf Flachbildschirmen gegenseitig bekämpfen.
Wie die meisten Soldaten spricht auch Maren Schulz wenig von zu Hause, kaum von ihren Kindern. Hier dreht sich alles um die politische Situation, um Aufständische, die sich in abgelegenen Regionen bewaffnen, um Selbstmordanschläge der Taliban, um die 52 Toten und 178 Verletzten unter den deutschen Soldaten während der letzten zehn Jahre. »Leben in der Lage« nennen die Soldaten ihr Leben hier.
Immerhin, der Freitag ist ein bisschen anders: Dann ist Disko im »Planet Mazar«. Deutsche und amerikanische Soldaten tanzen das Video zu dem Lied Cupid Shuffle des amerikanischen Rappers Cupid nach, immer am Anfang um acht und am Ende um elf Uhr ruckeln 200 Soldaten in einer Art Ententanz in der Disko hin und her.
Alles hat Schulz geregelt vor ihrem Einsatz, mit der Schule gesprochen, Testament und Sorgerechtsverfügung für ihre Töchter hinterlegt – und doch, nicht alles lässt sich vorhersehen: Am nächsten Tag ruft ihre Mutter im Feldlager an: Jacqueline ist auf dem Schulausflug beim Schlittenfahren mit dem Kopf an eine Wand geknallt, liegt im Kernspintomografen: schwere Gehirnerschütterung. Maren Schulz telefoniert mit der Schulleitung; organisiert ein Gespräch am runden Tisch mit ihrer Mutter, dem Direktor, den Lehrern, die den Unfall gesehen haben, weil sie wissen will, was genau geschehen ist. »Jetzt muss ich mich auf meine Mutter verlassen.«
Als Alleinerziehende hätte sie den Einsatz auch ablehnen können. Aber das wollte sie nicht. Sie will eine gute Mutter und eine gute Soldatin sein. Und dann sind da noch die 110 Euro, die sie für jeden Tag im Auslandseinsatz bekommt. Hätte sie abgelehnt, wäre das negativ in ihre Beurteilung eingeflossen und hätte ihre Aufstiegschancen geschmälert. Viele ihrer männlichen Kameraden bewerben sich immer wieder freiwillig für Einsätze – um dem Alltag zu Hause zu entkommen. »Einsatzflucht« nennen sie das.
Für Frauen wie Nadine Luter, 27 – den Hauptfeldwebel, der die Search Girls einweist –, wird Mutterschaft zu einer besonders komplizierten Aufgabe werden: Sie arbeitet als Feldjäger in Afghanistan bei einer schwer bewaffneten Einheit, die jeden Tag in den Gefängnissen des Landes nach Menschrechtsverletzungen fahndet und afghanisches Militär ausbildet. Sie ist seit zehn Jahren Zeitsoldatin, hat sich jetzt als Berufssoldatin beworben, will sich zu weiteren Einsätzen verpflichten – und im Sommer heiraten. Dann soll das erste Kind kommen. »Ohne starken Partner, der sich um alles kümmert, ist das kaum vorstellbar«, sagt sie.
Und meint damit auch: Die starken Partner sind in der Regel die Frauen, die sich um alles kümmern, wenn die Männer im Einsatz sind.
In zwei Jahren wird Maren Schulz die Bundeswehr verlassen müssen, 15 Jahre war sie dann dabei. Sie wäre gern geblieben, aber die Bundeswehr übernimmt nur zehn Prozent der Zeitsoldaten als Berufssoldaten. Maren Schulz gehört nicht dazu. Einerseits braucht die Bundeswehr junge Leute, andererseits entlässt sie Soldaten, weil Stellen abgebaut werden müssen. Verteidigungsminister Thomas de Maizière sagte vergangenes Jahr, dass es noch mehr werden würden, als sein Vorgänger Karl-Theodor zu Guttenberg geplant hatte. »Du hast deine Ausbildung gemacht, deine Einsätze absolviert – und dann gibt es plötzlich keinen Job mehr für dich«, sagt auch Hauptfeldwebel Esther Büttner, Gleichstellungsvertrauensfrau in Camp Marmal. »Zivilversager« nennen Soldaten unter der Hand diejenigen, die es nach dem Bund nicht schaffen und Hartz IV beantragen müssen.
Maren Schulz will zu denen gehören, die es schaffen. Nach ihrer Entlassung möchte sie das Fachabitur nachmachen, dazu eine Ausbildung zur Tierheilpraktikerin, beides bezahlt von der Bundeswehr. Nach ihrem Ausscheiden bekommt sie drei Jahre 80 Prozent ihres Gehalts. Trotzdem: Es wird nicht leicht werden, mit 37 Jahren und zwei Kindern in einem neuen Leben Fuß zu fassen.
In ihrer Kompanie basteln alle bereits an dem gemeinsamen Erinnerungsbuch, das jede Einheit von ihrem Einsatz zusammenstellt. »Mama, wie lang noch?« will Marie am Telefon wissen.
Jacqueline ruft ihrer Schwester zu: »Nur noch 17 Geschenke!«
Fotos: Astrid Piethan, Getty (1)