Was Frauen wirklich wählen

Wo der mündige Bürger sein Kreuz macht, hängt davon ab, ob er eine mündige Bürgerin ist: Sieben grundsätzliche Erkenntnisse über die weibliche Wählerstimme.

Auch wenn die Niedersachsen das jetzt nicht gern hören: An dieser Stelle lassen wir die Landtagswahlen in ihrem Bundesland in neun Tagen links liegen und richten stattdessen den Blick auf Hessen. Beide Wahlen werden ohnehin voraussichtlich mit einem Sieg der CDU ausgehen. In Hessen aber gibt es, im Gegensatz zu Niedersachsen, eine Spitzenkandidatin, Andrea Ypsilanti von der SPD. Zwar wird Roland Koch Ministerpräsident bleiben können, so sagen es die Meinungsforscher, doch seine absolute Mehrheit wird er verlieren. Und auch wenn die Männer das jetzt nicht gern hören: Ab sofort braucht dieser Text sie lediglich als Sparringspartner, denn er konzentriert sich auf die Frauen, die wählen, die Frauen, die nicht wählen, die Frauen, die gewählt werden wollen, und jene wenigen, die bereits gewählt wurden.

WARUM WIRD ANDREA YPSILANTI NICHT NEUE MINISTERPRÄSIDENTIN? Roland Koch droht ein herber Stimmenverlust vorrangig wegen seiner Bildungspolitik, repräsentiert von Karin Wolff, der Kultusministerin. Sechzig Prozent der Wähler seien unzufrieden mit der Bildungspolitik in Hessen, haben die Wahlforscher im Dezember herausgefunden. Und Frauen interessieren an Parteipolitik nicht so sehr Wirtschafts- oder Rüstungsthemen, sondern vorrangig Bildungs- und Familienthemen, also all das, was Gerhard Schröder als »Gedöns« abgetan hat. Wenn die SPD nun übernächsten Sonntag Stimmen bekommt von Frauen, die zuvor CDU gewählt haben, dann nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern aus Missbilligung gegenüber der hessischen Bildungspolitik.

Was noch gegen Andrea Ypsilanti als neue Ministerpräsidentin spricht: Sie ist keine »Trümmerfrau«, wie die Zeit schreibt, kam also nicht wie Heide Simonis oder Angela Merkel erst nach einer existenziellen Krise ihrer Partei ganz nach oben. Ohne die Erschütterung der Spendenskandale der CDU wäre Merkel wohl nie Parteivorsitzende geworden, ohne Björn Engholms Falschaussagen in der Barschel-Affäre Heide
Simonis nicht die bis heute einzige Ministerpräsidentin. Auch die Wähler waren gierig nach einem Neuanfang. In Hessen ist es nicht oder noch nicht so weit. Und Frauen wählen eben nicht automatisch Frauen.

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GIBT ES DEN MERKEL-FAKTOR?
Die Bundestagswahl 2005 hat gezeigt: Mehr Frauen als Männer, nämlich 2,7 Prozent mehr, gaben der SPD und somit Gerhard Schröder ihre Stimme. Anders gesagt: Nur 35 Prozent der Wählerinnen haben sich für Angela Merkel entschieden. Aus drei Gründen haben weniger Frauen als Männer Merkel gewählt:
1. In ihrem Wahlkampf standen Finanz- und Wirtschaftspolitik im Mittelpunkt. Frauen konnten in Merkels Programm kaum Antworten auf die für viele brennende Frage finden, wie sie Familie und Beruf unter einen Hut bringen sollten. Wenn Familienpolitik im Wahlkampf eine Rolle spielte, dann immer im Zusammenhang mit Mehrwertsteuererhöhung und Steuerreform. Dass Merkel mit Ursula von der Leyen eine Ministerin berief, die eine fast progressive Familienpolitik betreibt, war vor den Wahlen noch nicht erkennbar.
2. Emotional bot Merkel kein akzeptables Rollenmodell an – und versuchte auch jedem Eindruck zu widersprechen, sie mache weibliche Politik. »Dass Frauen sich besonders gut durch Frauen vertreten fühlen, ist eine hoffnungsvolle Fiktion des Feminismus«, schreibt die Zeit.
3. Frauen wählen heute eher links.

WARUM WÄHLEN MEHR FRAUEN ALS MÄNNER SPD UND GRÜNE?
Nachdem Frauen 1918 das Wahlrecht erhalten hatten, neigten sie viele Jahrzehnte lang stärker zu konservativen und christlichen Parteien. Bis zur Bundestagswahl 1969 waren Frauen stets eine sichere Bank für die Union, sie hatte immer einen Vorsprung von zehn Prozent bei den Wählerinnen, weil die Gesellschaft viel stärker als heute dem Glauben verbunden war, für den sich die Unionsparteien starkmachten. Vor vierzig Jahren gingen noch zwölf Millionen Katholiken in Deutschland sonntags zur Kirche, heute nur noch vier Millionen. Außerdem standen die Unionsparteien für ein konservatives Frauenbild und die sogenannte Hausfrauenehe, ein Familienmodell, wie es viele Frauen damals lebten. Und überhaupt waren sie davon überzeugt, dass ihre Männer schon an der richtigen Stelle das Kreuz machen würden: 1957 zum Beispiel gingen 3,3 Prozent weniger Frauen zur Wahl als Männer, inzwischen hat sich die Wahlbeteiligung angeglichen.

Seit 1969 aber gilt nicht mehr, was bis dahin galt: Arm und ungebildet wählt links, reich und Akademiker wählt rechts, Stadt wählt links und Dorf wählt rechts, Frau wählt, was der Mann will – die Milieus haben sich aufgelöst: Intellektuelle, nicht Arbeiter, unterstützen lauthals Willy Brandt und die SPD, mit der sozialdemokratischen Koalition beginnt die Bildungsoffensive, die Universitäten öffnen sich für die Arbeiterkinder, die SPD für die Studenten, die Frauen werden berufstätig, der Einfluss der Religion schwindet, Familien lösen sich auf. Die CSU mutierte zur proletarischen Partei schlechthin: 65 Prozent der Arbeiter wählten bei den letzten bayerischen Landtagswahlen CSU; in der einst klassisch sozialdemokratischen Hochburg Hamburg gewann die CDU im Jahr 2001 mit einem Plus von 21 Prozent die absolute Mehrheit. Die gebildeten und anspruchsvollen Frauen aber werden von der Union nicht mehr abgeholt, schreibt Franz Walter, Professor für Politische Wissenschaften in Göttingen. »Insofern ist der feministische Postmaterialismus von Rot-Grün gerade in der jungen männlichen Arbeiterschaft verhasst. Er hat die SPD entproletarisiert.« Und die Anhängerschaft von Schwarz-Gelb ist derzeit eindeutig weniger gebildet als die von Rot-Grün. Die grüne Wählerschaft erwartet sich nicht mehr Umverteilung, sondern mehr Lebensqualität und Umweltschutz.

WAS GERHARD SCHRÖDER DEN FRAUEN ZU VERDANKEN HAT
Seit den Achtzigerjahren stimmen weltweit mehr Frauen für Mitte-Links- und Männer für Mitte-Rechts-Parteien. Der Begriff »Gender Gap«, die Kluft zwischen den Wahlentscheidungen von Männern und Frauen, hat auch in die Wahlforschung Einzug gehalten. Dem Centre for the American Woman in Politics zufolge stimmen Frauen im Gegensatz zu Männern eher für eine Politik, die gegen militärische Einsätze ist, sich für Umweltschutz engagiert, wirtschaftlich Benachtei-ligte unterstützt und sich um die Umsetzung der Gleichstellung von Menschen verschiedener Herkunft und Hautfarbe bemüht. Das gilt für fast alle demokratischen Länder und berührt beinahe alle Themengebiete der Grünen. Auch darum werden sie seit den Neunzigerjahren zunehmend von gebildeten Frauen der jüngeren und mittleren Generation gewählt. Bei der letzten Bundestagswahl gaben 8,8 Prozent der Frauen, aber nur 7,4 Prozent der Männer den Grünen ihre Stimme. Der Sieg Gerhard Schröders bei der Bundestagswahl 2002 beruhte zu einem Gutteil auf seiner entschiedenen Ablehnung des Irakkriegs. Die Abwahl von Rot-Grün scheiterte an den Frauen.

WÄHLEN JUNGE FRAUEN ANDERS ALS ALTE?
Es hilft nichts – der Erkenntnisgewinn des folgenden Absatzes liegt im genauen Vergleich der Zahlen. Also: Junge Frauen wählen viel seltener die Unionsparteien als alte, die Unterschiede liegen hier bei bis zu zehn Prozent. Dagegen wählen mehr junge Frauen als alte SPD – sie verliert drei Prozent bei den über 60-Jährigen im Vergleich zu den 18- bis 24-Jährigen. Die Grünen sind überraschend schwach bei den 45- bis 59-jährigen Frauen, 2005 gaben ihnen nur 4,4 Prozent ihre Stimmen, alle jüngeren Wählerinnen dagegen zwischen elf und 13 Prozent; Wahlforscher erklären den geringen Stimmanteil der Grünen bei den Frauen der mittleren Generation damit, dass sie politisch stark von 68 und der damals neuen sozialen Bewegung geprägt wurden, von einer Zeit also, in der es die Grünen noch nicht gab. Die Zahl der FDP-Wählerinnen bleibt in allen Altersgruppen relativ konstant bei rund zehn Prozent.

Junge Frauen zwischen 18 und 24 gehen seltener zur Wahl als Frauen aller anderen Altersgruppen, aber immerhin noch öfter als Männer. Ausnahme: Bei den Erstwählern und der Altersgruppe ab 60 ist die Wahlbeteiligung der Männer größer. Bei den über 70-Jährigen gehen zwar 82,7 Prozent der Männer zur Wahl, jedoch nur 73,1 Prozent der Frauen. Einer der Gründe: »Viele der alleinstehenden älteren Frauen fühlen sich sozial isoliert und bleiben der Wahlkabine fern«, schreibt Eckhard Jesse, Professor an der Technischen Universität Chemnitz.

INTERESSIEREN SICH FRAUEN WENIGER FÜR POLITIK ALS MÄNNER?
Ja und nein. Am Ende des 20. Jahrhunderts schlossen rund 94 Prozent aller Frauen in Deutschland für sich aus, Mitglied einer Partei zu werden. 1999 waren 86 Prozent der Gemeinderäte Männer. Im 16. deutschen Bundestag sitzen 419 Männer und 194 Frauen als Abgeordnete. Wahlen werden vor allem von Jüngeren boykottiert. Eine wachsende Gruppe von Frauen ist inzwischen der festen Ansicht, dass es überhaupt keine Rolle spielt, welchen Kandidaten oder welche Partei sie wählen. »Frauen begründen ihre Wahlenthaltung zunehmend mit einer bewussten Abkehr von der traditionellen Politik«, schreibt Birgit Meyer, Professorin an der Fachhochschule Esslingen mit dem Fachgebiet Familien- und Frauenpolitik, ihre Interessen richten sich eher auf die neuen Partizipationsformen: Unterschriftensammlungen, Menschenketten, Bürgerinitiativen.

Zum Beispiel gegen Atomenergie. Überall auf der Welt zeigen Befragungen, dass Frauen sehr viel mehr gegen Atomenergie sind als Männer. Laut einer Greenpeace-Studie von 2004 halten 68 Prozent der deutschen Frauen Atomenergie für ein großes Umweltproblem, aber nur 45 Prozent der Männer. Auffällig dabei: Je höher der Bildungsstand der Frauen, desto größer die Ablehnung, je höher der Bildungsstand der Männer, desto größer die Zustimmung.

WARUM WÄHLEN FRAUEN (NOCH) KAUM RADIKALE PARTEIEN?
Beim Wahlverhalten an den politischen Rändern fallen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern am stärksten aus. »Die extremen Parteien werden generell stärker von Männern präferiert«, sagt Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen. »Was bei den Bundestagswahlen 2005 schon bei der PDS sichtbar wurde und bei den rechtsradikalen Parteien besonders ausgeprägt ist: Vor allem bei jungen Männern erzielen extreme Parteien ihre mit weitem Abstand besten Ergebnisse.« Jedoch wählen mehr junge Frauen als alte Männer extrem. Die wenigsten Stimmen aber bekommen radikale Parteien von alten Frauen, meint Matthias Jung. »Männer leben Protestneigungen stärker aus.« Frauen fühlen sich durch aggressive Parolen eher abgestoßen. Aber das muss nicht so bleiben.

Eine Forsa-Studie aus dem Jahr 2003 ergab, dass rechtsextreme Ansichten gerade unter Frauen in Ostdeutschland weiter verbreitet sind als unter Männern. Und laut einer Emnid-Umfrage vom August 2007 neigen sogar 14 Prozent der Frauen dazu, bei der nächsten Wahl eine Partei am rechten Rand zu wählen, aber nur neun Prozent der Männer. »Das ist eine Überraschung«, sagt Klaus-Peter Schöppner von Emnid, »das wurde so noch nicht gemessen.« Seine Erklärung: Das Frauenbild der Union sei vielen Frauen inzwischen zu modern.