Wie es im Buche steht

Runter vom Sofa und rein ins Abenteuer: Man kann Bücher auch ganz anders lesen, nämlich als Reiseführer. Über das Phänomen Bestsellertourismus, der von einer eigenartigen Sehnsucht lebt.

Forks, Washington: Nebel, Dauerregen – das Nest war nicht unbedingt ein Tourismus-Hotspot. Dann wurde es zum Schauplatz der Twilight-Serie, und die Fans kamen in Scharen.

Bis vor einiger Zeit schien das Städtchen Forks im US-Bundesstaat Washington nur aus einer Durchfahrtsstraße und einem Nutzholzmuseum zu bestehen. Es regnet oft und lang, ständiger Nebel treibt Besucher schnell weiter. Dann kamen die Vampire. Und mit ihnen die Lesetouristen. Seit die Autorin Stephenie Meyer Forks zum Schauplatz ihrer Twilight-Saga gemacht hat, ist der Ort weltberühmt. »Ich hatte im Internet nach dem regenreichsten Ort der USA gesucht, weil nur da meine Vampire leben könnten«, sagte die Autorin in einem Interview. Nun pilgern jährlich mehr als 71 000 Twilight-Fans aus aller Welt in das 3000-Seelen-Nest, um auf den Spuren der Liebe zwischen dem Mädchen Bella und dem schönen Vampir Edward zu wandeln.

»Die Bücher sind ein Gottesgeschenk«, sagt Marcia Bingham, Leiterin der Handelskammer von Forks, »wir wären ja blöd, wenn wir das nicht nutzen würden.« Längst gibt es detaillierte Stadtpläne, in denen die Häuser der Figuren eingezeichnet sind, an den Straßen weisen Schilder auf Schauplätze des Romans hin, als seien sie historische Stätten. Bei »Sully’s Drive-In« gibt es den Bella Burger, im Drugstore das Twilight-Kühlschrankmagnetset und im Souvenirshop Steine der abgerissenen Forks High School, die eine zentrale Rolle in der Liebesgeschichte spielt – für 99 Dollar das Stück. Dankbar feiern die Einwohner alljährlich den »Stephenie Meyer Day« und stoßen dabei mit Twilight-Schaumwein an.

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Diesen Merchandising-Wahn findet selbst ein Hardcore-Fan wie Jennifer Simon etwas irritierend. Sie ist extra von Frankfurt nach Portland geflogen und ins 400 Kilometer nördlich gelegene Forks weitergefahren. »Als ich die Twilight-Bücher gelesen habe, war’s um mich geschehen«, sagt sie. Jetzt ist sie mit dem Reiseveranstalter Suntrek zwei Wochen lang mit einer Gruppe von Twilight-Jüngern – fast nur Frauen – an den wilden Küsten von Oregon und Washington unterwegs. Einmal dort sein, wo Edward Bella sein wahres Vampir-Ich enthüllt, den Regen auf der Haut spüren, den Nebel erleben! Auch Edward ist dabei, dafür hat der Reiseveranstalter gesorgt: Eine lebensgroße Pappfigur von Robert Pattinson reist im Bus mit und posiert artig auf allen Fotos. »Früher hätte ich Leute für verrückt erklärt, die so was machen«, sagt die 23-jährige Fitnesskauffrau, »aber wenn ich schon mal hier bin …«

Büchertourismus gibt es natürlich schon länger. Schon Goethes Italienische Reise hat wohlhabende Bildungsbürger zur Nachahmung animiert, heute bieten Reiseveranstalter Touren auf Heines, Kafkas oder neuerdings Tellkamps Spuren an. Auch Bibelreisen durch das Heilige Land sind letztlich nichts anderes als Bestsellertourismus. Neu ist, dass romantische Unterhaltungsliteratur die Massen mobilisiert – und vor allem die weiblichen Massen.

Die Reisebranche sieht diesen Trend mit Wohlwollen, vor allem, weil davon meist Orte profitieren, an denen Besucherinnen normalerweise nur im Notfall anhalten würden: Orte wie Forks eben oder wie Freiberg in Sachsen, wo man Stadtrundgänge auf den Spuren der mittelalterlichen Hebamme Marthe aus den historischen Romanen von Sabine Ebert unternehmen kann. Auf der Expedition in das Reich der wahren Gefühle fahren Leserinnen nach Bath an die Schauplätze der Jane-Austen-Romane und ins südenglische Cornwall, dessen schicksalsträchtige Küste Rosamunde Pilcher verewigt hat – die 86-Jährige wurde für ihre Verdienste sogar mit dem British Tourism Award geehrt. Oder sie folgen der Schweizer Bestsellerautorin Corinne Hofmann nach Kenia, um dort die weiße Massai in sich zu entdecken.

Auf Bali kannte man Touristen immerhin schon, bevor das Buch Eat Pray Love einen wahren Reiseboom auslöste. Es erzählt die Lebensgeschichte der Amerikanerin Elizabeth Gilbert, die nach einer schmerzhaften Scheidung auf Sinnsuche um
die Welt zieht und schließlich ihren Frieden auf Bali findet. Weltweit wurde es über acht Millionen Mal verkauft, die Verfilmung mit Julia Roberts in der Hauptrolle ist gerade in den Kinos angelaufen. »Wissen Sie, ich bin ein spiritueller Mensch und immer auf der Suche nach bereichernden Erfahrungen«, sagt die Kosmetikerin Jan Day, da kam das Eat Pray Love-Paket des Reiseveranstalters Spirit Quest Tours gerade recht.

Die 62-jährige Kalifornierin reiste im Juni mit dem Roman im Gepäck nach Bali, »einfach um zu schauen, was da mit mir passiert«; sie besuchte auch Ketut Liyer, einen spirituellen Heiler, der durch das Buch zur Touristenattraktion aufstieg. Weil Jan Day weiß Gott nicht die Einzige ist, die auf seinen seelischen Beistand bei der Sinnsuche hoffte, musste der zahnlose alte Mann schon wegen Überarbeitung ins Krankenhaus. »Der taugt aber sowieso nichts«, meint Jan Day, »er sagt allen Frauen das Gleiche: ›Du langes Leben, Lippen wie Honig.‹ «

Ich wollte unbeding ein Feeling bekommen.

Bali, Indonesien: Hier fand die Autorin von Eat Pray Love, Elizabeth Gilbert, nicht nur inneren Frieden, sondern – wie es sich für Traumziele gehört – auch die große Liebe.

Was treibt Frauen dazu, bei Kälte und Regen am Ecola Beach umherzuwandern und von einem minderjährigen Vampir zu träumen oder stundenlang vor der Hütte eines balinesischen Heilers anzustehen? »Es ist das tief menschliche Bedürfnis, alles zu bebildern«, meint der Psychologe Harald Haase, »Gedanken sind ja oft sehr blass.« Egal, wie gut ein Buch geschrieben ist, »es ist nie so gut, dass das Gelesene durch ein reales Bild nicht noch intensiver werden kann.« Bestsellerreisen vervollständigen da, wo die eigene Vorstellungskraft nicht ausreicht. Haase vergleicht den Trend mit dem Besuch von Reliquien wie dem Turiner Grabtuch, von dem auch jeder weiß, dass es eine Fälschung ist, das aber dennoch viele sehen wollen. So wird das Fiktive vielleicht doch ein bisschen wahrer.

Die vielleicht größte Hoffnung der Bestsellertouristinnen ist es allerdings, am Glanz und der Erlösung ihrer Heldin teilzuhaben. Die Begehung der heiligen Orte wird dabei mit geradezu wissenschaftlicher Akribie betrieben: »Wir haben alle Orte mit den Szenen im Buch verglichen und auf dem iPhone geschaut, was der Film daraus gemacht hat«, erzählt Jennifer. Nicht immer besteht die Wirklichkeit den Vergleich mit der Fantasie. »Ich wollte aber unbedingt ein Feeling bekommen für die Orte, für Edward. Ich weiß, dass alles erfunden ist, aber man fühlt trotzdem eine ganz besondere Stimmung in den Wäldern und an den Stränden.« Die 1300 Euro, die die Reise gekostet hat, findet sie deshalb auch bestens angelegt.

Jan Day hingegen kann sich nur wenig mit der Heldin aus Eat Pray Love identifizieren. Ihr diente der Roman lediglich als Anlass zum eigenen Selbstfindungstrip: »Um ehrlich zu sein, hat mich das Buch gar nicht mal so sehr umgehauen. Ich wollte mich einfach lebendig fühlen, meine spirituelle Entwicklung fortsetzen.« Trotzdem war sie immer gerührt, wenn die Reiseleiterin während der Busfahrten ausgewählte Stellen aus Eat Pray Love vorlas.

Und die Männer? Die betreiben durchaus auch Bestsellertourismus, sagen die Reiseveranstalter, aber auf eine andere Art. Wo Frauen nachfühlen wollen, wollen sie nachprüfen: auf einer Reise nach Paris Fehler in Dan Browns Sakrileg aufspüren beispielsweise. Inzwischen ist es auch bei den Autoren angekommen, dass die Möglichkeit des Nacherlebens eine schöne Form der Leserbindung bedeuten kann. Immer öfter wird der touristische Aspekt schon beim Schreiben eines Romans mitgedacht: Die Schriftstellerin Anne Fortier verortet in ihrem ebenfalls gerade verfilmten Roman Julia das Drama um Romeo und Julia im italienischen Siena und liefert die Anleitung zum Bestsellertourismus durch detaillierte Ortsbeschreibungen und Karten gleich mit. Und sollten Italien oder Bali zu weit weg sein: Ildikó von Kürthy hat für ihren neuen Roman Endlich! neben Berlin auch das »A-Rosa«-Spa in Travemünde als Schauplatz gewählt – Tageskarte ab 49 Euro.

Fotos: Sorin Morar