Aufbau Ost

Wenn ein Mann aus dem Westen eine Asiatin heiratet, muss er sich eine völlig neue kulinarische Welt erarbeiten - und kriegt dafür schon mal zwei Kilo Glutamat geschenkt.

Alles begann, als ich Mitte der Neunzigerjahre eine taiwanesische Frau kennenlernte und mit ihr das fantastische Essen in Taipeh. Es war wie in dem Film Eat Drink Man Woman von Ang Lee, nur besser. Als ich das erste Mal die feine Venusmuschelsuppe mit Ingwer probierte, stöhnte ich so hemmungslos, dass ich zur Attraktion des Lokals wurde. Die Gäste an den Nebentischen freuten sich über meine Freude, sie applaudierten sogar, weil es der Langnase schmeckte. Ich aß mit Lust die fetten Seegurken, deren Konsistenz an die Schwarte von Schweinshaxn erinnert, und ich verschlang den famos stinkenden Tofu mit scharfer Soße.

Offiziell existiert Taiwan gar nicht. Das große China betrachtet die Insel als abtrünnige Provinz. Das Einzige, was die beiden Erzrivalen verbindet, ist die Küche. In beiden Ländern sagt man statt »Hallo, wie geht’s«: »Haben Sie schon gegessen?« Bald erfuhr ich am eigenen Leib, wie ernst das gemeint sein kann. Ich beschloss zu heiraten. In Taipeh. Zum Junggesellenabschied folgte ich der Ein-ladung meiner neuen Cousins und Onkel in ein Restaurant in der Altstadt, das mit dem englischen Slogan »Eat until you die« nicht zu viel versprach. Bei dieser chinesischen Variante des »All you can eat« wird die konfuzianische Weisheit, wonach man nur existiert, um zu essen – und nicht umgekehrt –, bis zum Magendurchbruch gedehnt. Der Nachschub versiegt nie, dank eines Stabs von militärisch geschulten Bedienungen, die ebenso blitzschnell wie gnadenlos leere Teller wegschaffen und gegen volle austauschen. Widerstand gegen die Orgie, Handzeichen, die sagen sollen, dass man schon nach 17 Portionen satt ist: alles zwecklos. Kein Wunder: »Màn màn chi« – »Guten Appetit« – heißt, wörtlich übersetzt, »Schön langsam essen«. Umgeben von Menschen im Fressrausch hielt ich es für klüger, einfach mitzumachen. Benommen von der eigenen und verwirrt von der mich umgebenden Völlerei, saß ich eine Ewigkeit in diesem Lokal, ich erschrak, als der erste Verwandte bewusstlos vom Stuhl fiel. Unauffällig blätterte ich in der Speisekarte und suchte vergeblich nach einem angemessenen Sarg: Wenn man hier schon sterben musste, dann wollte ich vorbereitet sein.

Ich überlebte. Und ich überstand das Gerangel beim Bezahlen. Wenn Chinesen essen gehen, will jeder unbedingt die Rechnung begleichen, aus Höflichkeit, und um das zu schaffen, überbieten sich alle gegenseitig an Einfallsreichtum: Da wird der Ober bestochen, im Voraus bezahlt oder heimlich während eines vorgetäuschten Toilettengangs. Kein einziges Mal in den vergangenen 15 Jahren ist es mir gelungen, die anderen auszutricksen.

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Die nächste Irritation gab es bei der Hochzeit selbst, als mir die Brauteltern mit heiligem Ernst ein liebevoll eingepacktes Geschenk überreichten: zwei Kilogramm Glutamat, natürlich in Premium- qualität. Vielleicht aus Sorge, es könnte in Deutschland Mangelware sein? Ich habe aus Höflichkeit nicht nachgefragt und Jahre später das weiße Pulver auf einem Münchner Wertstoffhof entsorgt.

Kurz nach der Hochzeit nahm ich ebenso ahnungslos wie gutgläubig eine Einladung zum Besuch der weitläufigen Verwandtschaft in Peking an. Zum Begrüßungsessen für den Ehrengast holte mich ein Taxi in Zwergengröße vom Flughafen ab. Der Minivan mit seitlicher Schiebetür hieß »Mianbao Che« – »Kleines Brot«. Heute ist dieses gefürchtete Vehikel weitgehend von den Straßen Pekings verschwunden, damals war es ein schlechter Scherz für einen zwei Meter großen Exoten wie mich. Immerhin fanden der Fahrer und viele Schaulustige Gefallen an meinen Verrenkungskünsten, besonders die Embryonalstellung, die ich am Ende der zweistündigen Fahrt einnahm, sorgte im Stau vor den Toren der Stadt für große Heiterkeit.

Über das Lächeln der Chinesen ist viel geschrieben worden. Ich glaube heute, es ist frei von Schadenfreude, Mitleid oder Argwohn. Es ist wissend. Undurchdringlich wie die Höflichkeit der Gastgeber, die mich schon im Restaurant erwarteten. Freundlich guckte ich zurück in die weite Runde der mir völlig fremden, grinsenden Familie. Ich lächelte auch noch, nichts Böses ahnend, als man mir zur Begrüßung eine lebende Schildkröte zeigte. Eine große Ehre, dachte ich, denn das Tier symbolisiert langes Leben und ist neben Drache, Tiger und Vogel eines der himmlischen Wesen. Ich wollte gerade zu einer Eloge auf die große chinesische Kultur ansetzen, meine Frau sollte übersetzen, was ich über die Orakelzeichen zu sagen hatte, die die Chinesen vor Jahrtausenden auf Schildkrötenpanzer geritzt haben, doch plötzlich ging alles ganz schnell.
Ein Mann, ein Beil, dann wurden Blut und Gallensaft in Schnapsgläser gefüllt, die sich rot und grün verfärbten. Auf ex – chinesisch »Gan« für »trockenes Glas« – wurde auf das glückliche Brautpaar angestoßen. Trockenes Glas für Gesundheit! Trockenes Glas für ewige Liebe! Trockenes Glas für … Es nahm kein Ende, denn Gläser müssen im Reich der Mitte stets gefüllt sein, der Gastgeber schenkt nach, bis er selbst unter dem Tisch liegt. Bevor ich das Bewusstsein verlor, servierte der Koch noch Schildkrötensuppe. Augenzwinkernd wurde mir dabei der wichtigste Teil des Tieres zugedacht. Erst Jahre später habe ich die Anspielung verstanden.

»Gui tou«, »Schildkrötenkopf«, ist ein anderes Wort für das männliche Glied.

Nach diesem Erlebnis hat es Jahre gedauert, bis ich nicht mehr zusammenzuckte, wenn ich den Gruß »Haben Sie schon gegessen?« hörte. Dennoch: Es wäre unfair, die chinesische Küche auf den Ekel zu reduzieren, den Spezialitäten wie Schafsföten, Robbenpenisse oder Maden in westlichen Gaumen hervorrufen. Zwar ist das Klischee wahr, wonach theoretisch alles gegessen wird, was sich bewegt – und das am liebsten, wenn es sich noch bewegt. Aber behandeln wir den Hummer und die Auster besser? Und was ist mit der Weinbergschnecke und der Spezialität Hirn mit Ei?

»Das Essen ist der Himmel des Menschen«, sagt ein traditionelles chinesisches Sprichwort, und meistens stimmt das auch. Der Gott des Essens wohnt in Taiwan. Sooft ich kann, besuche ich ihn dort im Tempel der guten Dim-Sum-Häppchen, dem »Din Tai Fung«. Für die Kritiker der New York Times ist es eins der Top-Ten-Restaurants der Welt. Vor dem Eingang in der Xinyi Road in Taipeh zieht man eine Nummer, gibt seine Bestellung auf und wartet mit hundert anderen bis zu zwei Stunden. Ich würde zehn Stunden auf dieses Essen warten, ich wünschte, man könnte schon beim Einchecken am Münchner Flughafen ein Ticket ziehen. Durch das Fenster am Eingang sieht man in die Küche wie in ein Genlabor, in dem Menschen mit weißem Kittel, Mundschutz und Handschuhen Teigtaschen bestücken. Endlich an der Reihe, hält der Hungrige die Platzanweiserin für einen Engel. Sie trägt ein Headset und erhält ihre Befehle von ganz oben. Sie nimmt einen an der Hand und führt durch einen schmalen Gang und enge Treppen bis zu einem kleinen Tisch. Dort stehen schon in einem Bambuskörbchen die dampfenden, mit Shrimps gefüllten »Xiao Long Bao« (kleine Drachentaschen) und die göttliche Venusmuschelsuppe mit Ingwer. »Keine Speise, kein Leben«, sagen meine Freunde in Taiwan. Ich nehme die Stäbchen und schmecke, dass es eine Liebe gibt, die ewig hält.

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Um eines beneidet Michael Cornelius die Chinesen: dass auch die Toten noch etwas zu essen bekommen – mit Speisen ehrt man in China seit Jahrhunderten die Verstorbenen. Aber Cornelius mahnt zur Vorsicht: Die Stäbchen dürfen nur bei der Opfergabe am Ahnenaltar senkrecht in den Reis gesteckt werden. Wer das im Restaurant macht, begeht einen Fauxpas, denn er lockt Geister und Dämonen an den Tisch.

Illustration: Daniel Stolle