Ein Mann rauft sich zusammen

Ausgerechnet Wrestling: Den prolligen Showsport zu mögen, war für Till Krause Rebellion gegen seine friedensbewegten Eltern. Jetzt traf er seinen Lieblingskämpfer. Der ringt heute mit ganz anderen Gegnern.

NÜRNBERG-LANGWASSER, SOMMER 1992

Ich bin Kind zweier Lehrer, Jahrgang 1980, ich erinnere mich an Ostermärsche, Holzspielzeug, an die Friedenstaube, die an unserer Haustür klebte. Und ich erinnere mich an Fasching, weil ich mich als Cowboy verkleiden durfte, aber ohne Pistole.

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Kaum einen Satz habe ich als Kind so oft gehört wie diesen: Gewalt ist keine Lösung. Frieden war das Wichtigste, ein Leben ohne Gewalt das Ziel meiner Erziehung. Meine Eltern taten, was sie konnten. Und ich dankte es ihnen, indem ich nachts ins Wohnzimmer geschlichen bin, um mir heimlich Wrestling anzuschauen.

Wrestling, diese amerikanische Mischung aus Kampf und Show, ist das Gegenteil von allem, was meine Eltern gut finden: Es ist brutal, aufdringlich und irgendwie billig. Da springen sich Typen namens Macho Man, Hitman, Hulk Hogan und Ultimate Warrior mit dem Knie ins Gesicht, hauen sich mit Fäusten und Klappstühlen. Vor dem Kampf haben sie sich minutenlang angeschrien und die Zähne gefletscht wie wilde Tiere. Ich bin überwältigt von so viel Entertainment.

Für Wrestling begeistert haben mich die Kinder aus meiner Grundschule in Nürnberg-Langwasser. Einer Vorstadt, wo gleich neben unserem Garten die grauen Betonklötze mit den Sozialwohnungen standen. Meine Eltern hatten wahrscheinlich Angst, Wrestling könnte der erste Schritt sein, mich aus der Reihenhauswelt wegzubringen, hin zu Privatfernsehen, Fast Food und Plastikspielzeug.

Dabei ist alles viel harmloser: Ich male das Wrestling-Logo mit Buntstift auf Karopapier, bastle mit meinem Freund Philipp einen Miniatur-Wrestling-Ring aus einem Schuhkarton und frage im Gitarrenunterricht, ob ich statt The House of the Rising Sun nicht lieber die Melodie lernen kann, mit der der Ultimate Warrior in den Ring marschiert. Natürlich kannte mein Gitarrenlehrer weder das Lied noch den Warrior. Ich habe mir den Gitarrenriff dann selbst beigebracht – und kann ihn heute noch.

Mein Lieblingswrestler heißt Bret Hart, Kampfname »Hitman«: ein Hüne mit verspiegelter Sonnenbrille, engen Hosen, Lederjacke mit aufgemaltem Totenkopf. Und dann diese Haare: lang und immer nass und strähnig. Mein Vater hatte als Student auch lange Haare, die Fotos von damals hängen bei uns im Treppenhaus, aber irgendwie sehen seine dunkelblonden Locken nach Shampoowerbung aus. Vor jedem Kampf verschenkt Bret Hart seine Sonnenbrille an ein Kind im Publikum – und im Traum auch an mich. Beim Wrestling kämpft das Gute gegen das Böse. Bret Hart war einer der Guten.

Wobei »Kampf« eigentlich das falsche Wort ist: Bei Wrestling sieht zwar vieles nach Prügelei aus, aber in Wahrheit folgt alles einer Choreografie. Der Sieger steht von Anfang an fest, jeder Schlag ist abgesprochen. Das sollte ich allerdings erst Jahre später merken.

Die Kämpfe laufen auf Tele 5, die Sendung heißt Ring frei! und kommt immer freitags um zehn Uhr abends. Zu dieser Zeit sind meine Eltern noch wach. Bei der Wiederholung gegen zwei Uhr nachts schlafen sie schon. Ich stelle mir den Wecker und schleiche ins Wohnzimmer. Im Treppenhaus traue ich mich kaum noch zu atmen. Meine Eltern haben mir verboten, diesen »brutalen Quatsch«, anzugucken. Wrestling ist ein lauter Sport, die Moderatoren schreien unentwegt, die Kämpfer sowieso, und wenn sie in den Ring marschieren, dröhnen ihre Kampfhymnen so laut wie bei einem Rockkonzert. Ich aber sitze im Schneidersitz direkt vor dem Fernseher, den Ton fast ausgedreht.

Besonders toll ist der Summerslam 1992, die größte Wrestling-Show aller Zeiten, das Wembley-Stadion in London ist mit über 80 000 Zuschauern ausverkauft. Mein Idol Bret »Hitman« Hart kämpft gegen seinen Schwager, den British Bulldog.

Ich freue mich seit Wochen. Es geht um den Titel des »Intercontinental Champion« und um noch viel mehr: Bret Hart und der British Bulldog sind auch privat zerstritten, erklären die Moderatoren, im Ring soll ein Familienzwist ausgetragen werden. Sie prügeln eine halbe Stunde aufeinander ein, mit Manövern, die Bodyslam und Dropkick heißen. Als Bret Hart besonders hart einstecken muss, möchte ich schreien, aber ich darf nicht. Wenn meine Eltern das hören, könnten sie zur härtesten Maßnahme greifen und mir das Taschengeld kürzen. Das bedeutet: Kein Geld mehr für Wrestling-Sammelkarten, die ich inzwischen mit den Jungs aus meinem Viertel tausche. Ich muss also stumm zuschauen, wie der Bulldog meinen Bret Hart in die Seile schleudert und mit so viel Wucht auf den Ringboden donnert, dass seine Schultern für drei Sekunden die Matte berühren – damit hat Hart den Kampf verloren.

Doch die Show geht jetzt erst richtig los: Der Bulldog steht als Erster auf und reicht seinem Schwager die Hand zur Versöhnung. Umarmung, Hallenfeuerwerk, mir ist jetzt alles egal, ich kann nicht mehr leise sein, sondern jubele und klatsche. Nachts, allein vor dem Fernseher. Niemand hört mich.


20 Jahre später

RAHWAY, NEW JERSEY, SOMMER 2012

Ich bin jetzt 31, Wrestling schaue ich seit mehr als 15 Jahren nicht mehr. In Amerika ist der Sport immer noch beliebt, erst vor vier Wochen fand der Summerslam 2012 statt – in der größten Halle von Los Angeles, restlos ausverkauft. Auch Bret Hart tritt noch gelegentlich am Rande von Wrestling Shows auf. Er ist eine Wrestling-Legende und hat genug verdient, um nicht mehr im Ring stehen zu müssen. Außerdem hatte er einen Schlaganfall, sein Arzt hat ihm das Kämpfen verboten. Bret Hart hat bei Twitter über 300 000 Follower, er schreibt dort, wenn er mal wieder einen Auftritt hat.

An einem Freitag im Mai ist er im Rahway Recreation Center in New Jersey. Wenn der Summerslam die Weltklasse ist, hat die Show in New Jersey bestenfalls Kreisliga-Niveau: Gekämpft wird nicht im ausverkauften Stadion, sondern vor ein paar hundert Leuten in einer Art Turnhalle in einem Kaff, wo es außer ein paar Schrottplätzen und Fast-Food-Lokalen nichts gibt. Draußen parken Pick-up-Trucks, das Publikum sieht so aus, wie man sich Amerikaner vorstellt, wenn man Amerikaner nicht besonders mag: wuchtige Männer mit Kappen und weiten Hosen, Frauen mit zu engen Leggins und zu schrillen Stimmen. Was ich hier zu sehen bekomme, ist mir zu aufdringlich, die Kämpfer mit ihren riesigen Muskeln und ihrem Macho-Getue. Vielleicht ist mein Blick dem meiner Eltern nicht mehr so unähnlich.

Bret Hart ist der Stargast des Abends, obwohl er nur Autogramme gibt. Sein Name ist auf den Plakaten ganz groß gedruckt, für 20 Dollar kann man sich mit ihm fotografieren lassen. Rund 200 Leute stehen für so ein Foto an, während in der Halle unbekannte Wrestler ihre Show abziehen: Aus der Nähe betrachtet sehen ihre Aktionen viel weniger spektakulär aus als im Fernsehen. Die Kämpfer torkeln durch den Ring wie jemand, der im Schultheater einen Betrunkenen spielt.

Der Hitman ist jetzt 55 Jahre alt, die langen Haare grau und nicht mehr nass und strähnig, er trägt Lederjacke, sein Oberkörper ist so trainiert, dass sein schwarzes T-Shirt an den Oberarmen spannt. Er sitzt in einem Nebenraum, sonst die Kaffeeküche des Hausmeisters, und signiert alles, worauf sein Gesicht gedruckt ist: Poster, Bilder, T-Shirts. Hinter jede Unterschrift setzt er vier Punkte, einen für jedes seiner Kinder. Er lacht ständig, schüttelt Hände, und als einer der Fans in einem selbst genähten Bret-»Hitman«-Hart-Kostüm daherkommt – Langhaarperücke, rosa Leggins, Lederjacke, Sonnenbrille –, macht Bret Hart mit seinem Handy ein Foto von seinem Doppelgänger. Und ich denke: Immerhin – so weit ging meine Verehrung dann doch nicht, dass ich mich in rosa Leggins gezwängt hätte. Nur meine Haare habe ich wachsen lassen als Kind, und mit Wet-Gel probiert, dass sie so strähnig werden wie die Haare von Bret Hart. Erfolg: na ja. Meine Eltern fanden es natürlich albern, und diesmal hatten sie recht.

Bret Hart ist bei der Wrestling-Show in New Jersey nicht der einzige Wrestler von früher. Am Tisch neben ihm signiert ein Typ, der als Ax bekannt war. Ax hatte weniger Glück als Bret Hart, er muss noch kämpfen. Er ist über 60 und sieht aus wie ein Schlauchboot, aus dem jemand die Luft gelassen hat. Vieles hier erinnert an den Kinofilm The Wrestler, in dem Mickey Rourke einen abgehalfterten Ex-Champion spielt, der sich mit schäbigen Auftritten über Wasser halten muss: ein würdeloser Zirkus, in dem kaputte Typen so tun, als würden sie sich verprügeln.

Im Vergleich dazu wirkt Bret Hart wie eine Art Beckenbauer: Er ist ein älterer Mann, der viel Sonne abbekommen hat und sich freut, Applaus zu kriegen, ohne viel dafür tun zu müssen. Nach seiner Autogrammstunde steigt er in den Ring und hält eine kurze, euphorische Rede, in der es um nichts geht, aber in der das Wort »danke« oft vorkommt.

Am nächsten Tag bin ich mit Bret Hart zum Frühstück im Hotel verabredet, wir haben ein paar E-Mails hin- und hergeschrieben, dann hat er einem Treffen zugestimmt. Mein Freund Philipp, mit dem ich früher immer Wrestling gekuckt habe, ist ein bisschen neidisch. Wir waren im Gymnasium die Einzigen, die sich für Wrestling begeisterten. Anders als in der Grundschule wohnte hier keiner in einem Hochhaus, den Hitman in seinen rosa Leggins fand niemand cool, die anderen aus unserer Klasse spielten Schach oder Querflöte.

Vor meinem Treffen mit dem Hitman bin ich ziemlich nervös, weil ich das erste Mal einem Menschen gegenübersitze, den ich als Action-Figur aus Plastik zu Hause hatte. Ohne Kampfmontur wirkt Bret Hart wie ein pensionierter Sportlehrer: Turnschuhe, Lachfalten, eine Stimme, die tief und knarzig klingt. Seine Hände wirken sehr fein, wenn man bedenkt, was er damit alles angestellt hat: sicher 5000 Schaukämpfe, er hat gewürgt, gehauen und den glitzernden Gürtel des Champions in die Luft gestreckt, jetzt hält er mir die Hand hin und drückt zur Begrüßung nur ganz leicht.

Ich habe mir bestimmt 50 Fragen aufgeschrieben, aber gleich mit der ersten mache ich mich unbeliebt: Haben sich Wrestler gegenseitig Glück gewünscht vor den Kämpfen, wo doch eh klar war, wer gewinnen würde? Der Hitman hört einen Vorwurf, sein Lebenswerk betreffend: »Wrestling ist alles, was ich habe. Schon mein Vater hat Wrestler trainiert. Klar, wir machen nur Show – aber ich sag dir jetzt mal was: Ich liebe diese Show!« Beim letzten Satz imitiert er den bellenden Tonfall der Wrestler aus dem Fernsehen. Und ich staune, wie schnell Bret Hart, der Rentner, sich wieder in Bret Hart, den Hitman, verwandeln kann. »Wir Wrestler müssen uns Choreografien merken, die jeden Balletttänzer verzweifeln lassen würden. Das soll kein echter Sport sein? Und Golf schon?«

Bret Hart hat, das muss man anerkennen, sehr schön gekämpft früher. Seine Würfe sahen immer einen Tick kunstvoller aus als bei den anderen. Und sein Markenzeichen, eine Beinschraube namens »Sharpshooter«, war richtig akrobatisch – er hat seinen Gegnern innerhalb von Sekunden die Beine auf dem Rücken verdreht, bis sie sich nicht mehr bewegen konnten. Würde er sich zutrauen, so einen Sharpshooter heute noch anzusetzen, sagen wir: Hier in der Hotellobby, bei mir? Er winkt ab. Würde nur wehtun. Ihm – und vor allem mir. Er mustert mich. Wie ein Wrestler sehe ich nicht aus.

Als Teenager habe ich morgens vorm Spiegel meine Muskeln mit denen der Wrestler verglichen und mich gewundert, warum ich so anders gebaut bin als meine Helden aus dem Fernsehen. Wie hat er das nur hinbekommen? »Training, und, na ja, du weißt schon.« Steroide, ein Dopingmittel, das Muskeln besonders schnell wachsen lässt. »Ohne die Mittel ging es nicht«, sagt Bret Hart, »am Anfang meiner Karriere habe ich gedopt. Sonst wäre ich heute kein Wrestling-Champion, sondern würde vermutlich an einer Tankstelle arbeiten.«

Heute hat Bret Hart ausgesorgt. Er war einer der größten Stars damals, in Zeitungen ist von zwei Millionen Dollar Jahresgage in seiner besten Zeit die Rede. Er verrät nicht, ob das stimmt, nur so viel: Er habe nie viel verprasst und sein Geld passabel angelegt. Ab und zu steckt er seinen Kollegen von damals etwas zu. »Das sind Invaliden, völlig am Ende, aber sie kriegen keine Rente.«

Viele alte Wrestler sind längst nicht mehr am Leben. Bret Harts Gegner vom Summerslam 1992, der British Bulldog, ist 2002 an einem Herzinfarkt gestorben, er wurde keine vierzig Jahre alt. Auch der Macho Man ist tot, Mr. Perfect, der Big Bossman. Ein anderer, Chris Benoit, hat seine Frau und seinen Sohn getötet und sich dann in seinem Hantelraum erhängt. Bei der Obduktion kam heraus, dass sein Gehirn zerstört war wie bei einem 85-jährigen Alzheimer-Patienten – eine Folge des vielen Dopings und der Kämpfe.

Auch Bret Harts Bruder ist tot: Owen Hart, ebenfalls ein Wrestling-Champion. Er ist 1999 im Ring gestorben: Owen Hart sollte sich von der Hallendecke abseilen und fiel 25 Meter tief in den Ring. Der Unfall stand auch bei uns in der Zeitung, eine kleine Notiz, aber da war mir Wrestling schon nicht mehr so wichtig.

Heute ist es mir fast peinlich, aber: Ich habe Wrestling jahrelang für Kampfsport gehalten. Und nicht gemerkt, dass nicht mal die Faustschläge echt waren. Damit es schön knallt, sind die Kämpfer bei jedem Schlag mit ihren Stiefeln im Ring aufgestampft. Als mir klar wurde, dass alles nur Show ist, ich schätze, ich war vierzehn, war der Hitman nicht mehr so interessant. Irgendwann habe ich die Bret-Hart-Poster durch Bilder des Nirvana-Sängers Kurt Cobain ersetzt. »Schade«, sagt Hart. »Ich wäre gern länger dein Held gewesen.«

Das Gespräch ist fast zu Ende, Bret Hart muss noch weiter, heute Mittag hat er wieder eine Autogrammstunde. Eine Frage noch: Wie ging das mit den Haaren? Warum sahen die immer so nass aus? »Die waren wirklich nass«, sagt Bret Hart. »Schweiß vom Aufwärmtraining.« Er zeigt sein Hitman-Lächeln, wie damals auf meinen Postern. Und sieht dabei fast froh aus, dass immerhin dieses kleine Detail an ihm keine Illusion war. Zum Abschied schenkt er mir seine Sonnenbrille. Mit Autogramm.

Abends schicke ich meinen Eltern ein Foto von Bret und mir per E-Mail. Mein Vater, der Wrestling früher so furchtbar fand, schreibt zurück: »Wir freuen uns mit dir, ich kann mich an den Namen Hitman nur dunkel erinnern. Aber ich finde, der sieht sehr sympathisch aus.«

BRET »HITMAN« HART
Beim Wrestling ist alles Show - auch die Namen der Kämpfer. Nur der 55-jährige Kanadier, der seit 1978 unter dem Namen Bret Hart auftritt und alle Titel dieses Sports gewonnen hat, heißt wirklich so. Familienehre: Schon sein Vater Stu hat Wrestler trainiert. Bret Hart hat elf Geschwister: Alle Brüder hatten und haben mit Wrestling zu tun, seine vier Schwestern sind mit Wrestlern verheiratet. Heute hat sich Hart zur Ruhe gesetzt – und arbeitet an seinem zweiten Buch. Wie sein erstes wird es vom Wrestling handeln.  

Set Design: Nina Lemm/liganord.de; Styling-Assistenz: Elena Mora.

Fotos: Attila Hartwig, Martina Fuchs