Die paar Minuten auf Film, die ihr Leben veränderten, will Jessica sich nie mehr ansehen. Es war bestimmt die fünfhundertste Sexszene in ihrem Leben. Und doch erinnert sie sich genau an sie. Die Szene war gut gelungen, hat Spaß gemacht zu drehen, war technisch perfekt und sehr anspruchsvoll: eine doppelte Analpenetration mit zwei Männern, der eine hieß Mark Anthony, der andere Darren James. Beide hatten ihr vorher ihre HIV-Tests gezeigt, beide waren negativ. Jessica Dee weiß nicht mehr, wie der Film heißt, für den die Szene gedreht wurde. Überall auf der Welt aber sitzen Männer und schauen sich diesen Film an und wissen dabei nicht, dass sich Jessica Dee in dieser Szene mit HIV infiziert. Das war letztes Jahr im März. Jessicas Name ging um die Welt und der von drei anderen Pornostars. Die Zeitungen und Fernsehsender riefen einen Aids-Skandal aus und Jessica sollte sein Gesicht werden. Aber sie weigerte sich und sprach mit niemandem. Inzwischen hat Jessica sich vorgenommen, nicht mehr so viel zu weinen, doch als sie nun über den Parkplatz zu ihrem Geländewagen stürzt, kommen ihr die Tränen schon wieder. »Die wollen mich entsorgen«, schreit sie über den Parkplatz. »Aber ich werde mich nicht entsorgen lassen.« Ein paar Minuten vorher, drinnen im Büro, hat Larry ihr gesagt, die Dreharbeiten zu Sperm Smiles, ihrem vierten Film als Regisseurin, seien bis auf weiteres gestoppt. Larry sah dabei auf seine bestickten Cowboystiefel. Wie immer konnte er Jessicas Tränen nicht ertragen. »Ständig dieses Geheule«, murmelte er. Larry ist Geschäftsführer von PlatinumXPictures, einer Produktionsfirma für Pornofilme im San Fernando Valley, Kalifornien. Er steht im Lager vor Türmen aus Kartons. Jeder Karton ist beschriftet mit Titeln wie AnalGeddon, Interracial Lust oder Cum Guzzlers. »Die Pornoindustrie ist eine tolerante Branche«, sagt Larry. »Hier darf jeder sein Glück versuchen.« Er hat Manager, Akademiker, Einwanderer, sogar ehemalige Kleinkriminelle und gescheiterte Models im Pornogeschäft getroffen. »Nur eine Sorte Menschen verträgt die Pornobranche nicht«, sagt Larry: »Menschen mit Aids.« Eigentlich dürfte Jessica längst nicht mehr in der Branche sein. Aber sie ist es noch. Sie sitzt auf dem Parkplatz vor dem Büro in ihrem Auto und weiß nicht, wo sie hinfahren soll. Ein paar rot gefärbte Haarsträhnen kleben an den Tränen auf ihrer Wange. Als sie noch Pornofilme drehte, trug sie ihre Haare platinblond. Sie war ein Star und wöchentlich schrieben ihr Hunderte von Fans aus Mexiko, aus Japan. Doch heute wirkt sie sogar zu klein für den riesigen Sitz ihres Geländewagens. Und natürlich heißt sie auch nicht Jessica Dee, ihren echten, ihren tschechischen Namen verrät sie nicht. Sie trägt enge Jeans und ein rosa T-Shirt, das den Bauch frei lässt. Als sie aufhört zu weinen, sagt sie: » Ich werde es allen zeigen: Das ist nicht das Ende meines Lebens.« Jessica ist jetzt 26. Im Lager wühlt Larry die Kisten durch, ein paar mexikanische Lagerarbeiter helfen ihm dabei. Dann hält Larry eine DVD hoch, Throat Yoghurt. Die Hülle zeigt Frauen, die an Penissen fast ersticken. Sie sehen mitgenommen aus, Sperma läuft aus ihren Mündern. Es ist Jessicas erster Film als Regisseurin. Sie hat ihn nur sechs Wochen nach ihrer HIV-Infektion gedreht. »Jessica hat uns alle verblüfft«, sagt Larry, »erstens, wie schnell sie diesen Film gedreht hat, und zweitens, wie hart er war.« Warum durfte sie dann nicht weitermachen? »Weil sie gleich anschließend noch vier Filme gedreht hat! Wir kommen mit dem Verkaufen nicht hinterher. Wir müssen die Filme zwischenlagern, und wenn sie dann in ein paar Monaten erscheinen, sind die Mädchen abgenutzt.« Wegen der Fülle an Filmen beträgt die Halbwertszeit von Darstellerinnen nur ein paar Monate, außer bei den Superstars. Danach müssen die Mädchen ihre Haarfarbe oder die Größe ihres Busens ändern. Sie dürfen nicht wiedererkennbar sein. »Als sie nach ihrer Infektion mit Regie anfing, hat Jessica fast panisch gedreht«, sagt Larry. Als würde ihre Krankheit sie treiben. In seinem Büro hat Larry die Fotos seiner Kinder an die Pinnwand gepikst, daneben ein Porträt von George W. Bush mit seiner Frau Laura. Larry war früher Sheriff in einem Dorf in Colorado, später Abgeordneter im Parlament. Aber nach seiner Pensionierung hat er sich nutzlos gefühlt. Er hat sein Haus verkauft und ist seiner Tochter Stephanie nach Los Angeles gefolgt. Die nannte sich dort Jewel D’Nyle und spielte in Pornos mit. Larry wollte davon erst nichts wissen, aber schließlich heuerte er doch bei seiner Tochter an.
Jewel bot ihrem Vater an, für sie zu arbeiten, sie besaß inzwischen 25 Prozent an PlatinumXPictures, und konnte jemanden gebrauchen, der sich mit Bilanzen und Logistik auskennt, jemanden wie ihren Vater. Nun ist Larry General Manager bei PlatinumXPictures und Debbie, die Mutter, Sales Manager. Die Eltern kümmern sich um die Produktion, den Vertrieb und die Abrechnung von Hardcore-Pornos. In den meisten spielt ihre Tochter eine Hauptrolle. Larry sagt, ihm gehe es gut damit. Eigentlich müsste er jeden Film abnehmen, aber bei denen mit seiner Tochter bittet er einen Kollegen. Und natürlich muss er die Bürotoilette meiden. Dort liegen Pornoheftchen mit Bildern von der Tochter drin, die sie beim Gruppensex zeigen. In anderen Heften, die Larry in seinem Büro stapelt, im Branchenführer Adult Video News oder The Climax Times etwa, sind noch immer Fotos von Jessica. »Sie war gut«, sagt Larry, doch es ist ihm anzumerken, dass er lieber über die Agrarreform in Colorado spräche als über die Qualität von Pornostars. »Unkompliziert und nicht zimperlich. Sie hat alles getan.« Noch einmal wollte Jessica Dee heute morgen alles so machen wie früher. Sie hat den Highway 101 an der Ausfahrt Canoga Park verlassen und ist über die De Soto Avenue und Chatsworth Street zu PlatinumXPictures gefahren, mitten ins Herz des San Fernando Valley, einer Vorortgegend von Los Angeles, Jessicas alter Welt. Das San Fernando Valley liegt gleich auf der anderen Seite der Hollywood Hills und die Hügel trennen das echte, saubere Hollywood von seinem bösen Abbild, der Pornoindustrie. Links und rechts von der Straße stehen Flachdachgebäude, Jessica kennt fast jedes von ihnen, in vielen hat sie schon auf fleckigen Sofas gedreht, in anderen sind die Firmen untergebracht, für die sie gearbeitet hat. Auf diesen paar Quadratkilometern bilden 300 bis 400 Produktionsfirmen und knapp 1500 Darsteller eine eingeschworene Gemeinschaft, von ihren Mitgliedern »das Valley« genannt. Zusammen drehen sie mehr als 10000 Pornofilme pro Jahr, die meisten davon so genannte Gonzofilme, Pornos, die nur noch Sexszene an Sexszene reihen und auf Handlung vollständig verzichten. Ungefähr 15000 Dollar kostet es, einen Gonzofilm herzustellen, aber die Pornoindustrie verdient jährlich rund fünf Milliarden Dollar damit, viermal so viel wie noch vor zehn Jahren. Früher hat Jessica auch im Valley gelebt. Ihr Agent, ein Engländer, der sich Dick Nasty nannte, hatte für sie und ein paar andere Mädchen ein Haus gemietet. Das machen die meisten Agenten so, damit sie die Mädchen unter Kontrolle haben. In manchen Häusern herrscht sogar Herrenbesuchsverbot, trotzdem wird immer gefeiert, sagt Jessica, oft mit Kokain, sie habe aber nicht mitgemacht. »Vor allem hat ein bisschen genervt, dass Dick Nasty immer mit uns schlafen wollte«, sagt Jessica. Trotzdem empfand sie die Pornogemeinschaft als heile Welt. Die meisten Darsteller sind Anfang zwanzig, verdienen aber mehrere tausend Dollar pro Woche. Sie fahren große Autos und an den Abenden – nachdem jeder in ein oder zwei Sexszenen über den Tag mitgewirkt hat – trifft man sich zum gemeinsamen Essen beim Japaner. Danach gehen einige zum Bowling, andere haben noch privaten Sex untereinander, ohne Kamera. Sex mit »Zivilisten« meiden sie. »Zivilisten« nennen Pornodarsteller jene Menschen, die keine Pornodarsteller sind. Sich selbst nennen sie »Talent«, und wer Teil dieser Gemeinschaft ist, braucht keine Familie mehr. Das war gut für Jessica, denn sie ist Tschechin und kannte niemanden, als sie ins Valley kam. Einen Tag nachdem Larry Jessica als Regisseurin rausgeschmissen hat, bei einem Pornodreh in einer Lagerhalle, ruft Bryn Pryor, was für ein Unsinn das sei mit Jessica. »Was soll das heißen, sie ist jetzt Regisseurin? Hallo? Das hier ist Porno und da gilt: Hast du einen Daumen? Gut. Hast du eine Kamera? Hey, super: Dann bist du ein Regisseur!« Pryor war früher Chefredakteur des Zentralorgans der Branche, der Adult Video News, heute produziert er selber Filme. Er hat sich eine Glatze rasiert und auf seinem T-Shirt steht: »Gott hat mit mir gesprochen. Er hat mir gesagt, ich soll dir sagen, dass du dich selbst ficken sollst.« Mit seiner Frau Kylie Ireland, einer Darstellerin, die neuerdings ebenfalls Regie führt, wohnt er in dieser Lagerhalle, die gleichzeitig als Hintergrund für Pornofilme dient. Pryor hat Plätzchen und Gemüse mit Joghurt-Dip besorgen lassen. Corie, die Regieassistentin mit komplett tätowierten Unterarmen, strickt. Eisenkäfige stehen herum, Tischböcke und Pritschen und mit Satin bezogene Betten. Kylie möchte heute zwei Szenen für Ass Wreckage 2 filmen, eine ihrer ersten Regiearbeiten.
Für die Eingangsszene möchte Kylie die weibliche Darstellerin, eine relativ neue Französin, über einen der auf den Boden stehenden, halbhohen Eisenkäfige legen, sie dort anketten und ihr mit einer Art Peitsche den Po versohlen lassen. Sie berät sich mit Pryor, ihrem Mann. Der antwortet mit der Ruhe eines Juniorprofessors: »Das Beste wäre, sie von außen an den Käfig zu ketten. Auf diese Weise siehst du ihr Gesicht, unten wäre sie schön offen und man kann sie in dieser Position auch verhauen.« Kylie: »Man muss sie sehen! Sie ist so hübsch. Schöne Brüste und so.« Bryn: »Okay, Kylie. Wo liegt deine Priorität? Action oder Aussehen? Beides kannst du nicht haben.« Kylie: »Action! Hier an dem Bock könnte ich ihr das Gesicht ohrfeigen und ihr vielleicht Busenklammern an die Nippel stecken.« Als Kylie wenig später beginnt, der Französin einen zylinderförmigen Keil in den Po zu pressen, taucht Steve Holmes auf, der männliche Part für die anschließende Szene. Holmes kommt ganz ohne Requisiten, er trägt nur einen kleinen Waschbeutel unter dem Arm, wie ein Fußballer nach dem Training. Er schaut der Szene mit der Französin zu, und während er den Reißverschluss seiner Hose runterzieht, seinen Penis rausholt und anfängt, ihn mit Daumen und Zeigefinger zu massieren, erzählt er seine Geschichte. Holmes, ein Deutscher, war Manager einer Softwarefirma, bis er 35 wurde, er fuhr einen Dienstwagen und wohnte in einem Haus in Münchens bester Gegend. Doch aus diesem Leben sind Holmes nur seine Frau und seine beiden Töchter geblieben, 14 und 16 Jahre alt. Die sieht er selten, weil er nur zwischen den drei Pornozentren der Welt – Budapest, Prag und dem Valley – hin- und herfliegt, doch bald will er mit Frau und Töchtern nach Barcelona ziehen. Er ist 43 Jahre alt, seine Augen sind wach und grün, der Kinnbart gepflegt und auf seinen Porno-Werbefotos posiert er im Anzug. In guten Monaten verdient er circa 40000 Dollar – als Produzent seiner eigenen Filme, die er über PlatinumX vertreibt, und mit seinen Einnahmen als Darsteller. 700 Dollar nimmt er für eine Szene, oft schafft er zwei am Tag. Auch Holmes hat gehört, dass Jessica Dee ihre Dreharbeiten einstellen musste. Er zuckt die Achseln. Der Beleuchter hat sie gerade als »collateral damage« bezeichnet. Wenn er das hört, wird Holmes sauer, obwohl er weiß, dass es zutrifft. Er sagt: »Ich habe ein paar Mal mit ihr gedreht. Es hat Spaß gemacht. Sie war professionell und hatte Lust auf Sex.« Doch dass sie jetzt Regisseurin sei – ein Almosen, findet Holmes. Sie kann doch nichts, was andere nicht auch könnten. Und der Beleuchter sagt: »Die vier Filme, die es von ihr gibt, haben andere für sie gedreht. Jessica Dee ist Geschichte.« Einige Zeit bevor Jessica sich mit HIV infizierte, war sie rausgezogen nach Long Beach, anderthalb Stunden Autofahrt entfernt vom Pornobusiness. Sie hatte immer öfter das Gefühl, nicht mehr ins Valley zu passen, sie nahm ja kein Kokain und auch die ewigen Partys hatte sie über. Sie mietete ein Haus, drei Blocks vom Strand, und kaufte sich einen schweren Jeep mit getönten Scheiben. Sie hatte gut verdient in den letzten zwei Jahren, viele Hardcore-Szenen gedreht, Doppelpenetrationen für 1200 Dollar pro Szene, ein paar Mal auch Doppel-Analpenetrationen für 1800 Dollar, immer ohne Kondom. Filme, in denen Kondome benutzt werden, verkaufen sich nicht und Jessica selbst mochte die Dinger auch nicht. »Bei hartem Sex scheuern sie schnell«, sagt sie. Außerdem fuhr Jessica ja seit Jahren zu AIM, der Adult Industry Medical Health Care Foundation. Wie alle ihre Kollegen ließ sie sich dort jeden Monat auf HIV und andere durch Sexualverkehr übertragene Krankheiten testen und musste das Ergebnis bei jedem Dreh vorlegen. Jessicas Ergebnis war immer negativ und Sharon Mitchell, die Gründerin und Leiterin von AIM, hatte ihr gesagt, das Risiko, sich Aids bei Sex mit »Zivilisten« zu holen, sei höher, als sich in der Pornoindustrie zu infizieren. Mitchell war selbst zwanzig Jahre lang Pornodarstellerin. Nach ihrer aktiven Zeit hat sie studiert, nennt sich nun Doctor Mitchell und in ihrem Büro hängt eingerahmt ein Zertifikat der American University of Sexologists. 1997 gründete Mitchell AIM und entdeckte sofort fünf HIV-Fälle. Seither tauchte nur ein einziger Fall auf. Das System schien sicher seit Jahren. Aber im März des letzten Jahres infizierte sich ausgerechnet ein Veteran der Branche, Darren James. Er hatte in Brasilien gearbeitet und kurz danach mit Jessica eine doppelte Analpenetration gedreht.Sharon Mitchell erteilte James Drehverbot. Alle Darsteller, mit denen James Sexszenen gedreht hatte, mussten gefunden werden und innerhalb von zwölf Stunden war die Liste der HIV-verdächtigen Darsteller auf 74 angewachsen. Die engen Behandlungszimmer in Mitchells Klinik quollen über. Mehrere hundert Sexszenen werden im Valley täglich gedreht. Ungefähr 1300 Darsteller waren in der fraglichen Zeit im Einsatz. »Kurzzeitig«, sagt Mitchell, »habe ich eine Epidemie befürchtet.« Fernsehstationen meldeten, der Pornoindustrie drohe eine Aids-Katastrophe.
Die Epidemie blieb aus. Es traf nur Jessica und zwei andere Mäd-chen. Die beiden anderen verschwanden sofort aus dem Valley. Auch Darren James hat Jessica seitdem nicht mehr gesehen. »Ihn könnte ich bis an mein Lebensende hassen«, sagt sie. »Aber irgendwie kann er ja auch nichts dafür.« Jessica aber verschwand nicht. Ihr Weg ins San Fernando Valley war zu mühselig, als dass sie jetzt einfach verschwinden könnte. Jessica war 17, da verabschiedete sie sich von ihrer Mutter auf dem Busbahnhof von Ostrava, Tschechien. Jessica wollte nach Slowenien fahren und dort, in Maribor, sollte ein Mann sie abholen, der ein Lokal besaß, in dem Mädchen tanzten. Die Mutter weinte auf dem Bahnsteig, doch Jessica erklärte ihr, das Leben könne so nicht weitergehen – nicht mit diesem Vater, der Frau und Tochter schlug. Sie werde wiederkommen, versprach sie der Mutter, Geld mitbringen und die Mutter befreien. Dann stieg sie in den Bus. In der nächsten Nacht schon tanzte Jessica. Aber sie wusste nicht, wie sie sich nackt bewegen sollte, sie weinte und schämte sich. Der Besitzer sagte, er schmeiße sie raus, ihr Weinen wolle keiner sehen. Von da an übte Jessica das Tanzen vor einem Spiegel im Keller. Sie wurde besser, nur ein einziges Mal rief sie die Mutter noch an. Ja, sie sei Tänzerin jetzt! Manchmal ziehe sie beim Tanzen ihr Oberteil aus. Bald engagierten auch andere Stripclubs in Osteuropa Jessica und nach einem halben Jahr tanzte sie auch in Österreich, Italien und schließlich in Deutschland. In Dortmund spielte Jessica in ihrem ersten Pornofilm mit. Das Tanzen erschien ihr auf Dauer zu anstrengend, Pornofilme kamen ihr dagegen vor wie ein Klacks. Doch die allererste Pornoszene ihres Lebens war gleich eine Analszene und der Kameramann musste sie von der Seite filmen, damit niemand sah, wie sie weinte. Am zweiten Tag drehte sie eine Doppelpenetration. Danach wollte Jessica aufhören. Aber stattdessen ging sie nach Amerika, wo die Gagen fünfmal so hoch sind. Sie kaufte der Mutter ein Apartment mit vier Zimmern nur für sie allein, da war Jessica 22, die Mutter verließ den Vater, bekam ein großes Auto von ihrer Tochter und mindestens einmal im Jahr lud Jessica die Mutter und die Schwester nach Ägypten oder Asien ein. »Immerhin habe ich mein Versprechen an meine Mutter noch eingelöst, bevor ich das Virus bekam«, sagt Jessica. Der Abend ist spät geworden und Jessica sitzt in ihrem Haus in Long Beach. Ihr kleiner Hund Botek ist bei ihr. Er ist ihr zugelaufen und hat vor allen Menschen furchtbare Angst, außer vor Jessica. Sie sagt: »Der Hund braucht mich. Das ist ein gutes Gefühl.« Sie wartet auf ihren Mann, einen muskulösen, schwarzen Hünen von Anfang vierzig. Er schiebt heute Nachtschicht. Seit Jessica kein Geld mehr verdient, muss er für beide arbeiten, tagsüber spielt er in Pornofilmen mit, nachts schmeißt er am Flughafen Koffer aufs Gepäckband. Er will seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, noch nicht mal seinen falschen, deshalb wird er hier John genannt. Jessica hat ihn vor fast zwei Jahren vor der Kamera kennen gelernt. Als sie erfuhr, dass sie sich mit HIV infiziert hatte, hielt John sie fest, aber Jessica konnte nur eins denken: Ich muss mich von John trennen, bevor der mich verlassen kann. Doch John hat sie am gleichen Abend mit zum Strand genommen. Jessica müsse jetzt ein neues Leben beginnen, hat er gesagt, und sie könne damit anfangen, indem sie ihn heirate. Er werde bei ihr bleiben. Ein paar Wochen später haben Jessica und John, die beide nicht so heißen, in Las Vegas geheiratet. An diesem Abend kommt John nicht. Es ist schon nach elf. Morgen Früh muss John eine Szene drehen, er mit zwei Frauen. Jessica graut es bei der Vorstellung, seit ihr neulich klar wurde, dass John bei diesen Drehs keine Kondome benutzt. Beim Sex mit ihr jedoch schon. Sie haben ausgemacht, dass er ihr von seiner Arbeit besser nichts mehr erzählt, aber meistens fragt sie dann doch. John fragt dann zurück, was er denn machen solle. Das weiß Jessica auch nicht. Ihr geht das Geld aus. Sie lässt sich in derselben Klinik behandeln wie der Basketballspieler Magic Johnson, die ist teuer, und zusätzlich kosten ihre Medikamente mehr als 1000 Dollar im Monat. Und dann noch die Anwaltskosten. Die belaufen sich inzwischen schon auf 10000 Dollar. Sie musste einen Anwalt beauftragen, denn das Gesundheitsamt registrierte ihre HIV-Infektion. Dadurch entdeckten Fahnder der Einwanderungs- und Steuerbehörden, dass Jessica Dee Hunderttausende Dollar illegal in den USA verdient hatte. Sie hat nun keinerlei rechtlichen Status mehr, dafür einen Haufen Steuerschulden. Würde sie das Land verlassen – sie dürfte nie wieder zurückkehren. Als John um zwölf noch immer nicht da ist, beginnt Jessica in ein paar Unterlagen und einem Haufen DVDs zu wühlen. Sie tut das manchmal, wenn sie allein ist. Dann versucht sie doch rauszufinden, auf welchem Film diese Szene ist, diese eine Szene, diese doppelte Analpenetration vom März letzten Jahres, die schuld an allem ist.