Als ich im Biergarten ankomme, sitzt er schon da, kein enger Freund, aber auch kein Bekannter, eher was dazwischen. Jemand, von dem man sich verstanden fühlt, den man aber nicht alle vier Wochen sehen muss, eigentlich reicht einmal im Jahr, dann aber gern drei, vier Bierchen plus zwei Gin Tonic einschließlich dem (immer wieder ernst gemeinten) Schwur, dass es diesmal kein Jahr dauern werde, bis man sich wiedersieht. Eigentlich hätte es mir die Woche drauf besser gepasst, aber das kennen Sie sicher, man hat jemandem zwei- oder dreimal hintereinander abgesagt und spürt, bei der nächsten Absage könnte was in die Brüche gehen, also zieht man es durch, obwohl man gestresst ist und am nächsten Tag früh rausmuss. Zehn Minuten später – wieder merke ich auf Anhieb, wie gern ich diesen Kerl habe – steht die Bedienung im Dirndl vor uns, in der Hand eines dieser digitalen Geräte, die mir viel komplizierter vorkommen als die kleinen rechteckigen Schreibblöcke, die es früher gab. »Was darf’s sein?«, fragt sie und schaut mich auffordernd an. Ich zögere kurz, dann sage ich: »Erst mal eine Apfelschorle.«
Es ist der Moment, in dem sich eine Spannung ausbreitet. Ein Gefühl, als würde sich die Zeit dehnen, alles scheint verlangsamt. Die Bedienung schaut mich an, tippt etwas in ihr Gerät, dann schaut sie meinen Bekannten an, der wiederum mich anschaut, und ich weiß nicht so genau, wen ich anschauen soll – die Wörtchen »erst mal« hängen zwischen uns in der Luft, ein bisschen halbgar, denn was sollen sie bedeuten? Dass ich erst meinen Durst löschen will, bevor ich bereit bin, es krachen zu lassen? Dass ich am Ende des Abends wenigstens ein Bier weniger getrunken haben will? Und warum eigentlich »erst mal«? Warum habe ich nicht »eine Apfelschorle« bestellt? Bin ich so uncool, dass ich meine Bestellung auf Teufel komm raus mit dem Versprechen verknüpfen muss, dass irgendwann später auf jeden Fall noch Alkohol auf den Tisch kommt?
Ich gehe auf die fünfzig zu, eigentlich bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, eigentlich sind wir alle zu alt, um Vorlieben oder Schwächen anderer zu kommentieren. Wer hat sich wie lange nicht gemeldet? Wer trinkt was? Wer trägt welche Schuhe? Wer wählt welche Partei? Dass diese Fragen keine große Rolle mehr spielen, liebe ich so am Älterwerden. Dass man darüber diskutieren kann, aber ohne Gefahr, dass man sich darüber entzweit. Dass man genau weiß, wer man ist, ohne es dauernd herzeigen zu müssen, indem man etwas tut oder sagt oder anzieht. Dass man macht, worauf man Lust hast, und der andere lässt einen, weil auch er macht, worauf er Lust hat, ohne dass es stirnrunzelnd kommentiert wird.
Und jetzt ist da dieser Rückfall, dieses entschuldigende »erst mal«, als wäre es nicht erlaubt, am Dienstagabend eine Apfelschorle zu trinken. Ich ahne, woher es kommt, denn eigentlich waren wir bislang immer, wenn wir uns getroffen haben, am Ende ganz schön angetrunken. Wir hatten es nie vereinbart, es war einfach immer lustig und ausschweifend, zwei Genießer, die zweimal im Jahr einen draufmachen. Ohne darüber nachzudenken, bin ich davon ausgegangen, dass es dazugehört, womöglich immer so sein muss, eine Art ungeschriebenes Gesetz. Ich schäme mich ein bisschen, weil es so uncool und eigentlich auch übergriffig ist, immerhin bilde ich mir ein, die Gedanken meines Gegenübers zu kennen, ach, das Ganze ist wieder so ein Moment, in dem man merkt, dass man nicht so frei und gelassen ist, wie man sich immer einbildet.
»Also«, fragt die Bedienung, »eine Apfelschorle, und du? Was darf ich dir bringen?« – »Ach«, sagt mein Bekannter, »sehr gute Idee, ich nehm auch eine Apfelschorle, ich muss morgen früh raus.«