Das Plätschern hilft. Nicht so ein prasselndes Niagara-Plätschern. Ein ganz sanftes. Plitsch, plitsch, plitsch. Es kommt von einem kleinen Springbrunnen. Davor sitzt eine Frau und gießt Tee ein. Meine Mutter und ich sind in einem Teeladen in Hongkong und machen eine kleine Zeremonie. Die Frau, die sich als May vorstellt, erzählt irgendwas von den sechs Schätzen, also den chinesischen Teesorten. Meine Mutter macht »Ahhh!« und »Mhmmm!« und knufft mir ans Knie, weil ich zwar auch »Ahhh« und »Mhmmm« mache, aber weniger enthusiastisch klinge, sondern eher nach baldigem Versterben. Zwölf Stunden im Flugzeug drücken auf meine Augen. Sehr feng-shui-mäßig brennen und tränen sie sogar gleichzeitig, ein Zusammenspiel der Elemente in perfekter Harmonie.
Meine Mutter ist eine dieser Carpe-diem-Urlauberinnen. Ihre Morgenroutine besteht aus Schminken, Frühstücken und Mich-aus-dem-Schlaf-Reißen. Danach carpedüsen wir durch die Stadt, die ganze Stadt, und nutzen den Tag, den ganzen Tag. Der beinharte Arbeitstag mittelalterlicher Franziskanermönche wäre für sie ein Spa-Urlaub. Am Ende bin ich total erschöpft und schlafe trotzdem schlecht ein. Nicht nur im Urlaub. Das geht schon fast 30 Jahre so.
Den ganzen Tag strudeln Informationen ins Hirn wie Wasser aus diesen Freibaddüsen, die immer von irgendeinem Opa blockiert werden. Natürlich bleibt nie das wichtige Zeug hängen. Dafür weiß ich, dass Donald Trumps Vize J. D. Vance seit 75 Jahren der erste US-Politiker im Rampenlicht ist, der einen Bart trägt. Angeblich tragen auch die meisten Milliardäre der Welt keinen. Einer dieser Leute, ein indischer Medientycoon mit glatt rasierten Wangen, flog zur Hochzeit seines Sprösslings die Sängerin Rihanna ein (im Gegensatz zu seinem Vater ist der Sohn aber bärtig). Rihanna hatte nach ihrem Hit Umbrella kategorisch alle Regenschirme von ihren Konzerten verbannt, aus Sicherheitsgründen. Apropos Sicherheit: Regenschirme sind eines der beliebtesten Objekte, die im sonst so höflichen und unkriminellen Japan vehement gestohlen werden. Es ist wirklich zum Mäusemelken.
Vor dem Schlafengehen schaue ich oft Videos zum Runterkommen. Wenn es ganz schlimm ist, gucke ich dem Bäckermeister Günther Weber zu, wie er ein Sauerteigbrot backt. Eine SWR-Doku. Teigkneten, Maschinenbrummen, Feuerprasseln, Webers Grummeln. 45 Minuten Lomi-Lomi-Massage fürs Gehirn. Klappt aber nicht immer.
Wie soll man nicht wahnsinnig werden in diesen Zeiten? Irgendwo haut sich irgendwer die Köpfe ein. Im Osten verbreitet sich die AfD, in Bayern der Braunbär und auf dem Schreibtisch die Rechnungen. Der ganze Tag besteht aus Waschen, entweder Wäsche, Teller, Autos, Kinder oder, wenn man Glück hat, sich selbst. Was soll da schon helfen?
»Weißer Tee«, sagt May. »Probieren Sie den mal.« Mit einer fließenden Bewegung gießt sie Tee aus einer Glaskanne. Er schmeckt viel milder als sein grüner Bruder. May erläutert ruhig Unterschiede zu Pu-Erh- und Oolong-Tee, dabei kocht sie Wasser auf, gießt ein, schüttet weg, gießt wieder voll, ein choreografierter Tanz. Ich weiß nicht, was in diesem Laden passiert, aber ich werde hypnotisiert. Während ich trinke und zuhöre, denke ich an Günther Weber. Wie es wäre, zusammen Sauerteig zu kneten und Mehl zu wiegen und das Feuer im Holzofen zu beobachten. Dabei krault er sich durch seinen Weihnachtsmann-Bart und erzählt Geschichten über Geduld und Zufriedenheit, was passend wäre, denn mit so einem Bart wird man statistisch weder amerikanischer Präsident noch einer der reichsten Menschen der Welt, aber das ist okay. Dann deckt er den Teig zu, und vielleicht auch mich, denn so ein Sauerteigbrot braucht Zeit zum Ruhen. Genauso wie wir.