Der Geschmack des Meeres

Salzwasser schmeckt fürchterlich. Trotzdem bleibt das Meer ein Ort der kleinen Wunder, den man mit allen Sinnen erleben kann.

Foto: Maurizio Di Iorio

Beim Kraulen im Meer, die Lunge schon leer, öffnet man den Mund, und statt Luft dringt eine Wellenspitze ein, der Atemrhythmus kommt außer Tritt, es bleibt nichts als Runterschlucken, weil Luft, Kraft und Körperlage gerade nicht zum Anhalten, geschweige denn zum Spucken gemacht sind. Aber selbst wenn man es mal absichtlich und in Ruhe kostet: Es schmeckt einfach nicht. Salzwasser aus dem Meer, das schmeckt wie Sardellenwasser, wie Kapernbrühe, wie Lecksteinlutschen. Klar, es variiert, je nachdem wo man probiert. In der Cala Santanyi im ­August schmeckt das Meer nach Sonnencreme. An der Ostsee im September nach kaltem, gesalzenem Holz.

Nur, wie kann etwas, was sich zum Trinken so schlecht eignet, auf jede andere Art so wunderbar sein? Man denke nur an eine ­optische Aufnahme. Diese weite, blaue Masse, die über die ganze Welt schwappt und mit ihrem Anblick so beruhigend wirken kann. Oder akustisch: die Wellen, die Brandung, das stetige ­Anplätschern, das leise An-Land-Rollen, das wilde Spratzen, das grollende Türmen, all die Varianten vom Rauschen sind wie ein Rausch. Und noch was: Am Meer scheint es immer diesen Ausweg zu geben – einfach hier bleiben! Ist ein Urlaub am Meer nicht ­eigentlich ein Baden in der Option auf ein anderes Leben mit Wind und Wellen? Warum sonst ist man dort so entrückt, so mutig, so befreit?

Und was ist mit der olfaktorischen Aufnahme? Während Salzwasser im Mund eine Plage ist, die nur Durst hinterlässt, ist der Geruch von Salzwasser eine Komposition. Salz und Steine, Tiefe und Kühle, Fisch und Fäule, Gischt und zerriebene Muscheln, warmer Sand und kühle Steinbecken, in denen das Salz schon Ränder hinterlässt. Und wie schön es ist, wenn nach einem Tag am Wasser der ganze Körper so riecht.

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Auch nicht schlecht: die Haptik von Salzwasser. Es beginnt ja lange, bevor man das Meer sieht, mit der leichten Schwere in der Luft. Wie getränkt alles ist, mit feuchtem Salz, das sich auf die Haut legt und sich ganz anders anfühlt als trockener, warmer Stadtwind oder würziger, wilder Bergwind. Anfangs wird nur sachte transportiert, was dann mit jedem Meter Annäherung ans Meer stärker wird: diese Feuchte, die aus winzig kleinen Tropfen Salzwasser besteht, die durch die Luft wirbeln. Ein Brandungsaerosol. Quasi Schwebesalz. Eingeatmet geht es durch alle Atemwege. Befreit sie. Beim Baden lagern sich auf der Haut bis zu zwei Gramm Salz pro Quadratmeter ab. Salz ist Heilung. Als Kind dachte ich, man schicke Kranke ans Meer, damit sie es wenigstens schön haben beim Sterben. Dann verstand ich, dass man am Meer eher nicht stirbt, und wenn man es doch muss, im Meer weiter­leben kann.

Magisch ist die Welt unter Wasser. Sonnenstrahlen kommen plötzlich von unten. Das Blau zeigt sich teilbar und verändert sich mit der Tiefe. Man durchtaucht Blauschimmer, Druckstufen und Temperatursedimente. Und ist nicht das Atmen beim Schwimmen eine ungezwungene Form von Meditation, weil sich hier alles ineinanderfügt: ­Atmung und Bewegung? Den ­Fischen schaut man ab, sich einfach reinzulegen, nur treiben, ­alles leicht sein lassen. Vielleicht ist das die therapeutische Wirkung von Salzwasser: Unter Wasser hat jede und jeder den Körper, den sie oder er will, ist regelrecht befreit von Ansprüchen. Hier kann sich alles bewegen, ohne bewertet zu werden, ein Flickflack-Versuch ist möglich, er klappt, wenn nicht, bleibt er ungesehen.

Und vielleicht besteht die Magie auch daraus, dass man ins Meer sein Handy nicht mitnimmt. Es ist der letzte Ort, an dem man nicht erreichbar ist. Zumindest nicht für andere.