Festhalten oder ziehen lassen?

Ein guter Silvesterabend besteht aus Raclette, einem guten Grappa zum Magenaufräumen – und ein paar Tränen um kurz vor zwölf. Aber woher kommen die? 

Foto: Erli Grünzweil

Eine meiner eindrücklichsten Kindheitserinnerungen sind Erwachsene, die an Silvester weinen. Früher dachte ich, das passiere, weil sie vergessen hätten, irgendwas zu besorgen. Das Dasein von »Großen« schien sich ganz generell um das Besorgen und Erledigen zu drehen. Als Jugendliche dachte ich, sie weinten, weil ihr Leben als Endvierziger so furchtbar zäh und öde sei, und konnte ihre Tränen gut verstehen. Heute weine ich selbst.

Irgendwann, wenn das Essen zu Ende ist und das konzentrierte Anwesendsein rund um die heiße Platte sich auflöst, wenn die Wege sich trennen, tut sich Ruhe auf. Satte, duselige, müde Ruhe, und wer nun nicht sofort tätig wird – rauchen geht, den Tisch abdeckt, sisyphös Konfetti aufsammelt, nach den verdächtig stillen Kindern guckt, eine Grappa-Runde vorbereitet, um die Mägen aufzuräumen –, der steht plötzlich mit ein paar Tränen da. Sooft es mir passiert ist, sooft ich es bei anderen beobachtet habe, so wenig war es jemals Thema. Dabei haben X-gehört-zu-y-Debatten ja inzwischen nationale Relevanz und identitätsstiftenden Charakter. Kein Weihnachten gehört sich ohne Baum. Kein Silvester ohne Böller. Kein Essen ohne Fleisch. Keine Land-Krankenschwester ohne Auto. Für mich gehören Tränen zum Jahreswechsel.

Alles, was man nicht klären konnte, schmerzt jetzt

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Zu erklären, warum, ist gar nicht so einfach. Ob nun in großen Runden oder in kleinen, ob es nun nett ist oder man sich die ganze Zeit fremd fühlt, es stürzen die Verletzungen des vergangenen Jahres noch mal über einen herein. All diese Selbstverstrickung in Schuld bei redlichstem Wollen. Ja, und auch die schuldige Verstrickung wegen unredlichen Unwillens. Alles, was man nicht klären konnte, schmerzt jetzt. Oder anders: Es schmerzte das ganze Jahr über, aber es ging ja immer weiter. Es schmerzte morgens, aber dann war Mittag. Es schmerzte an einem Mittwoch, aber dann kam ein Donnerstag. Es schmerzte an einem 31., aber dann kam ein 1. Es schmerzte im Frühling, aber dann kam der Sommer. Das Jahr setzte keine harte Frist, und so nahm man all die ungelösten Sorgen einfach weiter mit – zu all seinen Besorgungen und Erledigungen.

Und jetzt, an Silvester, stehen sie auf der Matte: Welchen Groll will ich mit ins neue Jahr nehmen? Welche Ansprüche waren zu hoch? Welche Träume haben sich nicht erfüllt? Welche Wünsche muss man begraben? Welche Kompromisse waren faul? Welche Lügen schaden uns? Was kann ich mir vergeben? Wem verzeihen? Jede Unwahrheit, jeder Fehler, jede Kleinlichkeit, Ungeduld, jedes genervte Abtun, Desinteresse, falsche Worte, blöde Blicke, Ängste, Kindertränen, jedes Abseitsstehen – alles kommt noch mal kurz vorbei und stellt die Frage: Festhalten oder ziehen lassen?

Die US-Band The National, die sich mit nichts so gut auskennt wie mit Dämonen, und das schon wirklich lange (»Sorrow found me when I was young«), singt über deren Wesen: »Alle meine ertrinkenden Freunde können es sehen. Es gibt kein Entrinnen mehr, alles ist mir eine Last geworden, ich wünschte, ich könnte mich davon freimachen.« Und genau das ist die Gefahr mit den Jahresverletzungen. Sie können zu schwer zum Tragen werden, und irgendwann zum eigenen Wesenskern, wenn man nicht aufpasst.

Meiner Erfahrung nach gibt es zwei Arten von Silvester-Weinern: die, die weinen, weil der Schmerz über dies und das so zäh ist. Die traurig sind und in diesem Jahr kein Unrecht loslassen können und sich deswegen – völlig zu Recht – total leid tun. Sie beweinen sich selbst. Und es gibt die, die sich ein Herz fassen und mit mehr Mut als Verstand den Kummer davonziehen lassen. Sie weinen vor Erleichterung. In manchen Jahren gehört man zu den Ersteren, in manchen zu den Letzteren, und oft weiß man es vorher nicht.