Die Angst in den Augen des Barkeepers

»Fass ohne Boden« nannte man unsere Autorin früher. Sie konnte fast jeden unter den Tisch trinken. Doch jetzt ist häufig nach zwei Gläsern Schluss. Ist das eine reine Alterserscheinung, oder steckt mehr dahinter?

Foto: Erli Grünzweil

Seit mehr als zwanzig Jahren lebe ich im schamlosen Vergnügungs­viertel unweit des Hamburger Hafens, da gibt es Rotlicht und Blaulicht, da wird ge­sungen und getanzt und sich in die Seiten ­gesprungen, da werden Herzen trainiert und zerkratzt, da geht rund um die Uhr alles, und ich kann ganz ohne Angeberei ­sagen, dass ich hier eine lebende Legende bin, weil ich bis vor Kurzem trinken konnte wie ein Loch.

Wenn ich in der Nähe war, wurden die Bars von innen abgeschlossen, und dann nur noch: Blinker links und Gas rechts, her mit dem Rum, dem Wodka, dem Gin, dem Wein, dem Bier, rauf auf den Tresen und ab zum Horizont. Die neuen, viel zu jungen Spieler des ortsansässigen Fußballclubs zum Beispiel wurden in den löchrigen Nächten mit mir archaischen Initiationsriten unterzogen; dass sie am nächsten Tag wieder auf dem Platz stehen mussten, war ihr Pro­blem. Die Gläsersammlung in meinem Küchenschrank besteht vor allem aus dickwandigen Longdrink-Gläsern, die ich, bis oben hin voll (Gläser und ich), in meiner Handtasche aus Kneipen geschmuggelt habe, weil meine Freunde nach Hause wollten, ich aber eben erst die fünfte schnelle Wodka-Schorle bestellt hatte. Meine Freunde hatten diese eine Regel: »Wenn du Simone aus der Kneipe kriegen willst, darfst du nicht sagen, komm, wir gehen, du musst sagen, komm, wir gehen weiter.« Und dieser eine Barbesitzer schaut mich heute noch aus der Ferne mit Ehrfurcht oder auch ein bisschen Angst an – er wechselt hektisch winkend die Straßenseite, wenn ich ihm entgegen­komme –, weil wir irgendwann mal abgemacht hatten, dass wir immer sofort einen Shot trinken, wenn wir uns zufällig treffen.

Ich schwöre, spricht man die Leute auf mich an, sagen sie: »O mein Gott, ja, ein verdammtes Fass ohne Boden, dunkle Materie für Alkohol und Vernunft, das verschwindet alles einfach in der.« Ich habe keine Ahnung, woher ich diese Begabung überhaupt hatte, und sie war auch ein bisschen mysteriös, meistens war ich nämlich nicht mal betrunken. Vielleicht kommt es daher, dass ich im Spessart aufgewachsen bin, die Waldluft könnte meine Leber mit Harz gesichert haben. Vielleicht ist es auch genetisch bedingt, die Geschichten meiner Mutter von früher gehen so: »… und dann hab ich uns nach Hause gefahren mit acht Obstlern, aber die Obstler waren nicht das Problem, das Problem war das Blitzeis!« Vielleicht bin ich nur als junge Frau in irgendwas rein­gefallen, eine Art Zaubertrank oder so, und jetzt lässt die Wirkung nach?

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Ich kann nämlich nichts mehr ab, meine rätselhafte Bierkutscherfähigkeit ist mir auf ebenso rätselhafte Art komplett abhandengekommen. Ich bin jetzt das typische »billige Date«, nach zwei Gläsern Wein weiß ich nicht mehr, was ich eben noch wollte, dann muss ich entweder ganz schnell zahlen, oder jemand organisiert mir ein Käsebrot und eine Cola. Wenn ich Freunden erzähle, dass ich am Abend ausgehe, und die dann wie üblich sagen, dass ich es nicht wieder übertreiben soll, antworte ich: »Keine Sorge, ich gehe nur ein Glas trinken.« Und wenn ich ein Glas sage, meine ich auch genau ein Glas. Denn schon nach zwei Gläsern treffe ich mich mit meiner Schallgrenze und am nächsten Tag mit ganz schlimmen Kopfschmerzen.

Wie hab ich mich über all die älteren Herren lustig gemacht, die beim Trinken mit mir unter den Tisch gerutscht sind – der schottische Skandal­autor, der Schlagzeuger der besten Band der Welt, der eine oder andere Chef von irgendwas. Sie alle waren Ziel meiner Hybris. Heute schäme ich mich dafür und denke: Ich bin wie ihr, ich bin sterblich.