Nachts allein vorm Kühlschrank

Für unseren Autor führt der nächtliche Weg ins Bad oft in die Küche, auf der Suche nach einem kalten Glas Orangensaft. Manchmal kommt es dort zu einem Kampf um Leben und Tod.

Foto: Erli Grünzweil

Seitdem ich auf die fünfzig zugehe, muss ich jede Nacht raus. Befinden sich Tee oder Bier in meinem Körper, manchmal sogar zweimal, meistens gegen halb drei und halb sechs. Brisanterweise komme ich auf dem Weg vom Schlafzimmer ins Bad an der Küche vorbei, was regelmäßig zu einem nervenaufreibenden Konflikt führt. Denn auf einmal ist da ein gewaltiges Verlangen nach einem Glas Orangensaft, gleichzeitig weiß ich aus Erfahrung: Wenn ich jetzt schwach werde, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ich später noch mal raus muss, und im Sommer ist das okay, aber im Winter ist es schrecklich, man fröstelt, der Fußboden ist kalt, womöglich hat man drei Stunden später einen Videocall.

Ich bin ein undisziplinierter Mensch. Heißt: Ich gebe dem Verlangen praktisch immer nach, schlurfe in die Küche, öffne den Kühlschrank, werfe einen Blick in dieses und jenes Fach, aber da ist weit und breit kein Orangensaft, lediglich ein Augustiner und eine Fruchtfliege auf einem Glas Himbeermarmelade. Es ist der Moment, in dem mein Durst von einem anderen, dringlicheren Gefühl abgelöst wird. Auf einmal ist da nur noch der Gedanke: Die Fruchtfliege muss gerettet werden.

Ich weiß wenig von Fruchtfliegen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich bei zwei Grad Celsius wohlfühlt, sie hat kein Fell und wirkt so verletzlich und ahnungslos, irgendwie rührt sie mich, und ja, wir alle sind nur Gast auf Erden, aber jämmerlich erfrieren, in einem Kühlschrank, im Münchner Glockenbachviertel – das klingt grausam. Ich greife also nach dem Marmeladenglas, aber in dem Moment fliegt sie los, dummerweise nicht nach vorne in die Freiheit, sondern nach hinten in Richtung Gewürzgurken, dann sehe ich sie nicht mehr, ich glaube, sie sitzt auf dem Boden, in der Nähe der abgelaufenen Eier.

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Es ist der Moment, in dem ich meinen Kühlschrank auszuräumen beginne, die Marmelade, die Gurken, die Butter, aber ich kann sie nicht entdecken. Ist sie an mir vorbeigeflogen? Soll ich zurück ins Bett gehen? Ein Blick auf die Uhr – es ist kurz nach halb drei –, und auf einmal bin ich richtig in Fahrt. Nein, ich muss mir sicher sein, alles andere wäre unverantwortlich, und einschlafen könnte ich sowieso nicht. Ich spüre jetzt eine Art Band zwischen diesem unschuldigen Tierchen und mir. Was, wenn es Familie hat? Eine Fruchtfliegenfrau oder einen Fruchtfliegenmann? Oder Kinder, die auf sie warten?

Für ein paar Sekunden denke ich darüber nach, ob Fruchtfliegen in eheähnlichen Verhältnissen leben, als sich auf einmal etwas bewegt: Ha! Das Biest versteckt sich zwischen dem ausziehbaren Gemüsefach und der Kühlschrankwand, ganz nah an den festgefrorenen Wassertropfen. Ich nehme das Fach heraus, fuchtle ein bisschen herum, aber da türmt sie schon nach oben und setzt sich auf die hinter einer Halterung verborgene Glühbirne. Offenbar habe ich es mit einer suizidalen Fruchtfliege zu tun. Warum begreift sie nicht, dass die letzten Minuten ihres ohnehin kurzen Lebens angebrochen sein könnten? Ich hasche nach ihr, versuche sie ins Freie zu scheuchen; kurz überlege ich, womit ich meine Finger anfeuchten könnte, um sie zu locken, aber keine Chance. Und sonderbar, Minuten später, als ich fast aufgegeben habe und einfach nur verzweifelt in meinen Kühlschrank starre, kreist sie ein letztes Mal durch die Kälte, als würde sie sich verabschieden wollen, und dann an meinem Gesicht vorbei in die Freiheit.

Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber ihr hinterherzuschauen macht mich für einen Moment glücklich. Ich räume den Kühlschrank wieder ein, stelle sein Thermometer auf acht Grad und lege mich zurück ins Bett, die Aktion hat 15 Minuten gedauert, trotzdem ist es unter der Decke noch ein bisschen warm.