Heute, gegen Ende des Sommers, zwischen sich verlangsamenden Tagen und dem sich ankündigenden Herbst, wollen wir über Literatur reden, denn genau wie Essen und Trinken gehört Lesen zu einer ausgewogenen Ernährung. Neuerdings wird viel über den weiblichen Körper geschrieben. Nicht nur über den Körper der jungen Frau, sondern über den Zustand, in dem sich der Körper befindet, wenn Frauen älter werden. Da sind wundervolle Texte auf dem Markt, etwa Miranda Julys Auf allen vieren. Jahrzehntelang lief diese Art von Literatur unter dem abwertenden Etikett »Menstruationsprosa« (danke, Marcel Reich-Ranicki!), aber jüngst retournierte Meike Feßmann im Tagesspiegel elegant: der »phänomenal feinnervige Roman« von Miranda July sei das zeitgenössische »Pendant zu Philip Roths Prostata-Prosa« (die ja bekanntlich Weltliteratur ist, so wie alle Bücher von Männern). Die allabendliche Menstruations-Weltliteratur meiner gleichaltrigen Freundinnen und mir geht so: »Alter, ich vertrag überhaupt keinen Weißwein mehr, mit Rosé läuft es auch nicht viel besser, immer SOFORTLY Kopfschmerzen, und Rotwein ist noch schlimmer.«
Nur, man muss doch irgendwas zu trinken haben, angesichts sich neigender Sommerabende und der fortschreitenden körperlichen Veränderung, die wirklich nicht nur Spaß bedeutet. Man kennt das von Ausdauersportlern, und was ist das Leben bitte schön anderes als ein Marathonlauf – einmal im letzten Drittel angekommen, ist regelmäßige Flüssigkeitsaufnahme unabdingbar. Jetzt sind Alkohol und Älterwerden natürlich keine gute Kombination, Alkohol ist sowieso nie Teil der Lösung, sondern eher immer Teil des Problems, aber ist ein zarter Rausch, ein lichtes Glimmern, eine Verdichtung des Moments, ein Überwinden der Zeit, gar ein Anhalten, nicht eine zwischendrin erlaubte Art, sich dem unerbittlichen Fortschreiten der eigenen Lebensuhr entgegenzustellen? Kurz: den persönlichen Spätsommer oder – von mir aus! – Herbst willkommen zu heißen? Um es mit dem Liedermacher Bernd Begemann zu sagen: Was macht Miss Juni im … na ja … September?
Ich finde, wir dürfen. Und ich möchte das bekräftigen mit dem Begriff, den vor einiger Zeit eine kluge Finnin aus Helsinki auf einen Pizzeriatisch warf, der Begriff war nicht weniger weltliterarisch als alles, was ich so von mir gebe, wenn die Tage kürzer werden: Ich fragte sie, wie alt sie sei, nachdem wir über Töchter, Söhne und lebenslanges Lernen gesprochen hatten. Sie strich sich die schweren, roten Locken aus der nachdenklichen Stirn und sagte, sie sei in diesem Jahr 50 geworden, und sie fügte hinzu: »Just entering the Queen Age.«
Königinnenalter, Königinnenzeit. Das klingt nach starken Farben, nach Rot, fast Purpur, nach dickwandigen Gläsern, nach klirrenden Eiswürfeln, nach bitterer Süße mit einem Spritzer Frische, voilà – Campari Soda auf Eis mit einer Limettenscheibe. Meine Freundin Eva, Königin von sehr viel, ist auf diese Art der Weißweinfalle entkommen, oft trinkt sie sogar die alkoholfreie Variante. Mit meiner Freundin Jule, Königin des Freiwasserschwimmens, saß ich in diesem Sommer an einem warmen Abend vor einer Bar, wir tranken Campari Soda und hatten uns gerade der etwas plumpen Avancen zweier junger Männer erwehrt, die unsere Kinder hätten sein können. Wir fragten uns, ob wir auf den Schreck doch noch einen schnellen Weißwein bestellen sollten, aber sie sagte: »Ach, es war so ein schöner Tag, es war so ein schöner Abend, gehen wir schlafen und überlassen wir die Nacht den Jüngeren.«
Es ist Jahre her, dass ich zum letzten Mal einen Schornsteinfeger geküsst habe. Eine Weile trauerte ich dieser verlorenen Angewohnheit hinterher, aber inzwischen bin ich bereit, so wie die Nacht und den Weißwein auch die Schornsteinfeger den jungen Frauen zu überlassen.