Hätte meine Mutter eine grammatische Lieblingsform, dann wäre es wohl der Imperativ, aber wir reden nie über deutsche Grammatik. Wir reden darüber, dass ich mir die Hände waschen, einen Schal anziehen, Obst essen, Klavier spielen oder mir endlich diese Haare abschneiden soll. Vor allem die Haare triggern sie schon ewig. Lang würden sie mir doch gut stehen, sagt sie, wie bei André Rieu, diesem Fernseh-Geiger mit den güldenen Locken, dem steht das doch auch, warum sollte mir das nicht auch stehen, probier es doch mal aus. Seitdem bin ich skeptisch bei langhaarigen Männern und Streichmusik.
Unerbittlich war sie dagegen mit dem Orangensaft. Als Kind presste sie mir jeden Morgen ein frisches Glas. Sie tat das, weil Orangen viel Vitamin C enthalten und Vitamin C gut fürs Immunsystem ist. Jeden Morgen stand sie in der Küche, schaltete die elektrische Saftpresse ein und weckte mich mit einem tiefen, dunklen BRRR-BRRR-BRRR, das sich aus den Tiefen dieser Höllenmaschine in meinen Hörkanal brannte.
Es war keiner dieser frischen Orangensäfte, die in Kristallkaraffen am KaDeWe-Buffet mit einem Knirschen aus dem Eis gehoben werden. Dieser war lauwarm. Das Fruchtfleisch schwamm oben und hatte eine schlotzig-kotzige Konsistenz, das Zeug wollte ich genauso schnell runterhaben, wie es wieder hochwollte, also trank ich den Saft in einem Rutsch wie Romeo sein Gift. Leider nicht nur einmal. Oft trank ich, weil die Diskussion ja eh nichts brachte. Durch Taschengeld und Internetzugang saß sie am längeren Hebel. Oft keimte aber auch mein neues Ich auf. Dieses Ich war überzeugt, dass alle Welt sich gegen mich verschworen hatte. Frisch gebadet im Morgentau der Selbstfindung wappnete ich mich, gegen diese brüllende Ungerechtigkeit anzukämpfen. »WARUM?«, schrie ich dann, das Glas mit dem Orangensaft vor mich haltend wie einen Degen, »warum tust du mir das an? Wieso kann ich nicht einfach Orangensaftkonzentrat trinken wie alle anderen Kinder auch?« – »Weil du gesund bleiben sollst«, sagte sie.
Heute weiß ich, dass das Generve nur einem Zweck diente: So zeigte meine Mutter ihre Liebe
So kurz und knapp fielen die Antworten immer aus. Warum der Schirm? Weil du nicht nass werden sollst. Ein Apfel, weil du nicht von Pommes leben kannst. Klavier spielen, weil deine Finger mehr können als Playstation spielen. Und manchmal, und diese entschieden nichtssagende Lakonie ging mir besonders auf den Sack: »Ich will nur das Beste für dich.« Heute weiß ich, dass das Generve nur einem Zweck diente: So zeigte meine Mutter ihre Liebe. Ja, der Bengel von damals war ein undankbares Biest. So sind sie eben in dem Alter.
Vor einiger Zeit habe ich sie in die Oper eingeladen: Rigoletto, Logenplätze, Sekt in der Pause, Träumchen. Aber statt im Staatstheater standen wir zu Hause vor ihrem Kleiderschrank.
»So kannst du nicht gehen«, sagte ich.
»Was stimmt denn damit nicht?«, fragte sie und zupfte an ihrer Jeans und Regenjacke.
»Das ist Gartenkleidung!«
»Na, und? Ist doch eh dunkel im Saal.« Sie ging ins Bad, ich folgte ihr.
»Wann warst du das letzte Mal beim Friseur?«, fragte ich. »Deine Haare sind ganz trocken.«
Sie antwortete nicht.
»Welches Shampoo benutzt du? Doch nicht dieses Chemiezeug, oder? Ich kenne ein veganes, ich schicke es di-«
»Ich HABE ein Shampoo!«, rief sie und schubste mich aus dem Bad.
»Probier es doch wenigstens aus!«, antwortete ich.
Wir redeten nicht viel im Auto. Sie hatte sich tief in den Sitz gedrückt und wischte auf dem Handy herum. Chinesische Volksmusik dröhnte überlaut aus dessen Lautsprechern.
»Ich will doch nur das Beste für dich«, sagte ich. Sie zog eine Schnute und stülpte sich die Regenkapuze über ihren Kopf.
So sind sie eben in dem Alter.