Wermutstropfen

Ist Wermut überhaupt noch ein Getränk – oder vielmehr die gerade sehr angesagte Hoffnung auf Heilung von den großen und kleinen Leiden des Lebens?

Foto: Maurizio Di Iorio

Ständig wird ja irgendwo etwas Altes hervorgekramt und als das neue große Ding gehypt. Die Mode der Neunzigerjahre, die Serie Sex and the City, sozialdemokratische Kanzlerschaften. Oder das Getränk, das gerade wiederentdeckt wird: Wermut. Man kann inzwischen in keine Bar mehr gehen, ohne mindestens drei Sorten Wermut auf der Karte zu finden. Ein Lifestylemagazin nach dem anderen erklärt den mit Gewürzen, Kräutern oder Früchten aromatisierten und mit Alkohol verstärkten Wein zum Trend. Wermut ist der neue Gin.

Das sieht man schon an den Hipster-Namen, die neuerdings auf Wermut-Flaschen stehen, »Wirmut« oder »Helmut«. Aber das heißt nicht, dass das Alte schlecht sein muss. Der Würzwein hat sogar ein ziemlich gutes Update bekommen. Wermut ist nicht mehr nur die Flasche Martini Bianco oder Rosso aus dem Supermarkt, die ich von Teenager-Partys in Erinnerung habe, als man unbedingt Alkohol trinken wollte, den Geschmack von Bier oder Schnaps aber nicht abkonnte. Sondern es gibt inzwischen auch Wermut, der von Traditionsbetrieben und Manufakturen hergestellt wird. Man muss dafür nicht einmal in die typischen Wermut-Regionen Italien, Frank­reich oder Spanien gucken. Selbst in Deutschland gibt es inzwischen tollen Wermut, aus Riesling-Spätlese, pfälzischem Rotwein-Cuvée oder südbadischem Rosé.

Stefan Weber, einer der Betreiber der Berliner »Victoria Bar«, sagt, dass Wermut überhaupt zu seinen liebsten Alkoholika gehört. Weil er nicht so stark ist und man so viel damit machen kann. Weber serviert ihn ganz klassisch als Aperitif, mit einem Spritzer Wasser, Eis und Orangenschalen. Weißen Wermut gießt er mit Champagner zu einem Cocktail auf oder mixt ihn mit Tonic Water, als leichtere Alternative zu Gin Tonic.

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Ich finde vor allem die Entstehung des Wermuts interessant. Der typische Wermutgeschmack kommt vom Wermutkraut. Es wird seit der Antike als Heilpflanze verwendet und gegen Übelkeit, Rheuma, Gicht, Entzündungen, Kopfschmerzen oder Menstruationsbeschwerden eingesetzt. Stefan Weber sagt, dass viele der alten Familien, die früher den Wermut herstellten, auch Apotheker waren.

Wermut ist also ein Getränk, das man nicht von seinem medi­zinischen Hintergrund trennen kann. Bei dem man automatisch Gesundheit, Krankheit und all das mitdenkt, was damit an Hoffnung und Hoffnungslosigkeit verbunden ist. Damit passt es genau in eine Zeit, in der alles darauf abgeklopft wird, was für eine gesundheitliche Wirkung es hat oder auch nicht. In der man kaum einen Gedanken mehr fassen kann, ohne vorher auf medizinische Statistiken, Kranken­hausbelegung, Impfquoten zu gucken.

Wenn man sich die Dinge schönreden wollte (und man wird sich in diesem neuen Pandemie-Jahr vieles schönreden müssen), könnte man sagen: Wermut ist eigentlich keine Spirituose, sondern fast ­Alternativmedizin. Aber natürlich sollte man sich nicht zu oft was schönreden, schon gar nicht den eigenen Alkoholkonsum. Belassen wir es also dabei: Die meisten Wermutsorten haben einen ganz bestimmten Nachgeschmack. Herb und bitter. Das macht den Wermut nun aber wirklich zur idealen Begleitung der allgemeinen Corona-Stimmung.