Negroni trank manchmal zwanzig Negroni täglich

Der Negroni soll vor 100 Jahren erfunden worden sein, doch die Italiener diskutieren immer noch über seine Herkunft. Ein Barkeeper aus Florenz hat nachgeforscht. Im Gespräch erzählt er die Geschichte von Camillo Negroni – der sich in New York inspirieren ließ, selbst Fan des Cocktails wurde und möglicherweise an einem Leberschaden starb.

Heute gibt es viele verschiedene Varianten, um einen Negroni zu mixen. Die Inspiration für das Grundrezept holte sich der Italiener Camillo Negroni (oben) vermutlich in New York – dort lernte er die Kombination aus Wermut und Bitters kennen.

Foto: Campari

SZ-Magazin: Herr Picchi, Sie wollen den legendären Erfinder des Negroni als Graf Camillo Negroni identifiziert haben. Einige Leute behaupten, der war’s gar nicht, Sie hätten den Grafen erfunden.
Luca Picchi: Das ist sehr merkwürdig. Immer noch. Erst letzte Woche hat jemand in einer italienischen Tageszeitung aus Novara wieder verbreitet, den Negroni aus Florenz hätte es nie gegeben, vielmehr sei ein gewisser Carlo Negroni der Erfinder, der hätte im Piemont im gleichen Haus mit einem Café gelebt, in dem ein  Bitter erfunden wurde, einen Beleg dafür liefert er allerdings nicht. Die Misere startete vor zwölf Jahren mit einer Geschichte von einem Marichal Pasquale Negroni aus Korsika, der den Negroni erfunden hätte. Ein Amerikaner und ein französischer Blogger stecken hinter der Kampagne gegen mich, ich kenne sie beide, sie verfolgen finanzielle Interessen.

Haben Sie Beweise, dass Ihr Graf es war?
Selbstverständlich. Ich besitze beweiskräftige Dokumente und Fotos. Zum Beispiel eine Karikatur, die Camillo Negroni mit Cowboyhut zeigt und ihn auf der Rückseite als Erfinder des Negroni tituliert. Das Datum lautet 1926, der Negroni muss also zuvor erfunden sein.

Wann sind Sie auf diese Zeichnung gestoßen?
1999. Im Jahr 2000 habe ich bereits die erste Ausgabe meines Buchs veröffentlicht, noch ohne Negronis genaue Lebensgeschichte zu kennen, ich habe nur Gerüchte festgehalten, die unter Barkeepern kursierten. Meine Suche begann ich bereits im Jahr 1996, nachdem mir verschiedene Lehrmeister von der Legende Negroni erzählt hatten, allerdings niemand einen Beweis dafür hatte. Ich startete meine Recherche mit Camillos Geburts- und Todesurkunde und fand sein Grab auf einem kleinen Friedhof in Florenz.

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Sie waren sich von Beginn an sicher, dass der Graf tatsächlich der Erfinder sei?
Ja. Mein Lehrer hatte das Gerücht schon in den fünfziger Jahren gehört, vom Sohn des Barkeepers, dem Camillo Negroni erklärt hatte, wie er seinen Drink haben wolle, Fosco Scarselli, der war schon immer eine Ikone in der Stadt, auch wenn er heute noch viel berühmter ist. Ich suchte auch den Sohn von Fosco Scarselli auf, Franco, er war ebenfalls wie sein Vater Barkeeper. Als ich Franco kennenlernte, war auch er schon ein alter Mann. In seiner Jugend hatte er zwei Sommer im Capannina in Forte dei Marmi gearbeitet, das war eine Art Discococktailbar, in der man auch Darts oder Schach spielen kann. In den dreißiger Jahren war das Cappanina ein sehr bedeutender Ort und Treffpunkt für die Agnelli-Familie, wer konnte, der zog an die Nordküste der Toscana mit ihren tollen Villen und schönen Stränden. Während des Krieges war die Bar ein Schmugglerparadies, reiche Leute konnten da alles kaufen, Brot, Fleisch, Kaviar. Die Polizei hat weggesehen. Franco bestätigte, dass sein Vater Negronis für den Grafen Negroni gemixt hatte.

Barkeeper Luca Picchi aus Florenz machte sich auf die Suche nach dem Erfinder des berühmten Negroni.

Foto: Lars Reichardt

Was haben Sie außer der Karikatur gefunden?
Der schlagende Beweis ist ein Brief eines engen Freundes von Camillo, der das Datum Oktober 1920 trägt. Er ist auf englisch geschrieben, Camillo wuchs zweisprachig auf, seine  Mutter stammte ja aus England. Negroni hatte diesem Freund in London viele Bücher verkauft, die er geerbt hatte, sein Haus war damals nicht groß genug für die gesamte Sammlung. Sein Freund war besorgt, dass Negroni zuviel trank und schrieb ihm deshalb: My dear negroni, you must not take more than 20 negroni a day!

Negroni trank mehr als zwanzig Negroni am Tag?
Man mixte den Negroni damals noch nicht so, wie wir ihn heute kennen: auf Eis und in großen Gläsern. 20 Negroni wären zwei Liter am Tag, das schafft niemand. Die damaligen Negroni-Gläser fassten nur etwa ein Drittel der heutigen Menge. Dieses Dokument nennt Negronis Nachnamen und den Namen des Drinks zugleich. Ich bin mir mit allen Fachleuten über die Bedeutung des Briefes einig. Ich habe mit David Wondrich gesprochen, einem New Yorker Experten, der darüber geforscht hat: auch mit Jared Brown aus England und dem Italiener Fulvio Piccinino, der hat je ein Buch über Gin, Wermut und Amaro geschrieben, also sozusagen den Negroni auf Papier. Mit all diesen Kollegen habe ich meine Quellen ab 2005 geteilt, um absolut sicher zu gehen. Ich wusste ja, dass meine Ergebnisse angegriffen werden würden.

Wie kommen Sie auf das Jahr 1919 als Entstehungsdatum des Negroni?
Der Drink musste laut dem Brief aus England vor dem Jahr 1920 erfunden worden sein. Fosco Scarselli, der Barkeeper, kämpfte im ersten Weltkrieg, 1917 floh er zu Fuß aus Kriegsgefangenschaft in Österreich und begann Ende dieses Jahres mit kaum 19 Jahren im Cafe Casoni in Florenz zu arbeiten. Der Negroni kann nicht vor 1918 erfunden worden sein, und nicht später als 1920. Niemand kennt das genaue Datum, an dem der Negroni erfunden wurde, aber das Jahr 1919 ist ziemlich wahrscheinlich.

Wer hat Ihnen den englischen Brief gegeben?
Lamberto Negroni hat mir das Papier überreicht. Er ist einer von vier Söhnen des Umberto Negroni, des einzigen Sohnes von Camillo Negroni. Lamberto kontaktierte mich nach Veröffentlichtung der ersten Auflage meines Buches 2001, damals war es noch ein Büchlein, mittlerweile ist es ja in der vierten Auflage und wird von Mal zu Mal dicker und hat schon 200 Seiten. Lamberto lebt im Piemont. Seine Kinder in der Nähe Modena. Der Sohn und ein Enkel haben dort die gleiche Militärschule besucht wie einst Camillo.

Camillo ist nach seiner Zeit beim Militär für beinahe zwanzig Jahre in die USA ausgewandert. Warum?
Er befand sich in einer delikaten Situation. Er hatte während seiner Offiziersausbildung eine Liebesbeziehung, war aber noch unter 21 und damit minderjährig. Seine Freundin wurde schwanger und starb bei der Geburt. Die beiden adeligen Familien betrachteten das als Skandal und Umberto Negroni wuchs unter dem Namen der Mutter auf. Camillo muss sehr unter der Situation gelitten haben, er kämpfte mit seinem Stiefvater und seinem Großvater, schließlich floh er in die USA. Er sprach ja perfekt englisch, war ein Experte in Pferdedingen. Dort arbeitete er in Kanada auf einer Ranch als Cowboy und zog 1889 nach Wyoming. Ich nehme an, dass er sehr wohlhabend war, er bezog ja finanzielle Unterstützung von Zuhause und konnte es sich leisten, mit der Arbeit aufzuhören. In New York lebte er sieben Jahre und lernte dort Leute wie Bob Fitzsimmons, einen großen Boxer und Spieler, kennen. Mein Kollege Wondrich hat seine Spur dort gefunden und auch seine genaue Adresse: Negroni, Camillo, 624 Madison Avenue. Das war ja ein bedeutender Augenblick für seine persönliche und die Geschichte des Cocktails. Negroni konnte den Negroni später nur aufgrund seiner New Yorker Erfahrung erfinden, in der er Wermut mit Bitters kennenlernte. Als Negroni nach Italien zurückkehrte, mixte kaum jemand irgendeinen Drink mit Eis.

Es gab damals keinen Kühlschrank.
In Italien bis in die fünfziger Jahre nicht, im Süden noch länger. Aber das war nicht der entscheidende Punkt. Man lagerte in Florenz schon zuvor Eis in Erdlöchern ein, das benutzte man allerdings nur für eine Art Limonade im Sommer. Im Jahr 1919, als Negroni Fosco Scarselli im Cafe Casoni gebeten haben muss, seinen Americano etwas mit Gin aufzupeppen, haben sie wohl auch Eis dafür benutzt.

Der Americano ist älter als der Negroni?
Der Americano ist der Vater des Negroni. Allerdings hat der damalige Americano wenig mit der heutigen Version zu tun: Er wurde in einem kleinen, mit Blumen verzierten Glas serviert, in der Form eines Gognacglases, und stammt vom Wermut al bitter ab, das kann man bei Strucci nachlesen, der Ende des 19 Jahrhunderts in Turin Wermut-Experte war. In den Wermut kann man einen Schuss Bitter kippen, oder Brandy, Amaro, Gin – jedenfalls war die Tatsache, zwei Dinge zusammen zu mixen, für Italiener neu und deswegen nannte man das american style. Die erste Hauptstadt Italiens nach dem Krieg mit Deutschland, Österreich, Ungarn, in dem man Triest verlor, war ja von 1861 bis 1865 Turin, später zog die Regierung erst nach Florenz und dann Rom, damit verbreitete sich der Americano in ganz Norditalien, bis sich Negroni zu Wermut und Campari Bitter dann auch Gin zu gleichen Teilen reinmixen ließ.

Wann wurde der Negroni über Italien hinaus populär?
Nach dem Weltkrieg ist er im Italien der fünfziger Jahre zu neuem Leben erweckt worden. Rom war die Hauptstadt des dolce vita. Die Amerikaner haben damals einige Filme in Cinecitta gedreht. Mussolini hat das Gelände einst als Werbung für seinen Faschismus gebaut, am Ende des Krieges war es billig zu haben und die Amerikaner schufen ihr kleines Hollywood, drehten Ben Hur oder Roman Holiday („Ein Herz und eine Krone“) mit Audrey Hepburn, ein wichtiger Film, wie auch La dolce vita von Fellini, alles Filme, die eine Renaissance italienischer Kultur ermöglichten. Viele dieser Hollywood-Stars tranken Negroni. In den fünfziger Jahren wurde auch schon der erste Negroni-Twist erfunden: der Cardinale, mit trockenem Wermut, so rot wie ein Kardinalsmantel, viel heller als das Original, in das roter Wermut kommt.

War das die Hochzeit des Negroni?
Die ist eher heute. Amerikaner haben lange nur süßes, cremiges Zeugs mit Sirup getrunken, furchtbar. Aber Ende des letzten Jahrhunderts änderte sich das mit dem Aufkommen der Mixologen. Jetzt ist der Negroni der populärste Drink in den USA und weiten Teilen der Welt.

Wieviele verschiedene Varianten gibt es?
Millionen. Jeder Barkeeper macht seinen eigenen Twist.

Was war Camillo Negroni für ein Mensch? War er den ganzen Tag betrunken?
Nein, das glaube ich nicht. Er trank sicherlich viel, aber wurde nie betrunken oder gar ausfallend geschildert. In einem amerikanischen Medizinjournal wurde ja mal ein Chromosom entdeckt, mit dem man mehr verträgt als der Normalverbraucher. Sie schaffen vielleicht zwei Negroni, ohne völlig betrunken zu werden, ich vielleicht vier, danach bekomme ich Probleme, andere schon nach einem kleinen Schluck. Negroni muss dieses Gen gehabt haben.

Musste Negroni nie mehr arbeiten, nachdem er als Cowboy gekündigt hatte?
Nach seiner Rückkehr aus den USA um die Jahrhundertwende blieb er acht Jahre in der Toskana und arbeitete in Bolghari, einem Weingut mit Pferdeställen in der Toskana, bevor er nach Florenz ging. Er war ja Spieler und setzte dort natürlich auch auf Pferde. In Florenz hörte er endgültig auf zu arbeiten. Seine Mutter hatte nach dem Tod seines Vaters erneut geheiratet, reich geerbt und alles Camillo und seiner Schwester vererbt, darunter einige großartige Villen. Er ging bald nur noch auf die Jagd und trank. Gegen Ende seines Lebens bekam er ernsthafte gesundheitliche Probleme.

Die Leber?
Ich vermute. Er hörte jedenfalls auf zu trinken. 1934 starb er mit 66 Jahren.

Haben Sie Ihre Recherchen über Graf Camillo Negronis Leben abgeschlossen?
Nicht ganz. Wir drehen gerade einen Film: Auf der Suche nach Negroni soll er heißen. Er soll im September in Venedig gezeigt werden. Wir mussten zuletzt noch in New York und Kuba drehen. Eine Rai-Produktion, eine Art Doku-Drama, historisch, aber mit einigen erfundenen Szenen.

Warum Kuba?
Eines der ersten schriftlich festgehaltenen Negroni-Rezept stammt aus Kuba, aus einer Bar, die sich nach Negroni benannt hat. Allerdings schreiben sie den Namen falsch, mit e am Ende, Negrone.

Ein Rezeptvorschlag

Signora Negroni, von Charles Schumann

Foto: Campari

2 cl Campari
2 cl Gin
1 cl Sake
2 cl Cocchi Vermouth di Torino

1. Gin, Sake und Vermouth di Torino im Rührglas auf Würfeleis rühren und in eine Cocktailschale abgießen.
2. Campari auf Würfeleis schaumig schütteln, danach langsam über die verrührten Zutaten floaten.