Dorothee Bär, Expertin für Flugtaxis und frisch gekürte Staatsministerin für Digitales, hat kürzlich mit einer Aussage zu sozialen Medien einiges Aufsehen erregt: Auf Twitter seien im Grunde bloß Politiker, Journalisten und Psychopathen unterwegs, und Facebook sei nur noch ein Tummelplatz alter Leute. Das ist natürlich überspitzt und leicht zu widerlegen, immerhin haben allein in Deutschland mehr als dreißig Millionen Menschen einen Facebook-Account, rund zwei Millionen sind Schätzungen zufolge bei Twitter aktiv. Deutschland müsste schon von enorm vielen Greisen und Psychopathen besiedelt sein, damit das zahlenmäßig aufginge.
Viel wichtiger aber ist, dass Bär in ihrer Aufzählung eine wichtige Gruppe übersehen hat. Neben all den Selbstdarstellern, Wutbürgern, Witzbolden, Selfie-Schnitten, Trollen und Aphoristikern gibt es im Internet eine unterschätzte Macht: das Heer der stillen, unsichtbaren Zuschauer. Sie posten und twittern nicht, sie kommentieren, retweeten, teilen, faven und liken nichts, sie lesen nur alles, von den entgleisenden Diskussionen, die in großbuchstabige Beleidigungstiraden münden, bis zu mehr oder weniger lustigen und interessanten Posts und Tweets. Sie registrieren mittelmäßige Urlaubsschnappschüsse, Kommentare zum aktuellen Tatort und alle möglichen Versuche, das politische Tagesgeschehen zu kommentieren. Sie sind immer da. Sie scrollen. Sie bewerten still für sich selbst. Vielleicht lächeln sie. Vielleicht verdrehen sie die Augen. Vielleicht hassen sie. Ein wenig unheimlich ist das schon. Wenn man jeden Abend in der Kneipe mit jemandem am Tisch säße, der nie, niemals etwas sagt, würde man sich ja auch Sorgen machen.
Wie viele stille Teilhaber es gibt, lässt sich schwer sagen, mit genauen Zahlen rücken Facebook und Twitter nicht heraus. Studien, etwa der Hamburger Beratungsagentur Faktenkontor oder des britischen Marktforschungsunternehmens Global Web Index, zeigen: 40 bis 60 Prozent der Facebook-Nutzer posten nie oder fast nie, obwohl sie sich regelmäßig einloggen. Etwas aktiveren Social-Media-Nutzern fällt ja auch auf, dass die eigenen Posts dauernd von denselben Leuten kommentiert werden.
Auf stille Teilhaber trifft man nur im analogen Leben, und meistens sind es peinliche Momente: Wenn man beim Klassentreffen nach zwanzig Jahren lauter Leute wiedersieht, über die man nichts mehr weiß, die sich ihrerseits aber erstaunlich gut im Privatleben von einem selbst auskennen. Oder wenn man einen Magen-Darm-Virus vortäuscht, um eine fade Geburtstagseinladung absagen zu können, dann vergisst, bei Facebook die Ortskennung auszuschalten, und das Geburtstagskind am nächsten Tag andeutet, dass sich Magenkrankheit und »All-you-can-eat«-Sushi ja eigentlich nicht so gut vertragen. Oder wenn eine Freundin erzählt, sie hätte am Abend mit ihrem Mann gestritten, weil der den ganzen Tag lang schweigend, aber mit wachsender Wut alle #MeToo-Debatten im Internet verfolgt und dann zu Hause »Mein Gott, wir sind nicht alle sexistische Arschlöcher, okay?« gebrüllt habe – nur, weil man ihn bat, den Müll runterzubringen.
Wissenschaftlich ist belegt: Die passiven Nutzer sind unglücklicher als die aktiven
Vermutlich haben die stillen Teilhaber ganz unterschiedliche Motive für ihre Zurückhaltung. Die einen sind bei Facebook und Twitter, weil alle da sind, und jetzt schauen sie halt ab und zu eher widerwillig vorbei, um auf dem Laufenden zu bleiben. Für andere ist Social Media wie eine Orgie, bei der sie lieber schüchtern am Rand stehen: fasziniert von all dem schmutzigen, lauten Getümmel, aber mitmachen? Niemals! Für wieder andere ist es unter ihrem Niveau, sich mit Leuten anzulegen, die sie für Idioten halten: Sie beobachten das Gemetzel wie die Senatoren in der Loge den Gladiatorenkampf, manchmal amüsiert, oft angewidert.
Gesund ist die stille Teilhabe nicht, so viel lässt sich sagen. Die Humboldt-Universität zu Berlin, die TU Darmstadt, auch die University of Michigan und die Carnegie Mellon University haben alle in ähnlich aufgebauten Studien untersucht, wie sich die Nutzung von sozialen Medien auf das persönliche Wohlbefinden und die Stimmung auswirkt. Die Forscher baten Probanden, sich aktiv auf unterschiedlichen sozialen Medien zu beteiligen, während die Vergleichsgruppe nur lesen, aber nicht mitmachen durfte. Und tatsächlich: Die passiven Nutzer fühlten sich anschließend deutlich unzufriedener und unglücklicher als die aktiven Nutzer.
Klar, wer sich immer nur anschaut, an welchem Traumstrand Andrea und Tobias gerade Liebesurlaub machen und wie »runtastisch« Michael gerade gejoggt ist, der empfindet Neid, ohne seinerseits ein bisschen soziale Bestätigung durch ein paar Likes zu bekommen. Und wer sich dort herumtreibt, wo es im Internet schmutzig zugeht, wo gestritten und gepöbelt wird, saugt nur negative Energie ab, ohne sie seinerseits online zu kanalisieren – womöglich bleibt ihm oder ihr da kaum etwas anderes übrig, als die schlechte Laune dann im analogen Leben an den Mitmenschen auszulassen. Tatsächlich dürfte es für das Überleben der Menschheit von Vorteil sein, dass bislang niemand Donald Trump den Zugang zu seinem Twitter-Account gesperrt hat: Vermutlich käme der Mann ohne sein digitales Wutventil auf die Idee, sich mal eingehender mit dem Atomköfferchen zu beschäftigen, das ihm den ganzen Tag hinterhergetragen wird.
Aber die stillen Teilhaber schaden nicht nur sich selbst. Sie schaden, wenn man das so pathetisch sagen darf, auch der Gesellschaft. Wenn im echten Leben gepöbelt, beleidigt und Unsinn behauptet wird, dann wünschen wir uns alle, dass jemand einschreitet. Und das Internet ist ein Teil des echten Lebens. Wir bräuchten digitale Kommentatoren mit gut entwickelter Impulskontrolle, die nicht im Affekt Beleidigungen in die Tastatur hämmern – von denen gibt es ja schon genügend, und die Vehemenz, mit der sie gegen Flüchtlinge oder Feministinnen hetzen und Angela Merkel aus dem Amt jagen wollen, lässt ihr gesellschaftliches Gewicht größer erscheinen, als es ist. Inzwischen ist erwiesen, dass die übelste Hetze im Internet von vergleichsweise wenigen Akteuren ausgeht: Nur fünf Prozent aller Accounts sind für fünfzig Prozent aller Likes unter Hasskommentaren verantwortlich. Wenn viel mehr Menschen dem primitiven Gebrüll einen hintergründigen Witz oder ein kluges Argument entgegenstellen würden, dann würde sich die tatsächliche Idiotenquote der Bevölkerung auch im Internet viel realistischer abbilden.
Soziale Medien sind ein perfektes Trainingsfeld, wenn man lernen will zu argumentieren
Das Internet bietet uns die Chance, mit denen in Kontakt zu treten, die wir uns im analogen Leben vom Hals halten. Dazu müssen wir uns nicht in die U-Bahn setzen und in ein anderes Stadtviertel fahren. Ein paar Klicks genügen, und schon ist man raus aus der Filterblase. Tatsächlich ist ja nicht das Internet, sondern unser analoges Leben die eigentliche Echokammer, weil wir uns im Alltag viel mehr mit Leuten umgeben, die wir mögen und deren Ansichten wir teilen. Das macht soziale Medien zu einem perfekten Trainingsfeld, wenn man lernen will, mit Andersdenkenden zu streiten und zu argumentieren: Man kann schnell ein paar Zahlen und Fakten googeln, wenn man unsicher ist, man kann sich Zeit nehmen – und so den Umstand -austricksen, dass einem die wirklich geistreichen Sprüche immer erst hinterher einfallen.
Das heißt nicht, dass man sich allein dem Mob zum Fraß vorwerfen muss. Auch im analogen Leben muss niemand mit einem »Refugees welcome«-T-Shirt in eine Neonazikneipe marschieren, um seine Zivilcourage zu beweisen. Aber nur herumzustehen, zu gaffen und die Arbeit anderen zu überlassen, ist schlechter Stil. Und wer sich nicht exponieren will, wer gerade keine guten Argumente oder keine Lust hat, der sollte diejenigen unterstützen, die es tun. Also eine Art digitale Rettungsgasse bilden und mit einem Retweet oder einem Like den guten, eloquenten und besonnenen Stimmen im Internet mehr Raum verschaffen.
Vielleicht sollten die vielen stillen Teilhaber des Internets das Mitmachen als einen Akt der Körperpflege verstehen: So wie man sich nach dem Toilettengang die Hände wäscht, muss man in sozialen Medien wenigstens mit ein paar Klicks zum Wohle aller etwas Digitalhygiene betreiben. Je mehr mitmachen, desto weniger Dreck häuft sich im Netz.