Ich wollte nur unseren Urlaub buchen. Danach brauchte ich ihn noch dringender. Nicht, dass booking.com, das Portal, auf dem ich das kleine Hotel an der italienischen Riviera entdeckt hatte, mich nicht gewarnt hätte. »Letzte Buchung: vor 21 Minuten!«, rief es gleich zu Anfang. Gutes Zeichen, dachte ich noch, so schlecht kann das Haus nicht sein. Als ich unsere Reisedaten für die Sommerferien eingab, poppte oben rechts ein kleines Fenster auf: »Drei Personen sehen sich gerade diese Unterkunft an!« Oh. Unser Hotel? Ich wurde nervös. Irgendwelche Leute da draußen saßen jetzt auch an ihren Computern, schauten auf dieselbe Hotelterrasse mit den karierten Deckchen und waren auf dieselbe hausgemachte Lasagne scharf. Ich klickte das Familienzimmer mit Balkon an. »Letzte Chance! Nur noch ein Zimmer verfügbar!«, blinkte mir booking.com entgegen. Hastig zog ich meine Kreditkarte aus dem Portemonnaie. Mein Mann sagte etwas, ich hörte nicht hin. Ich vertippte mich einmal, zweimal – wie zum Teufel soll man sich konzentrieren mit drei Personen im Nacken? Dann endlich: Geschafft!
Was ich im Eifer des Gefechts leider überlesen hatte: Das Familienzimmer war nicht im hübschen Haupthaus, sondern im Nebengebäude untergebracht. Den Hof teilten wir uns mit der gut besuchten Dorfbar. Im Urlaub schliefen unsere Kinder mit Umberto Tozzi statt dem »kleinen Eisbären« ein.
Wer hat vor zehn Jahren, als Online-Shopping in Mode kam, noch gleich behauptet, das »e« bei e-commerce stehe auch für »e« wie entspannt? Weil man jetzt alles bequem von zu Hause einkaufen könne, ganz in Ruhe, ohne Gedränge und Einkaufsstress? Mag sein, dass das mal so war. Doch seit immer mehr Anbieter miteinander konkurrieren und sich immer neue Verkaufsstrategien einfallen lassen, habe ich das Gefühl, ebenfalls permanent im Wettstreit zu stehen. Ich gegen den Rest der Welt. Alle wollen die schönsten Hotels, die günstigsten Flüge, die neuesten Sandalen von Valentino. Ständig heißt es: Dieser Artikel ist wahrscheinlich bald vergriffen! Dieses Hotel bald ausgebucht! Nur noch drei Plätze verfügbar! Die Dringlichkeit erinnert mich an Weltuntergangsfilme mit Tom Cruise, ähnlich irrelevant, trotzdem überaus erfolgreich.
Klar: Alles, was knapp ist, wirkt begehrenswerter. Das Gesetz der Knappheit, wie es in der Volkswirtschaft heißt, machte sich schon das Shopping-TV zunutze, wo eine Einblendung oder der Moderator die Restmenge dramatisch wie einen Countdown runterzählen. Im Internet funktioniert das Prinzip besonders gut, weil man den Lagerbestand quasi in Echtzeit mitverfolgen kann. Ob die Sachen wirklich bald ausverkauft sind? Wer weiß das schon. Zumindest beim Online-Secondhandshop »Vestiaire Collective« erscheint bei manchen Artikeln zuerst ein »Gerade in einem anderen Warenkorb« und dann ein ehrlich mitfühlendes »Oops, verkauft!« Wer nicht schnell genug ist und noch hadert, geht leer aus – oder muss mehr zahlen: Einige Reiseportale nutzten angeblich Cookies auf den Seiten ihrer Besucher, um eine mehrmals aufgerufene Flugverbindung rasch teurer zu machen.
Ähnlich beliebt: die sogenannte Fristentaktik. Online-Boutiquen wie mytheresa.com oder net-a-porter.com bieten laufend versandkostenfreies Bestellen an – aber nur für kurze Zeit. Neulich bekam ich von yoox.com eine Mail mit einer Rabattaktion für drei Tage. »Sie haben noch Zeit«, stand da groß, und weiter unten: »Achtung! Morgen sinkt der Rabatt.« Digitale Drückerkolonnen.
Warum sollen gestresste Kunden eigentlich gut fürs Geschäft sein? Weil Konsumenten unter Zeitdruck meistens keine rationalen Kaufentscheidungen mehr treffen, sagen Psychologen. Im Gehirn werden Botenstoffe ausgeschüttet, die das Denken abschalten und uns zu schnellen, urtümlichen Reaktionen veranlassen. Das dritte Paar schwarze Pumps, das kanariengelbe Seidenkleid – wirklich dringende Käufe, die seitdem kaum getragen in meinem Kleiderschrank verstauben.
Wahrscheinlich ist meine Generation der Mittdreißiger besonders anfällig: Dieses gehetzte Geklicke von Seite zu Seite erinnert mich sehr an meine Commodore-64-Zeit. Ich mit ungefähr zwölf, als kleiner Drache beim Spiel Bubble Bobble, der von Level zu Level versucht, alle Obststücke möglichst schnell in seinen Rachen zu bekommen. Wenn man zu sehr trödelte, heulte eine Sirene auf, am Bildschirm erschien »Hurry up!«. Danach lief die Musik doppelt so schnell, und die Figur fing an zu blinken. Das virtuelle, von der Realität entkoppelte Einkaufen am Computer weckt auf ähnliche Art unseren Spieltrieb. Und je schwieriger uns die Sache gemacht wird, desto eher denken wir: Jetzt erst recht! Wir wollen einfach gewinnen. Wenn man ein besonders günstiges oder seltenes Teil schließlich ergattert hat, fühlt sich das Gekaufte an wie eine Trophäe.
Die Sachen, die wir doch haben stehen lassen, werden uns jetzt freundlicherweise hinterhergetragen. Die einmal angeklickten Plateausandalen verfolgen einen als penetrantes Werbebanner bis auf die entlegensten Webseiten. Neulich hatte ich bei einer Online-Boutique ein Kleid in den Warenkorb gelegt, es dann aber doch nicht gekauft. Zwei Tage später bekam ich eine E-Mail. Betreff: »Nur zur Erinnerung«: »Sie haben bereits eine großartige Auswahl getroffen. In Ihrem Warenkorb befindet sich noch folgendes Produkt. Lassen Sie sich diese Chance also nicht entgehen und loggen Sie sich gleich ein, um den Einkauf abzuschließen.« Funktioniert das? Denkt da wirklich jemand – ach, stimmt! Meine großartige Wahl! Booking.com übrigens schickt mir gerade laufend Erinnerungen, dass Mailand auf mich warte, weil ich für diesen Text noch einmal meine letzte Buchung dort aufgerufen habe.
Ich weiß, ich kann sämtliche Cookies regelmäßig löschen. Oder einfach nicht mehr online einkaufen. Stattdessen stelle ich mir jetzt aber immer vor, all die Imperative würde mir eine Verkäuferin im Laden an den Knopf knallen. »Es überlegen sich gerade drei Personen, diese Bluse zu kaufen! Schlagen Sie zu!« Oder sie wäre es, die mich mit den Plateausandalen in der Hand überallhin verfolgt. Würde ich dann etwas kaufen? Sicher nicht. Und wenn auf einer Kleiderstange einsam ein einzelnes Kleid baumelt, denke ich auch nicht: »Letzter verfügbarer Artikel!«, sondern viel eher: »Oops, Restposten!«
Illustrationen: Leonhard Rothmoser