Der gesellschaftliche Erfolg von Journalismus, hat der Soziologe Niklas Luhmann geschrieben, bemesse sich an der »Durchsetzung der Akzeptanz von Themen«. Wendet man diese Definition auf Spiegel Online an, dann handelt es sich in der Tat um eine sehr erfolgreiche Publika-tion: Die auf der Einstiegsseite in sechs bis acht rote Hauptschlagzeilen gemeißelte Verdich-tung der Nachrichtenlage gilt inzwischen
einem Millionenpublikum als adäquates Abbild des Weltgeschehens.
Das Nachrichtenangebot von Spiegel Online gehört heute zum Kanon der tagesaktuellen Leitmedien, wie die Tagesschau oder Bild. Es ist zur Selbstverständlichkeit geworden und markiert eine neue Normalität im Journalis-
mus. Durchgesetzt hat Spiegel Online damit auch eine Akzeptanz für seinen Tonfall und seine Themenmischung. Spiegel Online, 1994 gegründet, ist zur Reichweiten-Großmacht aufgestiegen. Innerhalb der letzten sechs Jahre hat sich die Zahl der Site-besuche etwa verzwölffacht. Die Homepage wird wöchentlich von 2,4 Millionen Lesern genutzt. Pro Tag protokolliert der Server im Schnitt 2,3 Millionen Besuche und 13 Millionen Seitenabrufe. Seine Online-Konkurrenz hat Spiegel Online deklassiert. Wenn es um die Reichweite geht, konkurriert die Site mit der überregionalen Tagespresse auf Papier.
Dabei war der Erfolg ganz und gar unwahrscheinlich: Überall in der westlichen Welt werden die führenden Online-Nachrichtenangebote von Tageszeitungen oder TV-Sendern betrieben. Ausnahme ist allein Deutschland, wo sich ausgerechnet die Tochter eines Wochen-magazins durchzusetzen vermochte. Es müssen also einige Besonderheiten zu dieser Konstellation geführt haben.
Die Spiegel Online-Seite war fast immer die erste: die erste mit einem Forum beim Online-Dienst CompuServe, die erste mit eigenständigen Online-Inhalten, das führende Angebot im Markt. Diese Position wurde immer weiter ausgebaut. Als Spitzenreiter genoss Spiegel Online die klassischen Netzwerkeffekte sich selbst verstärkender Aufmerksamkeit.
Der Erfolg ist zudem eine direkte Folge des Zauderns überregionaler Tageszeitungs-Verleger. Ihre Titel wären online die eigentlichen Wettbewerber der Site. Doch aus Angst vor der eigenen Schwächung, aus Geringschätzung für das neue Medium und infolge der Anzeigenkrise Anfang des Jahrhunderts haben sie sich dem Netz nur sehr zögerlich zugewandt – bis jetzt: Seit einem Jahr suchen mehrere Titel einen Anschluss. Ein langwieriger Lernprozess ohne schnelle Erfolge, wie sich nun zeigt.
Der Erfolg von Spiegel Online ist vor allem auch der Erfolg seines Chefredakteurs Mathias Müller von Blumencron. Der 47-Jährige verbindet den kühl-charismatischen Führungsstil eines Ole-von-Beust-Hanseatentums mit der selbstkritisch gebrochenen Wachheit eines Harald Schmidt. Die FAZ lobte Müller von Blumencron für seinen »Gestaltungswillen als Blattmacher«. Seine Redaktion lobt seine Kultur der Ansprechbarkeit und Offenheit.
Müller von Blumencron kam im Jahr 2000 vom Magazin in die Online-Redaktion und hat entsprechend gute Kontakte zum Mutterhaus. Während sich Mitbewerber noch in Technikprojekten verzettelten oder ihre zweite Garde für Online abordneten, setzte er frühzeitig auf journalistische Profilierung. In den Krisenjahren vermochte er die knauserige Mitarbeiter KG des Spiegel von weiteren Investitionen zu überzeugen. Dabei war die Poleposition für einen erstaunlich günstigen Preis zu haben. Rund 25 Millionen Euro pumpte der Spiegel-Verlag laut Branchenkennern über zehn Jahre lang in seinen Online-Ableger – bevor 2006 die ersten Millionen zurückflossen. Auch Spiegel Online profitiert nun von einem prosperierenden Banner-Werbemarkt, dessen Volumen sich in den letzten beiden Jahren fast verdoppelt hat. Die formatfüllende Anzeigenfläche rund um die Einstiegsseite kostet mittlerweile 44 000 Euro – pro Tag. Sie ist fast immer ausgebucht.
Die herausragenden Kennzeichen des Spiegel Online-Journalismus sind ein Tonfall, der in Schlagzeilen wie »Brown startet das Blair-Switch-Projekt« oder »Pannen-Beck verpokert sich« gipfelt, und eine Themenmischung, bei der eine US-Wahlanalyse direkt neben einer neckischen Reportage über russische Multi-millionäre und einer Reflexion über sinnlose PC-Tasten stehen kann. Müller von Blumencron hat dieses Prinzip einmal als »Schwingen« der Website beschrieben – als durchkomponierte Mischung aus nachrichtlichem, analytischem und unterhaltendem Journalismus.
Im Milieu des traditionsbewussten Tagesjournalismus spielt Spiegel Online die Rolle
des geachteten Flegels.
Bei professionellen Beobachtern löst die Manier des Portals leichtes Naserümpfen aus: »häufig zu lärmend« oder »manchmal zu überdreht« sind typische Bemerkungen. Spiegel Online hat die Grenzen zwischen Nachrichten, Boulevard, Feuilleton, Reportage und Kommentar niedergerissen. Die Trennung von Qualitäts- und Boulevardjournalismus ist porös geworden. Als Mario Vargas Llosa kürzlich schrieb, der Journalismus des Spektakels kontaminiere zunehmend die seriöse Presse, hätte er dies über Spiegel Online gesagt haben können.
Auch die Internetausgabe nutzt jene »Sprache des Spiegel«, die Hans Magnus Enzens
berger in seinem epochalen Essay vor einem knappen halben Jahrhundert entlarvt hat. Die damals wie heute wirksame Ideologie des Magazins, laut Enzensberger eine »skeptische Allwissenheit, die an allem zweifelt außer sich selbst«, hat Spiegel Online übernommen. In den Schlagzeilen wimmelt es zudem, wie im Mutterblatt auch, von unkonventionellen Metaphern, abgewandelten Phrasen, Alliterationen und Wortschöpfungen (etwa »Schröder verrubelt seinen Ruf«, über die berufliche Tätigkeit des früheren Kanzlers, oder »Statist im Intrigantenstadl«, über Bayerns SPD). Der Spiegel Online-Stil giert nach drastischen Begriffen mit möglichst großem Abstand zur Nachrichtendiktion; »meutern«, »vergrätzen«, »vorknöpfen«, »abblitzen«, »terrorisieren«, »sticheln« oder »flirten« sind Krawall-Verben, die für Überschriften gern verwendet werden.
Mathias Müller von Blumencron leugnet nicht, dass Spiegel Online manchmal zu polternd daherkommt: »Wir stellen die Site ständig um. Da kann uns im Tagesverlauf der Tonfall schon mal verrutschen.« Auch in der Redaktion ist die Frage, wie viel Ernsthaftigkeit erforderlich und wie viel Boulevard verträglich ist, ein ständiges Thema. Müller von Blumencron hält Glaubwürdigkeit und Seriosität für unveräußerliche Fundamente journalistischen Erfolgs, wendet aber ein: »Gutes Verkaufen kann doch kein Fehler sein.« Ein Redakteur ergänzt: Ob man die Schlagzeile vom »Blair-Switch-Projekt« gut oder überdreht fände, sei doch letztendlich nur eine Geschmacksfrage.
Geschmacksfrage? Jeder journalistische Stil hat seine spezifische Grammatik des Aussagbaren, sein Schema der Weltvermittlung. Story-Journalismus kann dabei zu einer Masche degenerieren, die vor allem sich selbst dient und recht wenig der Sache. Im Kern stellt sich die Frage der Angemessenheit: Kann Spiegel Online sein Millionenpublikum verantwortungsvoll und meinungsbildend informieren? Oder entführt die Site ihre Leser vor allem in ein Gag-Universum mit hohem Erregungs- und Zerstreuungswert – wenn Gabriele Pauli zur »Latex-Landrätin«, Horst Seehofer zum »Superstar« und Heiligendamm zum »Klima-Showdown« wird, damit die Zeilen besser flutschen?
Spiegel Online ist in dieser Entwicklung ebenso Getriebener wie Treiber. Das Internet hat den Journalismus weiter ökonomisiert. Die Konkurrenz ist haarsträubend. Die umfriedete Geistlichkeit des Journalismus der alten Bundesrepublik ist dahin. In diesem Umfeld hat Spiegel Online sein Amalgam des neuen Mainstreams entwickelt. Ein gehobener Journalismus mit Instinkt, versiert in der zeitnahen Einordnung.
Eine Institution der klassisch-aufklärenden bürgerlichen Publizistik fehlt bei Spiegel Online bemerkenswerterweise fast völlig: der reine Kommentar. Diese Leerstelle ist einerseits der Spiegel-Tradition geschuldet. Seit Rudolf Augsteins Tod ist die Stelle des Kommentators unbesetzt geblieben. Andererseits weicht die Site dem häufig etwas spröden, besserwisserischen Kommentar-Format auch gern aus.
Der Story-Journalismus ist populär und bei den Redakteuren beliebt. So können sie Deutungen kurzweilig einflechten, ohne sie explizit zum Diskussionsgegenstand zu machen. Spiegel Online-Journalismus entsteht in einer gediegenen Stimmung beschwingter Überarbeitung. Fast 70 Redakteure arbeiten inzwischen im Schichtbetrieb in der Hamburger Zentrale, ein Dutzend weitere in Berlin, und jeweils einer in München, New York und Beirut. Zuletzt wurde die audiovisuelle Abteilung aufgestockt. Der hohe Textdurchsatz, das Gebot zur schnellen Redaktion und zu kontinuierlichen Updates, das Einrieseln der Nachrichten auf mehreren Kanälen zehrt an der jungen Redaktion. Spiegel Online ist eine Journalismus-Galeere, fraglos. Unterstrichen wird dies durch den typischen Redaktionseinrichtungsstil pragmatischer Tristesse: graue Schreibtischinseln in Großraumbüros, umgeben von vollgestopften Regalen und reichlich Kabelgewirr.
Das alles kann einer Aura von stolzer Betriebsamkeit aber keinen Abbruch tun. Die Redakteure wirken leicht berauscht, ihren Job sehr gut oder zumindest leidenschaftlich zu machen. Im Internet wird Aktualität zum Dauerlockstoff des Journalismus. Die Leser synchronisieren sich über den Tag hinweg mehrmals mit der Nachrichtenlage. Der inneren Logik des Journalismus folgend ist dies nur konsequent. Es geht um Neuigkeiten. Und Neuigkeiten entstehen nicht nur einmal am Tag. Nachrichtensites, wie Spiegel Online, sind darauf optimiert, den Lesern mindestens drei- oder viermal am Tag neuen Lesestoff zu bieten. Im schlechtesten Fall taumeln die Leser – getrieben von dem Gefühl, dass ständig etwas passiert und sie nichts verpassen dürfen – durch die Pseudo-Ereignisse, ohne eine Vorstellung von Relevanz zu entwickeln. Im besten Fall erschließt das Internet einen viel spezifischeren, viel präziseren Zugang zu den Themen.
Die Nutzungsintensität von Nachrichtensites ist – bei hoher Reichweite – allerdings noch immer atemberaubend gering. 35 Seiten pro Woche rufen Spiegel Online-Nutzer im Schnitt ab. Rund zwölfmal davon allein die Einstiegsseite. Die Aufenthaltsdauer pro Tag und Nutzer beträgt laut Nielsen NetRatings im Schnitt eine Minute und zehn Sekunden. Deutlich mehr schafft selbst NYTimes.com nicht. Die Werte der Konkurrenzsites der überregionalen Qualitätspresse hierzulande liegen unter 30 Sekunden am Tag. Online-Journalismus findet unter der sehr glaubhaften Androhung des Publikums statt, die Aufmerksamkeit schon bald wieder zu entziehen.
In solch einem Umfeld bekommt das Thema »Anpassungsjournalistik« eine neue Bedeutung. Die Betreiber von Online-Nachrichtenangeboten können in Echtzeit messen, wie häufig die einzelnen Artikel gelesen werden.
Zwar beteuern Online-Redakteure grundsätzlich, sich bei Themenauswahl für die Einstiegsseite von Relevanz und nicht von Klickraten leiten zu lassen. Das Wissen um die Mechanik des Klick-Erfolgs infiltriert dennoch zwangsläufig ihre Arbeit. Gerade für Online-Journalisten ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, dass Journalismus sich verkaufen muss.
Die Klick-Ökonomie funktioniert ganz einfach: Spiegel Online, so lässt sich verkürzt überschlagen, erzielt pro Seitenabruf einen Werbe-erlös von 0,4 Cent. Ein Text, der 100 000 Mal abgerufen wird, erwirtschaftet folglich 400 Euro. Veranschlagt man für Technik, Verwaltung und Vermarktung einen Kostenanteil von 35 Prozent, so bleiben an Mitteln für Redaktion noch 260 Euro. Jeder Text, der mehr als 0,26 Cent pro Seitenabruf kostet, macht Verlust. Um die Wirtschaftlichkeit zu wahren, kann man entweder günstiger pro Seitenabruf produzieren oder die Zahl der Seitenabrufe erhöhen. Den Gewinn maximiert man, indem man den Abstand zwischen Kosten und Anzeigenumsatz pro Seitenabruf maximiert. Klicks in konsumrelevanten Umfeldern wie Reise oder Auto sind besonders viel wert.
Doch Spiegel Online macht mehr, als nur das journalistisch Wünschenswerte mit dem wirtschaftlich Notwendigen zu verbinden. Das Angebot als – ganz im Wortsinne – »tonangebende« Site ist in der Lage, die Vorstellungen seines Publikums mitzuprägen. Den Spiegel Online-Leser hat es nicht schon immer gegeben. Er wurde im Verlauf der letzten Jahre erfolgreich generiert. Es ist ein Leser mit hoher Toleranzschwelle gegenüber Flapsigkeit, der kurzweiligen Nachrichten-Unterhaltung nicht abgeneigt.
Dieser Leser wird nun zur Ausgangsbasis eines neuen Journalismus-Selbstverständnisses. Spiegel Online färbt ab: auf die unmittelbaren Mitbewerber im Internet, aber auch auf die Qualitätspresse. Mit Spiegel Online wird »Spiegeligkeit« universell im deutschen Journalismus, die typische Erzählhaltung zum dominanten Schema. In Österreich oder in der Schweiz klingt Online-Journalismus anders. Spiegel Online wirkt prägend auch auf die Tagespresse, weil deren Journalisten neben dem dpa-Ticker nun immer auch die Auswertung durch Spiegel Online beobachten.
Für Müller von Blumencron ist Spiegel Online noch immer ein Entwicklungsprojekt in der Entfaltung. Das Angebot sei weiterhin ein »zartes Gewächs«, noch lange nicht am Ziel: »Wir sehen heute noch nicht, was Online-Journalismus am Ende sein oder ausmachen wird.« Mit weiter wachsenden Ressourcen werde er zu weiteren Stärken finden können. Den Schlagzeilen-Kalauer vom »Blair-Switch-Projekt« übrigens hat Spiegel Online augenscheinlich bei der englischen Presse abgeschrieben. Manchmal kopieren die Hamburger einfach nur besser als andere.
Der Autor ist Journalist und hat über spiegel.de und andere Nachrichten-Sites promoviert.