Benjamin O.*, 14, hat Blut an den Fingerspitzen, als er die erste E-Mail tippt. Im Internet-Netzwerk wer-kennt-wen.de schreibt er: »Meine Nichte ist missbraucht worden von ihrem Erzeuger. (…) Das Wohl und die Gesundheit der Kinder interessiert weder die korrupte Regierung. Noch Gericht. Noch Jugendamt. Hilfe bekommt man nirgendwo!!!« Dann beißt er vor Anspannung wieder in seine Fingerkuppen.
Es ist der 4. März 2009, 14.25 Uhr, der Augenblick, in dem Familie O. beginnt, einen Killer im Internet zu suchen. Zwölf Antworten kommen noch am selben Tag. Francesco B., 46, ein Tierpfleger aus dem Rheinland, schreibt: »Sag nur Name und Ort desjenigen, Benjamin, und das Ding ist bald gegessen. L.G.« Als Kind sei er selbst missbraucht worden. Er will helfen. Benjamin O. fühlt sich verstanden. Er hat kaum Freunde, aber ein DSL-Kabel in seinem Zimmer im Keller. Hier surft er tagsüber in Foren über Freizeitparks und schaut nachts Rammstein-Videos. Er antwortet dem Fremden, schreibt ihm Namen und Adresse.
Oben im Haus wohnen seine Mutter Margit O., 55, arbeitslos, und seine Schwester Nancy, 29, auch ohne Job, mit ihren drei Kindern, fünf, vier und ein Jahr alt. Die Frauen wissen: Nancys Kinder wurden nicht von ihrem Vater missbraucht. Trotzdem lassen sie Benjamin die Anschuldigungen im Internet schreiben, sie sagen nichts, als sie seinen Forenbeitrag bei wer-kennt-wen.de lesen. Margit und Nancy wollen verhindern, dass der Vater die Kinder regelmäßig sehen darf. Fünf Jahre waren er und Nancy ein Paar. Als sie sich 2005 trennten, gab es Streit um das Sorgerecht. Margit und Nancy haben Benjamin von einem angeblichen Missbrauch erzählt.
Im März 2010, ein Jahr nach Benjamins erster Mail, wird eine Richterin im Landgericht Köln über Margit O. sagen, sie sei die treibende Kraft hinter dem Verbrechen gewesen. Ihr Anwalt Carsten Göthel wird sagen: »Frau O. hat nur versucht, für ihre Tochter da zu sein.« Fest steht: Auch Margit O. nimmt Kontakt zu Francesco B. auf, die beiden freunden sich an.
Der Mailverkehr füllt einen Aktenordner. Ein eindeutiger Mordauftrag findet sich darin nicht, nur Andeutungen. Francesco B. schreibt an Margit O.: »Bin von Herzen aus bereit, sehr vieles für euch alle zu tun.«
Die ganze Familie will, dass Francesco B. aus Düsseldorf zu ihnen in die Eifel kommt. Benjamin schlägt den 14. Mai für ein Treffen vor, Nancy kauft eine Fahrkarte und Margit O. schreibt: »Wir hätten Dich natürlich sehr gerne wenn es gänge vorgestern hier :-)«
Kurz vor seiner Reise bekommt Francesco B. eine Mail aus dem Keller: »Es herrscht Alarmstufe Violett!!! (…) Nun muss was getan werden. (…) Wir bitten dich her zu kommen und es zu verhindern, das er den Kindern schlimmes antut.«
Das ist nun der Moment, in dem virtuelle Welt und Realität aufeinandertreffen. Aus all den Mails, den Lügen und Behauptungen im Internet wird eine Bedrohung für ein Leben. Francesco B. kommt am Abend des 14. Mai bei Familie O. an, ein stämmiger blonder Mann, mit rauen Händen. Sein Vater war bei einer italienischen Mafia. Francesco B. zeigt Benjamin sein Klappmesser.
Was im Haus der Familie passiert, ist unklar. Sicher ist, dass Margit O. zu Francesco B. sagt, Nancys Ex-Freund müsse »lebenslang zum Pflegefall werden, nicht mehr sprechen und essen, nur noch aus einer Schnabeltasse trinken können«. Francesco B. sagt: Er wird alles klären. Die Staatsanwältin spricht später von einem Mordkomplott. Die Richterin sieht dafür nicht genug Beweise.
Francesco B. fährt nach Köln zur Wohnung von Nancys Ex-Freund, einem 44-jährigen Baumarktverkäufer. Als er die Tür öffnet, sticht Francesco B. zwölfmal auf ihn ein. Er brüllt dabei: »Du missbrauchst keine kleinen Kinder mehr.« Vier Stiche treffen die Lunge, aber der Ex-Freund überlebt. Die Nachbarn rufen die Polizei, Francesco B. versucht wegzurennen, als sie ihm Handschellen anlegen, ruft er immer wieder: »Er hat es verdient!«
Drei Tage später kommt die Polizei zu Familie O. Benjamin passt gerade auf Nancys Kinder auf, Margit O. wird mit Lockenwicklern zum Revier gebracht. Dann werden Nancy und Benjamin verhört.
»Ohne Internet wäre alles wohl nicht passiert, aber ohne Internet wäre es auch nicht so schnell aufgeklärt worden«, sagt Christoph Klein, Benjamins Anwalt. Francesco B. wird wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten verurteilt, Margit O. wegen Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung zu vier, ihre Tochter Nancy zu drei Jahren Gefängnis. Benjamin muss 120 Stunden in einem Altenheim arbeiten, sein Computer wird beschlagnahmt. Er lebt jetzt bei seinem Vater.
Bei wer-kennt-wen.de gibt es kurz nach der Tat einen Eintrag von Margit O.: »Ein offenbar psychisch gestörter Mann hat versucht einen Menschen zu töten. Das ist so schrecklich, dass unsere Familie völlig am Boden zerstört ist!! Bitte passt alle auf, damit ihr nicht auch so einem Psychopaten bei euren Diskussionen erwischt.«
Es ist der letzte Eintrag. Familie O. ist jetzt offline.
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Illustration: Christoph Niemann