Sascha*: »Ey, Digga, lass mich, ich will nicht!«

Er will nicht mit uns reden. Vor sieben Jahren sprach Sascha offen über seine Eltern und dass sie viel tranken. Jetzt hat er immerhin einmal zurückgerufen.

Sascha mit 13: Weil er nicht mehr im SZ-Magazin porträtiert werden will, zeigen wir auch sein Gesicht von damals nicht mehr.

Das Treppenhaus hat sich nicht verändert, es nimmt einem immer noch den Atem. Es stinkt nach faulem Obst. Damals stürmte Sascha* diese Treppen hoch und sperrte die Tür zur Wohnung seiner Eltern auf. Da saßen sie und tranken. Etwa 15 Bierdosen standen auf dem Wohnzimmertisch. Sascha war damals noch nicht im Stimmbruch, seine Stimme piepste, aber sein Vater hatte ihm beigebracht, immer mutig seine Meinung zu sagen, »in vernünftigem Ton, klar, ne?«

Sascha sagte seinen Eltern, sie sollten aufhören zu trinken. Das ist jetzt sieben Jahre her, und wenn man heute an der Tür klingelt in der Hochhaussiedlung in Mümmelmannsberg am Rande von Hamburg, dann macht wieder die Mutter auf. Die sieben Jahre haben ihr nicht gut getan. Sie muss jetzt Anfang fünfzig sein, aber sie sieht älter aus.

Ihr Sohn Sascha? Keine Ahnung, sie wisse nicht, wo er ist. Eine Telefonnummer? Der habe gar kein Telefon, glaubt sie, eine Nummer hat sie jedenfalls nicht. Kann sein, dass er heute noch kommt, kann aber auch sein, dass er morgen erst kommt. Die Frau wirkt erloschen.

Vor sieben Jahren waren Saschas Eltern gerade wieder zusammengekommen, nachdem sie sich hatten scheiden lassen. Das Sozialamt zahlte ihnen diese Dreizimmerwohnung hier in der Siedlung. Sie guckten Sat.1 und tranken Bier. 250 Euro hatten die Eltern damals, für sich selbst und Sascha und seinen älteren Bruder. Arbeit hatten sie nicht. Der ältere Bruder war damals Saschas Vorbild, er war auf der Sonderschule gewesen, später ist er in Kindergärten eingebrochen. Saschas 13-jähriges Leben war noch nicht versaut, aber seine Startposition war schlecht. Sascha wollte Kfz-Meister werden, sich einen Opel aufmotzen, ein normales Leben halt. Konnte das gelingen?

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Er war der Junge mit dem immer leicht genervten Blick, zu klein und schmächtig für sein Alter. Bei Sascha aber war alles denkbar. Wer wie er in Mümmelmannsberg aufwuchs, als einziger Deutscher in der Klasse, der muss ein Kämpfer sein, um da rauszukommen. Und wer Sascha mochte und ihm wohlgesonnen war, der hoffte, dass aus ihm ein Kämpfer werden würde.

Saschas Eltern haben damals aufgehört zu trinken. Sagten sie. Aber Sascha zweifelte daran. Er wurde wütend, wenn seine Freunde höhnten, sie hätten den Vater mit einer Bierdose in der Siedlung gesehen. Nach ein paar Tagen mit Sascha war damals klar, dass er anders war als seine Freunde. Er mochte deren Stumpfsinn nicht, das ewige »Alta, lass mal Scheiße bauen«. Hier: Sascha mit seiner Jugend und mit seinem Willen. Dort: Mümmelmannsberg, die Eltern, die Freunde, der Alkohol, das »Scheiße bauen«. Die Frage war, wer sich durchsetzen würde.

Wir haben keine Antwort bekommen. Sascha ist nicht in Mümmelmannsberg aufgetaucht, wie seine Mutter gemutmaßt hatte. Als wir schließlich seine Telefonnummer herausgefunden hatten und anriefen, meldete sich ein Mann, der behauptete Sascha zu sein und sich zu einem Treffen am nächsten Nachmittag bereit erklärte. Bevor es dazu kommt, ruft ein Freund an und schlägt vor, das Interview an Saschas Stelle zu geben – der wolle nun doch nicht. Aber warum? Der Freund sagt, das solle Sascha selbst erklären, und hält ihm offenbar das Handy hin. Sascha weigert sich, etwas zu sagen. Im Hintergrund ist nur zu hören: »Ey, Digga, lass mich, ich will nicht!«

Kurz darauf ruft Sascha an und sagt, er sei nun doch bereit, sich zu treffen, nein, nicht bei der Mutter und auch nicht bei seiner Halbschwester, bei der er jetzt wohnt. Irgendwo um die Ecke. Eigentlich habe er ja keine Lust auf ein Gespräch gehabt, aber dann habe er mit ein paar Leuten darüber geredet und jetzt gehe es wohl doch. Morgen. Er sagt, er werde vorher noch mal anrufen, vom Handy seines Kumpels, denn seine Karte sei gerade leer.

Und dann meldet sich Sascha nie wieder. Er reagiert nicht auf die Nachrichten auf seiner Mailbox, auch der Freund ist nicht mehr zu erreichen. Die Mutter öffnet die Tür nicht mehr, wenn man im muffigen Treppenhaus steht und läutet. Die Welt, die sich vor sieben Jahren für ein paar Tage geöffnet hatte, hat sich wieder verschlossen. »Irgendwie, wenn man älter wird, baut man halt Scheiße«, hatte Sascha damals gesagt.

Seine Eltern haben vor sieben Jahren gesagt, sie wollten ihrem Sohn Durchsetzungskraft und Übersicht beibringen. Aus dem schmächtigen Jungen wollten sie einen Mann machen, der in Mümmelmannsberg bestehen könnte.

Ob er es geschafft hat, haben wir nicht erfahren.

* Namen von der Redaktion geändert.

Fotos: Konrad R. Müller