Nummer Sieben

Joseph wächst in einer Familie mit sehr vielen Geschwistern auf. Ihm selbst würden zwei Kinder reichen.

Zuhause: ein Einfamilienhaus in Ravensburg
Schule: Spohn-Gymnasium in Ravensburg
Eltern: Kaminkehrermeister, Ärztin
Geschwister: sieben Brüder, zwei Schwestern
Taschengeld: 15 Euro im Monat
Berufswunsch: irgendetwas mit Kassieren
Lieblingsessen: Penne mit Tomatensauce
Lieblingsstar: keiner
Größter Wunsch: ein entspanntes Leben ohne Schulden
Sommerferien: Zelten mit der ganzen Familie in Ligurien

Was hat einer für Chancen, der als siebter Sohn zur Welt kommt? Der kurz darauf drei weitere Geschwister kriegt ­ – eine rumänische Adoptivschwester, eine leibliche Schwester und einen kleinen Bruder, den alle verhätscheln? Beste Chancen normalerweise, ein armes Würstchen zu werden. Bei Joseph ist die Sache anders gelaufen.

Mittwochnachmittag: Großeinkauf. Jeder, der zu Hause ist, hilft. Joseph schleppt Zehn-Kilo-Packungen Spaghetti und kartonweise Tomatenpüree vom Parkplatz in die Küche. Nicht gern. Aber er tut's. »Ehrensache«, behauptet er. Obwohl er, wenn er ehrlich ist, die Familiendienste für ziemliche Energieverschwendung hält. In letzter Zeit. Seit er den Freibadjob hat, mit dem er ein bisschen Geld verdient. Als alles verstaut ist, stolziert er wie ein Hausherr vorbei am Aquarium, vorbei an den Wäschebergen im Wohnzimmer und an den vielen Schuhpaaren im Flur auf die Terrasse. Klemmt sich auf die weiße Bank, sitzt kerzengerade da, guckt aus runden, braunen Augen und sieht mit seinen langen Haaren aus wie ein Mädchen.

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Ob jetzt regelmäßig ein Magazin nur für 13-Jährige erscheinen soll, will er wissen. Dass so etwas nicht geplant ist, enttäuscht ihn überhaupt nicht. »Ich würd's sowieso nicht lesen.« Joseph findet Lesen »überlangweilig«. Höchstens fünf, sechs Bücher hat er bis jetzt durchgekriegt. Zwangslektüre in der Schule. »In meinem Kopf ist genug los, da brauch ich keine Bücher«, sagt er. Kaum spricht er, ist alles Mädchenhafte weg. Die Stimme tief und fest, kein Zweifeln und kein Zaudern. So ist das in der Großfamilie: Wer zu Wort kommen will, muss seine Sätze abfeuern wie Pistolenschüsse. Joseph kann inzwischen beides: stundenlang zuhören ­ – abends zum Beispiel, wenn der Vater am großen Tisch über Politik, über Religion, über den Sinn des Sex, über alle Fragen des Lebens referiert ­ – und Kommentare losschleudern. Gott habe mit dem Irak-Krieg nichts zu tun, hat Joseph neulich mitgeteilt. Verantwortlich sei allein der Mensch. Und zwar George Bush.

Was er für kluge Gedanken äußert, das beeindruckt die anderen, stellt Joseph in letzter Zeit immer wieder fest. Nebenberuflich könnte er eines Tages Stadtpolitik machen, so wie sein Vater, geht ihm deshalb schon mal durch den Kopf: Ja, denkt er dann ganz allgemein, er würde für Gerechtigkeit sorgen ­ – und darin wahrscheinlich ziemlich gut sein.

Das Spannendste in seinem Leben spielt sich in der Familie ab: »Du bist nie allein im Haus –­ immer sind noch ein paar Stück da«; der große Vorteil von vielen Geschwistern, findet er. Noch nie, noch kein einziges Mal in 13 Jahren, hatte er den Wunsch, ein Einzelkind zu sein. Zwischen seinen Augenbrauen taucht ein Fältchen auf. Okay, manchmal sind die anderen eine Plage. Georg, zwei Jahre älter, der ihn »Klugscheißer« nennt und ihm hin und wieder eine Tracht Prügel androht ­ – das letzte Mal bei einer Fußballübertragung, weil Joseph immer alles besser wusste als der TV-Moderator. Maria und Magdalena gehen ihm mit ihrem Weibergezicke auf den Keks. Und Gottfried natürlich, der Kleine, der ihm abends von seiner Matratze aus hundertmal auf den Rücken springt. Aber bei uns ist alles nur Spaß, versichert er.

Er könnte ja auch ausweichen. Schließlich hat er seit kurzem ein eigenes Zimmer. Mit einem gemütlichen Bett und einem Computer. Sogar mit einem Poster an der Wand, von dem eine Playboy-Schönheit mit Donnerbusen schmachtet ­ – eine Hinterlassenschaft seines älteren Bruders Karl, stellt Joseph klar. Ein schönes Zimmer ­ – trotzdem hält er sich so gut wie immer im Wohnzimmer oder in der Küche auf. Und nachts schläft er im Matratzenlager im Gartenhaus, bei fast jedem Wetter. Dort treffen sich meistens fünf, sechs Geschwister, Joseph liegt in der Mitte. »Es ist toll«, erklärt er, »wie im Zelt.«

Ein Psychologe hat Joseph einen besonders hohen IQ bescheinigt. Die Brüder sagen: »Der Joseph wird mal Professor. Da kann er das tun, was er sowieso am liebsten tut: Fragen stellen und selbst die Antworten geben.« Er besucht ein humanistisches Gymnasium, gute Noten schreibt er nicht. Er erklärt sich das so: Die Lehrer sind »unfähig«. Einmal hat seine Deutschlehrerin die Klasse aufgefordert, beliebige Fragen auf Zettel zu schreiben. Joseph dachte sich was richtig Schweres aus: »Wie schreibt man Pyranja und wie Pyrinähen?« Die Lehrerin sortierte Josephs Zettel aus. Begründung: »Unsinn.« Joseph schüttelt den Kopf: »Die hat's natürlich selber nicht geblickt.« In der fünfte Klasse wollte er noch Arzt werden, wie seine Mutter. Inzwischen kann er sich das nicht mehr vorstellen; wegen der Noten eben. Welchen Beruf jetzt, weiß er noch nicht. »Vielleicht irgendwas mit Kassieren.« Auf dem Gebiet verbucht er die meisten Erfolge ­ – beim Ferienjob im Freibadkiosk.

Zum ersten Mal hat er das Gefühl, dass er sich in einer Erwachsenenwelt ganz gut als Geschäftsmann behaupten könnte. Allein und ohne Familie. Klar, dass er und kein anderer den Job gekriegt hat. Bei ihm denkt jeder sofort: Die Angelegenheit ist in guten Händen. Weil er so verantwortungsvoll handelt. Ob ein Handy kaputtgeht oder eine Hose umgetauscht werden muss: Die Eltern schicken zurzeit am liebsten den Joseph los. Immer dasselbe Muster: Erst wird er im Geschäft nicht ernst genommen. Und dann argumentiert er so unerbittlich, dass er garantiert mit einem neuen Handy (das teurere Modell!) oder einer neuen Hose (die bessere Qualität!) heimkommt.

Selbst eine Großfamilie zu gründen kommt für ihn heute nicht mehr in Frage. Bis vor ein, zwei Jahren war das die einzige Lebensform, die er sich vorstellen konnte. »Zwei Kinder reichen«, findet er jetzt. Blick auf die Uhr, er erhebt sich, muss gleich ins Boxstudio. Da hat die Familie Mengenrabatt ­ – Georg, Karl, Maria und Benedikt warten schon an der Tür. Während er aus dem voll gestopften Schrank die richtige Turnhose angelt, meint er: »Für eine Großfamilie musst du sehr stark sein. Immer geht was kaputt. Immer Schulden.« Jetzt noch die Schuhe. Ah, gefunden. »Ich bin dafür vielleicht nicht der Typ«, ruft er noch von der Haustür her und winkt freundlich, »aber mein Vater und meine Mutter, die kriegen irgendwie alles geregelt.«

Foto: Konrad R. Müller