»Der Mensch will belogen werden«

Mal im Ernst: Was soll das eigentlich mit der Liebe? Frustriert uns die ewige Suche nach ihr nicht zwangsläufig? Bringt sie uns sogar in Gefahr? Ein Gespräch mit dem österreichischen Regisseur Ulrich Seidl, der in seinen Filmen die Abgründe des Menschlichen ausleuchtet.


Ulrich Seidl:
Also, hab ich das richtig verstanden, Sie wollen mit mir über die Liebe reden?

SZ-Magazin: Ja.

Glauben Sie, dass ich der richtige Mann dafür bin?

Absolut. In Ihren Filmen kommen Sie den Menschen so nah wie kaum ein anderer Regisseur. Alle Ihre Figuren scheinen nach der Liebe zu suchen, in fernen Ländern, in der Kirche, in ihren Kellern oder bei ihren Haustieren. Das gilt für Ihre Spielfilme und für Ihre Dokumentarfilme. Wer wäre besser geeignet, um über die Liebe zu reden?

Also bitte, versuch ma’s.

Sie haben einmal gesagt, in Ihren Filmen gehe es letztlich immer um die Frage nach der Liebe und dem Tod.
Man könnte auch sagen, es geht um das Nichterlangen der Liebe, um die Sehnsucht danach. Das ist es, was mich interessiert.

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Sehnen sich alle Menschen, die Sie getroffen haben, nach Liebe?
Ja, zumindest in meiner Interpretation. Aber ich glaube nicht, dass jeder darüber reflektiert. Die Menschen sprechen einfach mit mir, sie öffnen sich mir und erzählen mir Dinge aus ihrem Leben, die für sie ganz normal sind. Sonst wären sie ja nicht bereit, das vor der Kamera zu machen.

In Ihrem neuen dokumentarischen Film Im Keller gibt es zwar auch fiktionale Elemente, aber Sie zeigen darin ein Sadomaso-Paar, das es wirklich gibt. Die Frau hängt dem Mann zum Beispiel schwere Gewichte an die Hoden, er muss auf allen vieren durch die gemeinsame Wohnung kriechen und die Toilette mit seiner Zunge putzen. Die Frau erklärt dem Zuschauer, wie glücklich und liebevoll diese Beziehung ist. Ist das auch klassische Liebe? Greift dieses Wort?
Es war für mich auch etwas fremd, dieses Pärchen kennenzulernen. Bevor ich drehe, habe ich die Menschen ja schon wirklich oft besucht, da ist ein Vertrauen entstanden. Aber ja, das ist natürlich auch eine Liebesgeschichte. Die zwei sind mit diesem Leben, mit diesem Programm, das sie da haben, zufrieden. Wir sind geneigt, die beiden aus dem Blickwinkel unserer Normalität heraus zu betrachten, deshalb finden wir sie abstrus oder pervers. Aber das ist wirklich nur eine Frage des Standpunktes.

In Ihrem Spielfilm Paradies: Liebe geht eine 50-jährige österreichische Frau als Sextouristin nach Kenia. Sie will von den jungen Beach Boys dort aber nicht nur Sex, sondern auch etwas, was sie von österreichischen Männern nicht bekommt: Respekt, Zärtlichkeit, Liebe.
Viele Zuschauer hatten da sofort den Eindruck: Das ist ja Ausbeutung. Und zwar in beide Richtungen: Die einen meinten, die Afrikaner beuten die verzweifelten Europäerinnen aus, bringen sie um ihr Geld, die anderen meinten, die Frauen beuten die Beach Boys aus, weil die sich prostituieren. Aber am Ende ist das eine Beziehung, die für beide funktioniert. Die Frau bekommt etwas, was sie sich ersehnt. Der Mann auch. Es ist ein Geschäft. Und ganz ehrlich, auch bei uns ist eine Partnerschaft oft ein Geschäft. Da wird vielleicht nicht in Geld bezahlt, aber es heißt: Wenn du dieses oder jenes nicht machst, dann geht es nicht weiter mit uns. Das sind ja auch Deals.

Ist Liebe, befreit von aller Romantik, immer ein Geschäft?
Ja. Selbstlose Liebe, diese romantische, religiöse Vorstellung, die klingt zwar gut, aber ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die dazu in der Lage sind. Jeder wünscht sich das natürlich. Jeder möchte genau so geliebt werden, wie er ist – ohne Forderungen. Aber man selbst stellt gleichzei-tig immer Forderungen an den Partner.

Vielleicht, weil man einem häufig propagierten Ideal hinterherläuft. Wie verändern Medien und Populärkultur unsere Vorstellung von Liebe?
Sie meinen, ständig nur Happy End? So funktioniert das Kino nun einmal. Das war schon immer so. Am Ende soll der Zuschauer in dem beruhigenden Gefühl rausgehen, dass die Menschen in Wahrheit gut sind. Was natürlich nicht stimmt.

Schafft das beim Zuschauer nicht Frustration?
Nein. Der Mensch will belogen werden. Er lebt mit der Sehnsucht, dass eh alles irgendwie gut ausgehen wird.

Und dann sitzt er an Heiligabend allein zu Hause und denkt: Oh weh.
Aber man will halt an das Schöne glauben. Die Wahrheit wollen doch die wenigsten wissen. Filme, die den Zuschauer nüchtern mit seiner Realität konfrontieren, erschrecken ihn. Das sehe ich auch bei den Reaktionen auf meine Filme. Die Leute sind nicht immer bereit, sich einen Spiegel vorhalten zu lassen. Deshalb ist unsere Medienwirklichkeit auch eine völlig verstellte Wirklichkeit. Die Bilder dienen einem Verkaufszweck. Einem Beruhigungszweck. Wenn ich mir Fernsehen und Werbung so ansehe, finde ich es eigenartig, dass die Leute nicht dagegen rebellieren.

Gibt es Liebesfilme, denen Sie etwas abgewinnen können?
Als Liebesfilm bezeichnen wir ja meistens die Filme, in denen die Menschen einander so lieben, wie wir uns das wünschen. Da kann man dann mitträumen. Viel interessanter sind doch Filme darüber, wie die Menschen tatsächlich lieben. In dem Sinne sind, wenn Sie so wollen, alle meine Filme Liebesfilme.

Aber in nur einem einzigen Ihrer Filme haben wir die Worte »Ich liebe dich« entdeckt: In Models, einem Ihrer Spielfilme, sagt die junge Vivian den Satz immer wieder zu ihrem eigenen Spiegelbild.
Auch hier wieder: lieben und leiden. Niemand interessiert sich dafür, wie es dem Model geht – darunter leidet sie.

Sind die Worte »Ich liebe dich« zu einer Phrase geworden?
Absolut. Der Satz wird viel zu häufig verwendet, er ist zu leicht und zu schnell gesagt. Gedankenlos.

Was müsste man tun, um ihm wieder mehr Gewicht zu verleihen?
Ihn verbieten.

Ja?
Eine ganze Generation lang verbieten. Dreißig Jahre lang »Ich liebe dich« unter Strafe stellen. Danach ist der Satz wieder wie neu.

Ihr Kollege Michael Haneke hat einmal gesagt: »Die Liebe ist etwas, was einen selber weit übersteigt. Man kann sich verlieren.«
Nun ja, wenn man liebt, ist man ja stets vollständig darin gefangen. In einer Liebesbeziehung stellen sich ständig Fragen, die mit einem selbst zu tun haben: Habe ich eigentlich selber recht, habe ich unrecht? Sehe ich die Dinge richtig? Also dient die Liebe im Idealfall auch immer dem Überprüfen der eigenen Identität.

Sind Ihnen bei der Arbeit Menschen begegnet, die überhaupt nicht lieben?
Das ist eine Definitionssache. Es gibt auf jeden Fall genügend Menschen, die emotional mit allem abgeschlossen haben. Die nichts mehr an sich heranlassen. Meine Erfahrung ist, dass das oft aus einer großen Enttäuschung heraus passiert ist. Dass die Liebe durch die Enttäuschung verloren geht.

Inwiefern?
Nun, die Menschen haben so viel investiert – in eine Liebe, in einen Menschen, in einen Traum. Und dann sind sie bitter enttäuscht worden. Also sagen sie sich: Beim nächsten Mal stecke ich da nicht mehr so viel rein. Und dann geben sie nur noch die Hälfte. So baut man Mauern auf und man vereinsamt. Was bleibt, ist die Sehnsucht: Ich bin so allein, ich habe niemanden, der da ist, wenn ich nach Hause komme, niemanden, an den ich mich anschmiegen kann, dem ich etwas anschaffen kann, dem ich etwas befehlen kann.

Befehlen?
Natürlich, das spielt ja immer eine Rolle. Liebe hat auch mit Macht zu tun – und mit Unterwerfung.

Das erinnert an eine der Frauen aus Ihrem Spielfilm Hundstage: Die Frau wird von zwei Männern erniedrigt, geschlagen, misshandelt. Man erträgt es kaum, sich das als Zuschauer anzusehen. Und sie läuft trotzdem nicht weg.
Auch das ist auch eine Form von Liebe. Weil sie als Beziehung funktioniert. Aus unserem Blickwinkel wahrscheinlich nicht. Wir würden sagen: Um Gottes willen, was lässt sich diese Frau gefallen? Aber sie hat die Wahl, sie könnte es beenden, doch sie muss einsehen: Ich empfinde etwas für den Mann. Ich würde nie behaupten, dass Liebe in einer Partnerschaft nur ein Muster kennt. Gleichstellung ist oft ein Wunschdenken.

Wie meinen Sie das?
Wie soll denn eine völlige Gleichstellung aussehen? Dass jeder in einer Beziehung genau das Gleiche tun muss wie der andere? Das funktioniert doch nicht. Natürlich ist das in Hundstage ein sehr drastisches Machtverhältnis. Da ist Gewalt im Spiel, der Frau wird wehgetan. Für die männlichen Rollen haben wir damals Haftentlassene als Laiendarsteller gecastet, solche, die ähnliche Geschichten von Gewalt hinter sich hatten. Viele Zuschauer hatten große Probleme mit diesen Szenen – vor allem Frauen im Alter der Schauspielerin.

Warum gerade die?
Die wollten nicht, dass man das zeigt, weil sie nicht wollten, dass es das gibt. Ich glaube: Gerade weil es das gibt, muss man es zeigen. Im Übrigen sind es nicht immer nur die Männer, auch Frauen sind gewalttätig. Da ist es vielleicht häufiger psychische Gewalt.

Was hat der Unterworfene davon?
Na, auch Liebe! Nehmen Sie noch mal das Sadomaso-Pärchen aus Im Keller: Die Herrin ist glücklich, sie muss nichts tun außer herumsitzen, fernsehen, rauchen, ihren Mann ein bisschen quälen. Und was kriegt er zurück? Sexuelle Befriedigung. Auch das ist eine funktionierende Beziehung.

»Partnerschaften funktionieren nur dann längerfristig, wenn man nicht die eigene Enttäuschung oder innere Leere mit der Liebe sublimieren will.«

Die wenig mit der romantischen Liebesvorstellung zu tun hat, der wir alle nachhängen.
Die war aber auch schon in früheren Zeiten nicht ausschlaggebend für Ehen oder Familiengründungen. Sie hat sich oft den wirtschaftlichen Möglichkeiten unterordnen müssen. Man hat geheiratet, weil es organisatorisch sinnvoll war. Die Idee, dass man sich erst verliebt, dann zusammenkommt und dann gemeinsam lebt, die gibt es erst seit kurzer Zeit.

Muss man sich selber lieben, um wirklich lieben zu können?
Was ich schon glaube: Man darf sich von seinem Partner nicht erwarten, dass er die Unvollkommenheit, die man selber hat, ausgleicht. Das geht schief. Partnerschaften funktionieren nur dann längerfristig, wenn man nicht die eigene Enttäuschung oder innere Leere mit der Liebe sublimieren will. Was ganz häufig vorkommt.

Das erinnert wiederum an Ihren dokumentarischen Film Tierische Liebe: Darin porträtieren Sie Menschen, die sehr enge emotionale und sexuelle Beziehungen zu ihren Haustieren haben. Man bekommt den Eindruck: Die gleichen etwas damit aus, was ihnen sonst im Leben fehlt.
Ja. Bei Haustieren ist vor allem die Sicherheit ein ganz häufiges Motiv. Mit den Menschen ist man vielleicht gescheitert, aber beim Hund, da weiß man: Der verlässt mich nicht, der enttäuscht mich nicht, der bleibt bei mir, solange er lebt. Noch ein anderes Beispiel aus Tierische Liebe: Da gibt es eine Szene, in der die Frau ihrem Hund zum Vorwurf macht, dass er zu viel auf das Herrchen hört – also auf ihren Mann. Eigentlich gehöre er ja ihr, nicht dem Mann. In Wahrheit zeigt sich da aber ein ganz großer Hass auf ihren Mann, weil er sie betrogen hat, mit der Nachbarin. Sie schimpft den Hund und meint ihren Mann.

Werner Herzog hat nach der Premiere von Tierische Liebe 1995 gesagt: »Noch nie habe ich im Kino so geradewegs in die Hölle geschaut.« Ein Kompliment?
Natürlich. Weil es von Werner Herzog kommt.

Und hat er recht?
Na ja, alle meine Filme haben mit der Hölle des Alltags zu tun, mit der Hölle, die sich der Mensch selber erschafft.

Und trotzdem erzählen Sie oft, dass die Menschen, die Sie zeigen, immer zufrieden seien mit ihrer Darstellung, wenn sie den Film hinterher sehen.
Das ist auch so. Weil ich niemanden verurteile. Ich versuche, die Menschen in ihren Unzulänglichkeiten darzustellen. Das erfordert viele Gespräche, ich muss die Menschen kennenlernen, und es erfordert auch eine Form des Vertrauens. Ich sage in meinen Filmen nie, dies oder jenes ist übel. Dieses Urteil überlasse ich dem Zuschauer.

Ist es nie vorgekommen, dass hinterher beim Blick auf die Leinwand jemand gesagt hat, oha, ich komm ja rüber wie ein Trottel?
Nein, kaum. Nur zuletzt: Bei dieser Nazi-Keller-Geschichte …

Also der Mann aus Im Keller, der in einem Raum voller Hitler-Bilder und anderer Nazi-Reliquien mit seinen Freunden feiert.
Er war am Ende unglücklich darüber, dass er mitgemacht hat. Aber eben nicht aufgrund der Art und Wiese, wie er dargestellt worden ist, sondern weil daraus ein politischer Skandal wurde.

Zwei seiner Freunde im Nazi-Keller waren Lokalpolitiker und mussten zurücktreten. Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen aufgenommen.
Ich wollte da bestimmt niemanden ans Messer liefern. Mir ging es darum, etwas zu zeigen, was vielerorts stattfinden könnte: dass hier die Vergangenheit verharmlost wird und das ganze Dorf davon weiß und es ganz normal findet. Ich wollte dem Herrn nicht schaden. Der ist übrigens ein sympathischer Mensch.

Haben Sie von anderen Protagonisten aus Im Keller eine Rückmeldung bekommen?
Erinnern Sie sich an die Frau mit den Babys?

Die Dame bewahrt lebensechte Babypuppen in Schuhkartons auf. Sie nimmt immer wieder eine Puppe heraus, streichelt und liebkost sie, singt ihr etwas vor, spricht mit ihr, als wäre das ein echtes Baby.
Die Figur ist – anders als die Männer im Nazi-Keller – zum Teil von mir erfunden. Also: Die Frau gibt es wirklich, sie lebt in einer Ehe, in der es keine Emotion mehr gibt. Ihr Mann kontrolliert sie trotzdem. Bei ihr im Keller habe ich so eine Babypuppe entdeckt, von da aus habe ich die Geschichte weitergesponnen. Sie hat das für diesen Film gespielt. Bei der Premiere hat die Frau dann zu mir gesagt: »Sie haben mich wirklich erkannt.« Ich fragte, wieso. Darauf sie: »Was ich da spiele, das stimmt: Ich habe wohl wirklich so was wie einen versteckten Kinderwunsch.« Da sind wir wieder bei der Sehnsucht.

Zwei Ihrer Filme behandeln die Liebe vor allem als Liebe zu Gott. In der Doku Jesus, du weißt filmen Sie Menschen dabei, wie sie laut beten. Kann Gottesliebe auch ein Ersatz für zwischenmenschliche Liebe sein?
Wahrscheinlich ist das oft so. Ich würde aber nie religiöse Menschen verurteilen und sagen, das sei nur ein Ersatz. Ich habe Respekt vor dem Glauben der Menschen. Wer mit Religion nichts am Hut hat, der hat sich Jesus, du weißt angeschaut und vielleicht gesagt: Na gut, die müssen alle zum Psychiater. Das finde ich falsch. Aber der Film zeigt schon: Gott ist vor allem dann wichtig, wenn man selbst große Probleme hat. Gott ist ein Ansprechpartner.

In Paradies: Glaube gibt es eine gespielte Masturbationsszene mit einem Kruzifix. Dafür sind Sie wegen Blasphemie angezeigt worden.
Ich mache mich mit der Szene über niemanden lustig, sondern ich zeige etwas, von dem ich glaube, dass es so passieren könnte. Angefeindet worden bin ich ja vom Klerus sogar für Jesus, du weißt, obwohl ich dort echte,
ehrliche Gebete zeige. Man sagte mir: »Das kann nicht echt sein, denn der wahre Gläubige fordert nichts, er liebt Gott selbstlos.« Das kann mir doch niemand erzählen. So was stellt man sich halt als Priester vor. In Wirklichkeit merkt der Mensch schnell, wie klein er ist, wie hilflos. Und dann ist da natürlich der Wunsch, dass es jemanden gibt, dem man sich öffnen kann.

Nonnen sagen, sie seien mit Gott verheiratet.
Na ja, mei.

Kann man da von Liebe sprechen?
Eigentlich ist es nichts anderes als die Liebe zwischen zwei Menschen: Eine Sehnsucht, in die man sich hineinsteigert. Wobei es bei den Nonnen ja noch einen Schritt weitergeht: Sie sind verheiratet mit Jesus, aber sie haben auch das Jesuskind in ihrer Zelle, das ist ihr Kind, das sie vielleicht auch wie ein Baby behandeln. Dann ist Jesus aber auch ihr Liebhaber. Und dann noch der Erlöser. Und der Gekreuzigte. Das ist insgesamt ein … sagen wir, schwieriges Verhältnis.

Sie haben für Ihre Filme so viele Menschen kennengelernt und ihre Geschichten gehört – mögen Sie die Menschen eigentlich noch?
Na ja, es wird einem nicht immer einfach gemacht. Was mich in den letzten Jahren besonders erschreckt, ist, wie viel Missbrauch aufgedeckt wird. Es gibt ihn in allen Institutionen, in der Kirche, in jeder Form von Internat, Waisen, Behinderte, freie Pädagogik. Das bedeutet: Sobald Menschen Macht haben über andere Menschen, findet Missbrauch statt. Egal welche Ideologie vorherrscht. Und eben nicht nur in der Kirche. Sonst wäre es ja für uns alle viel einfacher, dann könnten wir brutal sagen, tja, ein Kirchenproblem, Sonderfall. Aber es findet eben überall statt. Es ist also System. Es ist der Mensch selbst. Ein schreckliches Bild. Das macht mich ohnmächtig – gerade, wenn Sie mich jetzt fragen würden, ob ich an das Gute im Menschen glaube …

Glauben Sie an das Gute im Menschen?
Ich glaube, dass der Mensch nichts lernt. Aus Erfahrungen, aus der Geschichte. Er wird also nicht besser. Deprimierend im Grunde. Das Böse steckt in uns Menschen, und immer, wenn uns Macht gegeben wird – oder anders gesagt: immer, wenn uns durch die Machtverhältnisse Verantwortung abgenommen wird –, dann kommt das Böse raus. So erkläre ich mir Kriegsverbrechen. Die Verantwortung hat das autoritäre, das hierarchische System und nicht ich, also darf ich alles tun.

Haben Sie denn in all den Jahren als Filmemacher Menschen getroffen, bei denen Sie den Eindruck hatten, hier hat die Liebe gesiegt?
Selten, sehr selten habe ich Menschen getroffen, die schon sehr lange Zeit zusammen sind, die ihr Leben miteinander verbracht haben, bei denen die Liebe die Oberhand behalten hat. Menschen, die sich gefunden haben und deren gegenseitige Liebe vielleicht bis ins Nimmermehr weiter existiert. Aber die habe ich im echten Leben gefunden, nicht vor meiner Kamera.

Warum?
Meine Filme handeln zwar von der Liebe, aber nicht unbedingt vom Glück.

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Ulrich Seidl
Schon sein zweiter Film war ein kleiner Skandal: Die Wiener Filmakademie zog Seidls studentische Arbeit »Der Ball« 1982 ein, weil der Film dem Ansehen der Schule schade. Seither stieß fast jeder von Seidls 15 Langfilmen auf Kritik - zu verstörend, zu provokativ, zu gewalttätig. Der heute 62-jährige Regisseur vermischt Realität und Fiktion: Seine Dokus enthalten gespielte Szenen, die Spielfilme wirken dokumentarisch. Seidl gelang das einmalige Kunststück, fast gleichzeitig mit drei verschiedenen Filmen in drei internationalen Wettbewerben vertreten zu sein: in Cannes, Venedig (2012) und Berlin (2013).

Fotos: Peter Rigaud