SZ-Magazin: Frau Tiesel, Sie sind für Ihre Rolle einer Obdachlosen in Fatih Akins »Der Goldene Handschuh« für den Filmpreis nominiert. Wie haben Sie davon erfahren?
Margerethe Tiesel: Fatih Akin hat mir im März eine SMS geschickt und gratuliert. Erst dacht ich, der Film hat auf irgendeinem Festival einen Preis gewonnen. Also hab ich ihm zurück geschrieben: »Für was?« Erst dann hab ich gegoogelt und gemerkt, dass er die Nominierung meint.
Mussten Sie ein Casting machen, um die Rolle der Obdachlosen Gerda Voss zu kriegen?
Zum Glück nicht. Aber warum siezt Du mich eigentlich?
Weil das professioneller klingt.
Also wirklich! Wir kennen uns doch ewig, schon seit unseren gemeinsamen Jahren auf der Schauspielschule.
Du hast ja recht. Und das, was mich rührt, ist, dass noch zwei weitere Frauen, die mit uns auf der Schauspielschule waren, auch in diesem Film mitspielen: Jessica Kosmalla und Victoria Trauttmansdorff.
Und ausgerechnet die Vicki rettet mich in ihrer Rolle als Gisela von der Heilsarmee. Sie überredet mich, im Heim der Heilsarmee zu schlafen, darum bringt mich der Honka nicht um. Die Jessica, die auch eine Obdachlose spielt, wird dagegen schon umgebracht.
Hattest du privat eigentlich mit beiden Kontakt in all den Jahren zwischen Schauspielschule und diesem Film jetzt?
Oh, ja, die Vicki war schon auf der Schauspielschule meine allernächste Freundin, mit der hatte ich immer Kontakt. Und jetzt rettet sie ausgerechnet mich. Die Jessica und ich waren mal am selben Theater engagiert, am Ernst-Deutsch-Theater in Hamburg.
War das Zufall? Ihr drei in einem Film?
Ja, kompletter Zufall.
Du bist nominiert und die anderen beiden nicht. Komisches Gefühl?
Unter Kollegen kommt man sich immer komisch vor, wenn der eine nominiert ist und der andere nicht. Aber ist halt so.
Du musstest kein Casting machen, um die Rolle in »Der Goldene Handschuh« zu kriegen, kanntest aber das Drehbuch, oder?
Natürlich. Ich fand's toll! Nur vor den Sexszenen hatte ich Bammel. Auch wenn es keiner zugeben mag: Vor Sexszenen hat jeder Bammel. Ich dachte mir: Wenn Du das deswegen nicht machst, ärgerst Du Dich ein Leben lang.
Weil so viele Menschen um einen herum stehen, während sie gedreht werden, oder weil man so tun muss, als hätte man Sex mit jemandem, den man vielleicht blöd findet?
Ach, am Set selbst ist mir nie was unangenehm. Alle, die dabei sind, wissen ja um die Schwierigkeiten. Aber man muss über die eigene Schamgrenze gehen, oft Nähe mit jemandem erzeugen, den man nicht wirklich kennt. Wenn einem obendrein der Regisseur fremd ist, weiß man nicht, wie er mit den Sexszenen umgeht, ob sie später auf der Leinwand voyeuristisch wirken, oder ob man seine Würde behalten darf.
Hattest du auch vor den Sexszenen in »Paradies Liebe« Bammel, einem Film von Ulrich Seidl, in dem du eine in die Jahre gekommene Österreicherin spielst, die in Kenia auf der Suche nach Liebe ist?
Ja, natürlich.
Der Film war dein Durchbruch, oder?
Ja, seitdem, also seit etwa 2008, ist die Durststrecke im Großen und Ganzen vorüber. Ich kriege ziemlich gute Angebote und bin froh, dass ich so lang durchgehalten habe.
Im Moment bist du im Kino in »Der Fall Collini« zu sehen, nach einem Buch von Ferdinand Schirach. Man kann schon sagen, dass du eine fulminante Alterskarriere hingelegt hast, gell?
Im Film ja, Theater aber hab ich immer gespielt: elf Jahre in Deutschland, seither in Graz. Plötzlich sind alle freundlich zu mir, wollen mich besetzen. Und ich denke mir nur: Hallo, ich bin die selbe wie immer. Vielleicht ist das ganz gut, wenn man erst spät Karriere macht, man ist nicht mehr anfällig für Schmeicheleien. Selbst das Wiener Burgtheater wollte mich für eine Rolle. Musste ich aber absagen, ich hatte schon in Graz unterschrieben.
Normalerweise ist es ja mindestens im Film umgekehrt: Für die Jungen und Hübschen gibt es viele Rollen, aber als Frau solltest du die vierzig oder fünfzig nicht überschreiten, weil man kaum noch Verwendung für sie hat. Warum glaubst Du, ist es bei dir genau andersrum?
Vielleicht, weil ich nie die Rolle der Hübschen gespielt habe, sondern die Außenseiterinnen, das sind eh die interessanteren Rollen. Und ich wollte schon immer die Rollen von Alten spielen, schon in meinem ersten Engagement am Theater in Dortmund habe ich als 23-jährige eine alte Magd gespielt.
Das ist aber ungewöhnlich.
Ja, aber vielleicht hat das was mit meinem Oppositionsgeist zu tun, es ging mir immer schon auf die Nerven, dieses ewig Junge, Hübsche.
Das allein reicht ja oft nicht.
Stimmt, aber es ist schon mal eine gute Voraussetzung. Darüber hinaus man braucht auch Glück, viel Glück, denn es gibt eine Menge toller Schauspielerinnen.
Wirst du auch nach Typ besetzt? Du bist ja eher nicht die Ätherische, die Elegante, sondern mehr die Handfeste.
Bestimmt. Und ich weiß, dass Regisseure oft ältere Schauspielerinnen suchen, die nicht geliftet sind. Da gibt es gar nicht so viele. Ich jedenfalls bin nicht geliftet.
Du hast vorhin gesagt, beruflich Durststrecken erlebt zu haben. Hast du mal dran gedacht, alles hin zu schmeißen?
Nein, nie. Ich hatte immer das Theater. Von Durststrecken sprechen Schauspieler ohnehin nicht so gern. Man muss eigentlich immer sagen, dass es einem gut geht und tolle Projekte anstehen.
Warum, glaubst du, ist das so?
Dass es einem nicht gut geht, sagt ja eh keiner gern, dazu muss man nicht Schauspieler sein. Und kein Regisseur besetzt jemanden gern, der nicht an sich glaubt oder niedergeschlagen ist. Außerdem ist das ein sehr äußerlich wirkender Beruf. Wenn Du also auf jemanden einen positiven Eindruck machst, stehen Deine Chancen für eine neue Rolle schon mal besser.
Den Honka, den Frauenmörder aus dem »Goldenen Handschuh«, gab es ja wirklich, seine Morde erschütterten in den 1970er Jahren Deutschland. Trotzdem war der Film kein Publikumserfolg. Was denkst du, weil er zu grausam war?
Der Film erzählt die Wahrheit. Ich weiß nicht, warum die Menschen so eine Scheu haben sich anzuschauen, was tagtäglich passiert. Ein Viertel der Obdachlosen in Deutschland sind Frauen, die oft keine andere Chance haben als sich zu prostituieren, wenn sie mal ein Dach über dem Kopf brauchen.
Hast du dich für deine Rolle mit obdachlosen Frauen unterhalten?
Ich bin mal einer nachgegangen, um sie zu beobachten, bis ich mir gedacht habe: So ein Blödsinn, was benutzt Du diese arme Frau für Dein Spiel. Ich bin also umgekehrt und hab diese Verzweiflung, dieses Gefühl am Ende zu sein, in mir selbst gesucht. Sowas kennt doch eh jeder.
Eine Frage, die man nur Frauen stellt: Weißt du, was du bei der Verleihung des Filmpreises anziehen wirst?
Oh je, ich drücke mich vor der Entscheidung. Ich will nicht aufgebrezelt daher kommen, wenn ich für die Rolle einer Obdachlosen den Preis gewinnen sollte. Ein teures Kleid habe ich mir jedenfalls nicht gekauft.
Ich drücke Dir sowas von die Daumen, dass du gewinnst. Aber eine Bitte habe ich: Dass du in Deiner möglichen Gewinnerrede nicht allen dankst, die dir schon mal die Hand geschüttelt haben. Das ist wahnsinnig langweilig für den Fernsehzuschauer.
Ohh, vor der möglichen Rede fürchte ich mich schon. Aber Hinz und Kunz zu danken und dem Mann und dem Hund, das ist wirklich fürchterlich langweilig.