Als würde er gleich abheben, so glühend leuchtet der Fudschijama am Horizont. Nur: Wie kommt diese alpenländische Dorfkulisse im Vordergrund auf das Bild? Ein anderes Foto zeigt einen jungen Mann in der Badewanne, der aussieht wie ein Pantomime aus einem japanischen Kabuki-Theater. Seile ranken sich wie Tentakeln um seinen Körper. Der Mann in der Wanne heißt David Favrod. Er ist Fotograf, und dass er etwas ratlos dreinschaut, könnte damit zu tun haben, dass er nicht weiß, wohin er gehört: nach Japan, wo er geboren ist, oder in die Schweiz, wo er aufwuchs und heute lebt? Mit der Kamera ist Favrod der immerwährend spannenden Frage nachgegangen: Wo ist Heimat für jemanden, der keine hat, weil er zwischen zwei Welten gefangen ist? Und was bedeutet Heimat in einer Zeit, in der immer mehr Menschen nicht mehr dort leben, wo sie groß wurden?
In seiner Fotoserie mit dem Titel Gaijin, was im Japanischen so viel wie ›Ausländer‹ bedeutet, sucht Favrod ein Japan, das es gar nicht gibt, weil es nur in seinem Kopf existiert. Dort verschwimmen Motive aus Erzählungen, Kindheitserinnerungen und Popkultur zu surrealen Bildern: ein gezackter Fußabdruck in einer Schweizer Moorlandschaft: Godzilla? Ein Alpenpanorama, das aussieht wie ein japanisches Gemälde? »Für die Schweizer bin ich ein Japaner«, sagt Favrod, »für die Japaner ein Schweizer oder eben ein Gaijin.« Dieser Zwiespalt füttert sein fotografisches Auge, das Dinge sieht, die anderen verborgen bleiben: zum Beispiel die Umrisse der Dom-Ruine in Hiroshima im winterlichen Dickicht einer Schweizer Waldszenerie.
Favrod wird 1982 in Kobe geboren, sein zweiter Vorname ist Takashi. Sein Vater ist Schweizer, seine Mutter Japanerin. Als er ein halbes Jahr alt ist, ziehen seine Eltern in die Schweiz, nach Vionnaz, ein Dorf im französischen Teil des Kantons Wallis. Den Vater, der viel auf Reisen ist, sieht er nicht oft. »Ich wurde hauptsächlich von meiner Mutter erzogen. Sie brachte mir die japanische Kultur und ihre Prinzipien bei.« Mit 18 beantragt er im japanischen Konsulat die doppelte Staatsangehörigkeit. Man weist ihn ab. Japaner darf man nur als Frau werden, wenn man die Nationalität des Ehemanns annehmen will. »Das hat mich getroffen«, sagt Favrod, »denn ich fühle mich beiden Ländern gleich nahe.«
Japan wollte ihn nicht – also zog er los, sein eigenes Japan zu finden, in der Schweiz. Favrod, Student in der Foto-Klasse der Kunstschule Ecal in Lausanne, hatte sein Thema gefunden. Das Gaijin-Projekt, das er als work in progress betrachtet, ist von einer visuellen Kraft und Poesie, der man sich nur schwer entziehen kann. Es ist bildgewaltige Traumwelt und anrührende Autobiografie zugleich. Rund ein halbes Dutzend Preise hat Favrod bereits damit gewonnen. Er spürt einem Gefühl nach, das jeder kennt: Heimweh. Doch er gräbt noch tiefer in die Abgründe unserer globalisierten Befindlichkeit: Sein Gaijin weiß nicht einmal, wohin er gehört – er ist ein Fremder, ganz gleich, wo er ist.
Ist die Frage nach der kulturellen Identität am Ende immer auch eine Frage des Blickwinkels? Anfang der Siebzigerjahre flog eine japanische Abordnung im Auftrag eines großen Zeichentrick-Filmstudios in die Schweiz. Sie machten jede Menge Fotos von Hütten, Dörfern und Bergen als Vorlage für eine Fernsehserie. Die Serie hieß Heidi und wurde ein Welterfolg. David Favrod ist also nicht der Erste, der sich ein ziemlich japanisches Bild von der Schweiz macht. Was wir daraus lernen? Heimat ist vor allem ein Ort in der Erinnerung.
Fotos: David Favrod