»Sechster Kontinent«

Eine fotografische Reise rund um das Mittelmeer, auf der Suche nach dem Ursprung und einer aktuellen Definition des Meeres, das die alten Römer »mare nostrum« nannten.

SZ-Magazin: Sie kommen aus Bologna, leben aber momentan in Barcelona. Wo sind die Bilder entstanden, die in diesem Heft zu sehen sind?
Mattia Insolera: An unterschiedlichen Orten rund ums Mittelmeer. Vor ein paar Jahren wollte ich zusammen mit einem Freund, der Skipper ist, mit dem Segelboot von Bologna zu den Kanarischen Inseln fahren. Als wir nach ein paar Wochen die Straße von Gibraltar erreichten, merkte ich, dass ich es gar nicht so toll fand, tagelang übers offene Meer zu segeln. Was an den Küsten passierte, interessierte mich viel mehr. Es war der Moment, in dem ich beschloss, die nächsten Jahre damit zu verbringen, den Mittelmeerraum zu bereisen und die Menschen zu fotografieren, die in ihm leben.

Wo waren Sie überall?
Insgesamt habe ich in 13 Ländern fotografiert: Gibraltar, Spanien, Algerien, Frankreich, Italien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Libanon, Griechenland, Marokko, Kroatien und Türkei. Ich wollte keine Enzyklopädie anfertigen, mir ging es nicht um Vollständigkeit. Als ich das Gefühl hatte, alle Puzzleteile zusammenzuhaben, um die Logik dieser Länder und Menschen zu verstehen, hörte ich auf.

Gerade haben Sie einen Bildband publiziert. Titel: 6th Continent.
Es gibt einen Roman des türkischen Schriftstellers Cevat Sakir, der genauso heißt. Und es stimmt: Das Mittelmeer funktioniert wie eine Art sechster Kontinent. Die Menschen, die hier leben, sind aus anthropologischer Perspektive weder Europäer noch Afrikaner oder Asiaten. Für die meisten Leute sind die Küsten Italiens, Spaniens und Griechenlands Sehnsuchtsorte, die sie einmal im Jahr ansteuern, um zu baden und sich zu erholen. Und dann gibt es die Menschen, die das ganze Jahr hier leben, vom Fischfang oder vom Tourismus, und die Migranten, die ihr Leben riskieren, um auf die andere Seite dieses Meeres zu gelangen.

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Haben Sie bei Ihren Reisen das Meer eher als Grenze oder als Brücke empfunden?
Ich glaube, da hat sich was verschoben. Heute wird das Mittelmeer wie eine Grenze oder ein Graben zwischen dem Norden und dem Süden wahrgenommen. Das war nicht immer so. In der Antike war das Mittelmeer eine riesige Autobahn für Menschen, Güter und Ideen, es war ein, wenn nicht das Zentrum der Welt. Es verband die Kontinente und transportierte Zivilisation, Bildung, Handel, Wissen, Kultur in die entlegensten Winkel der Erde. Mich hat die Realität interessiert, die wir jeden Tag in den Nachrichten sehen, aber auch die Suche nach Überresten von Tradition und Mythologie.

Hat sich Ihre Perspektive auf das Mittelmeer verändert, je nachdem, ob Sie in Südeuropa oder Nordafrika gearbeitet haben?

Bezogen auf die Mentalität der Menschen, habe ich mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede entdeckt. Die Italiener, die Spanier, die Marokkaner, die Ägypter, sie alle haben so viele Eroberer und Reiche kommen und gehen sehen, so viele Kriege erlebt, dass sie fatalistisch geworden sind. Alle jammern, glauben aber auch, dass sich sowieso nichts ändert, und sagen: Okay, trinken wir erst mal ein Bier oder halt einen Tee, morgen ist auch noch ein Tag. Die Kulturen am Mittelmeer haben viel weniger Vertrauen in die Zukunft als jüngere, aufstrebende Gesellschaften. Sie haben ihre eigene Logik, ihre eigene Geschichte. Und vielleicht haben Menschen aus Süditalien viel mehr gemeinsam mit Menschen, die in Marokko an der Küste leben, als mit Menschen aus Mailand oder Turin.

Porträtfoto: Maira Villela