Langzeitbeziehung

Es gibt Dinge, die begleiten uns über Jahre und Jahrzehnte. Manche von ihnen lieben wir, weil sie perfekt sind, andere, obwohl sie eigenwillig und abgenutzt sind. Eine Sammlung von Liebeserklärungen aus der Redaktion. Folge 69: Michael Ebert über die Stehlampe.

    Illustration: Marvin Traber

    Folge 69: Die Stehlampe

    Meine 15-jährige Tochter stellt sich Erwachsenwerden nicht als Prozess vor, sondern als konkreten Moment, deshalb fiebert sie ihrem 18. Geburtstag schon jetzt entgegen. Ich weiß es besser: Erwachsen werden wir in kleinen Schritten, viele davon in die falsche Richtung. Einer der wesentlichen Schritte auf unserem Weg: Die Erkenntnis, dass Licht eine wesentliche Rolle im Leben spielt. Nach zu vielen Jahren, in denen wir beim Einzug in eine neue Wohnung praktische Deckenstrahler mit 100-Watt-Knallern darin auf alle Zimmer verteilt und unter Operationssaal-Beleuchtung zwar alles sehen, aber nichts mehr spüren konnten, beginnen wir irgendwann, den Reiz des Schummrigen zu schätzen. Das Leben hat dunkle Ecken – warum nicht auch die eigene Wohnung? Mehrere kleine Leuchten, verschieden groß, verschieden hell und gut verteilt im Raum, sind immer die bessere Alternative. Die schönste aller Stehleuchten ist für mich die »Switch On« von Lambert, ein elegantes, schmales Wunder mit einem, zwei oder drei Armen, die sich beliebig bewegen und anordnen lassen. Günstig ist sie nicht – aber dafür, dass man sich ein ganzes Leben lang an ihr freuen kann, passt der Preis. Sie begleitet mich seit über 25 Jahren, zweiarmig in meinem Fall, und stand schon in vier verschiedenen Wohnungen. In jedem Raum fand sie wie von selbst ihren Platz. Und auch wenn sich mein Geschmack in Einrichtungsfragen immer wieder ändert: Diese zeitlose Leuchte macht jeden Unsinn, jede Volte, jedes Nachbarmöbelstück mit. Eine treue, strahlende Begleiterin bei meinem Versuch, niemals so ganz erwachsen zu werden. Michael Ebert

    Folge 68: Die Schraubgläser

    Meistgelesen diese Woche:

    Mitte September war der Küchenschrank dran: Ich musste Platz machen. Vordergründig für meine Zwischenmieterin, aber eigentlich, weil die Sache langsam aus dem Ruder lief. Ich blickte unglücklich ins obere Fach.

    In den Schraubgläsern, in denen Aufstrich, Apfelmus, Kichererbsen, Gewürzgurken oder passierte Tomaten verkauft werden, sehe ich: Aufbewahrungsgläser für Granola, Nüsse oder Hefeflocken und perfekt geformte, auslaufsichere Behältnisse, um Suppe oder Joghurt zu transportieren. Deswegen ist mittlerweile eine Sammlung an Schraubgläsern entstanden, die haushaltsübliche Dimensionen übersteigt. Einige sind erst ein paar Wochen alt, andere haben schon mehrere Umzüge mitgemacht.

    Mein Lieblingsglas wohnt seit letztem Advent bei mir, es ist klein und hoch. Ursprünglich war darin ein Ingwershot, jetzt transportiert es treu Salatdressing, damit mein Mittagessen bis zur Pause nicht durchgeweicht ist. Bis es bei mir gelandet ist, wusste ich nicht, wie sehr ich es brauche. Immer wenn es zum Einsatz kommt, bin ich seltsam stolz, sein Potenzial erkannt zu haben.

    Und wer dieses Überlegenheitsgefühl einmal gefühlt hat, für den wird der Gang zu den Konserven im Supermarkt schnell zum Talentscouting. Ich verstehe plötzlich meine Oma, die sogar alte Quarkbecher aufbewahrt hat, damit Opa darin Schrauben sortieren kann. Trotzdem musste ich mit ein paar Gläsern Schluss machen. Zumindest für die Zeit, in der die Wohnung untervermietet ist. Ein paar – darunter das Lieblingsglas – durften natürlich bleiben. Und das Gute an den Gläsern ist ja: Es gibt sie überall und ich kann sie wieder nachkaufen, wenn ich zurück bin. Jule Ahles

    Folge 67: Der Mini One

    Als ich 18 wurde, bekam ich mein Auto. Kein schickes Ding. Einen Mini One, gefunden auf Ebay. Baujahr 2003. 90PS. Schwarz, mit violetter Motorhaube, die ich zwei Monate später umlackieren ließ. Allerdings wurde sie nicht wie der Rest des Wagens in metallischem Look lackiert, sondern mit funkelnden Pigmenten versetzt. Und das sollte nicht das letzte Malheur bleiben, nur wusste ich das zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nachdem ich den ersten Frust überwunden hatte, fuhr ich also mit meiner glitzernden Motorhaube in meine neu erlangte Freiheit. Hinter dem abgegrabbelten Lenkrad schien mir die Welt offen zu stehen.

    Etwa einen Monat später fiel mein Auspuff ab. Es folgten akutes Kühlerversagen, Lenkungsblockaden, diverse Motorschäden, eine neue Kupplung und vier neue Bremsen. Mein Auto fiel gleich zweimal durch den TÜV. Und plötzlich lag mir nicht mehr die Welt, sondern ein »How to repair your Mini«-Handbuch zu Füßen. Irgendwann zwischen Abiprüfung und Bachelorabschluss entwickelte sich mein kaputtes Auto in meinem Freundeskreis zum Running Gag. Gelacht habe ich jedoch selten.

    Inzwischen kann ich (zum Glück!) sagen: Mein Auto fährt wieder, und zwar zuverlässiger denn je, dank technischer Kernsanierung. Es sind aber auch einige neue Macken hinzugekommen. Ein enormer Kaffeefleck, der in wildem Gelächter mit meinem besten Freund entstand, als er sich wieder einmal über meinen Fahrstil beschwerte. Eine Katsche am Rücklicht, als ich etwas zu schwungvoll ausparkte und gegen die Bio-Tonne meiner Nachbarin fuhr. Das Handschuhfach, das inzwischen beim kleinsten Hubbel auffällt. Mein Fenster, bei dem die Kurbel-Automatik klemmt, sodass man einmal gegen die Tür schlagen muss, damit es sich wieder bewegt.

    Unter meinen Freunden hat mein Auto mittlerweile Kultstatus erreicht. Und auf die Frage, ob es denn noch fahre, schießen mir mittlerweile keine Tränen mehr in die Augen. Ich antworte einfach mit: Ja! Zumindest noch bis März, dann steht der nächste TÜV-Termin an. Stella Lukaschewski

    Folge 66: Die Kokosnuss

    Ich mag es nicht, Reisen genau durchzuplanen, weil Pläne keinen Raum für Zauber lassen. Die ausgehöhlte Kokosnuss in meinem Regal erinnert mich daran, Dinge manchmal einfach geschehen zu lassen.

    Zwölf Jahre ist es her, dass mein bester Studienfreund und ich in Nassau landeten, der Hauptstadt der Bahamas. Wir hatten keine Adresse unserer Unterkunft der nächsten zwei Monate. Wir wussten nur, dass uns ein Fremder am Flughafen abholen wollte.

    Unser letztes Medizin-Studienjahr, das »praktische Jahr«, war fast vorbei. Wir waren stolz, wir waren traurig, wir wussten, dass sich unsere Wege bald trennen würden. Noch einmal etwas Besonderes zusammen erleben, so der Plan. Ich weiß nicht mehr, wer die Idee hatte, einen Teil unserer letzten Zeit in einem Krankenhaus auf den Bahamas zu verbringen. Aber ich weiß noch, dass wir zwar gerade noch die horrenden Studiengebühren bezahlen konnten – aber keine Unterkunft. Also hatten wir eine Anzeige auf couchsurfing.com geschaltet. Ein User schrieb, seine Oma habe ein riesengroßes Haus, einen tropischen Garten und ein leeres Zimmer. Sie wolle keine Miete. Und – vollkommen unüblich für Couchsurfing – durften wir dort nicht nur ein paar Nächte bleiben, sondern ganze zwei Monate. Ein »Freund der Familie« würde uns am Flughafen abholen. Alles sah nach einem Betrug aus. Wir sagten zu.

    Der Garten der Oma war so groß, dass man 15 Minuten brauchte, um ihn einmal ganz zu durchschreiten. Neben der Veranda wuchsen Bananen und andere tropische Früchte. Wir höhlten zwei Kokosnüsse aus und tranken daraus kaltes Bier. Das Haus lag etwas ab vom Schuss. Wir brauchten ein Fortbewegungsmittel.

    Die Verkäuferin im Fahrradladen mochte uns. Sie lachte über die Kokosnusstrinkbecher im Netz unserer Rucksäcke. Sie sagte, sie habe einen herumstehenden Zweitwagen. Acht Wochen fuhren wir umsonst damit herum.

    Vor der Küste Nassaus lagen tropische Inseln. Man erreichte sie nur auf Privatbooten. Ein Freund unserer Gastgeber-Oma hatte ein Boot. Er teilte es mit uns.

    Jetzt, zwölf Jahre später, kam mich zu meinem Geburtstag mein alter Studienfreund besuchen. Er schenkte mir ein gerahmtes Foto. Unsere Köpfe schauen darauf aus kristallklarem Wasser hervor. Eine Erinnerung an die Zeit, als wir ganz ohne Plan für zwei Monate umsonst ein Haus, ein Auto und ein Boot gehabt hatten. Der Freund zog seine ausgehöhlte Kokosnuss aus dem Rucksack. »Zum Anstoßen!«, sagte er. Ich lief zum Regal und wischte den Staub von meiner Nuss. Vivian Pasquet

    Folge 65: Das Multifunktions-Kopftuch

    Neulich habe ich es für einen Urlaub gesucht und nicht gefunden: mein Reise-Haarband. Jedenfalls habe ich es so genannt. Inzwischen bin ich schlauer, weil ich nach der haarbandlosen Reise hektisch nach Ersatz gegoogelt habe – so sehr habe ich es unterwegs vermisst. Im Internet heißt es zum Beispiel Yoga-Stirnband oder Multifunktions-Kopftuch. Meins habe ich namenlos vor einigen Jahren in einem kleinen Laden in Hamburg erstanden, ganz nebenbei und ohne zu wissen, welchen Schatz ich da gefunden hatte.

    Es ist ein breites Stirnband aus dünner Baumwolle, und damals hatte ich im Kopf, dass es mir bei der nächsten Tour meinen Pony und sonstige Haarsträhnen aus dem Gesicht halten sollte. Tat es auch. Aber es konnte viel mehr, denn bei Bedarf kann man es sich fast über den ganzen Kopf ziehen. So schützt es die Kopfhaut vor Sonnenbrand. Oder die Ohren vor Wind. Man kann die Haare drunter verstecken, wenn es unterwegs mal länger keine Möglichkeit zum Haarewaschen gibt. Oder es sich im Nachtbus über die Augen ziehen für ein bisschen Privatsphäre. Wiegen tut es quasi nichts und problemlos waschen kann man es unterwegs auch immer, weil es so schnell wieder trocken ist. So wurde es ein treuer Reisebegleiter – es gibt Bilder von Touren, wo ich es auf gefühlt jedem zweiten Bild trage.

    Ich mache es kurz: das neu bestellte Multifunktions-Kopftuch/Yoga-Stirnband aus dem Internet konnte mit meinem alten Reise-Haarband leider nicht mithalten. Es saß nicht so gut, irgendwas war falsch. Aber gerade, als ich dachte, dass ich mich halt mit dem neuen arrangieren muss, fand ich das alte wieder. Ab jetzt werde ich besonders gut drauf aufpassen. Nicola Meier

    Folge 64: Essig

    Halten Sie mich für verrückt, aber Essig ist die tollste Flüssigkeit der Welt. Man kann mit Essig Speisen verfeinern, vom Salatdressing über eine Bolognese bis zum Dip für Xiaolongbao, chinesische Suppen-Dumplings (nur Barbaren essen Dumplings mit Chilisauce). Man kann mit Essigessenz putzen und in Kombination mit Natron löst er jeden Staudamm im Abfluss. Ich bin mit einem Langhaarcollie aufgewachsen, ich weiß, wovon ich rede. Sogar Wunden kann man damit behandeln, lernte ich mal als Kind. Ich war in einem Alter, in dem man noch viele Sachen ausprobierte, um herauszufinden, ob etwas gut oder nicht so gut war. Eiscreme: gut! Hand auf heißer Herdplatte: nicht so gut! Ein kurzer stechender Schmerz und meine Hand erinnerte an Anakin Skywalker, der nach seinem Kampf mit
    Obi-Wan Richtung glühende Lava rutschte und Sie ahnen ja, was die Verbrennungen mit dem gemacht haben: Ohne schwarzen Helm ging der nicht mehr raus. Ich befürchtete schon, für immer entstellt zu sein, aber meine Großmutter eilte mit einer Flasche schwarzem Essig und einer Schüssel herbei, goss einen großzügigen Schluck ein und badete dann meine Hand darin. Es brannte höllisch und roch fast noch schlimmer. Aber nach einer Weile wurde es besser. Was ich nicht wusste: Die Säure im Essig wirkt leicht antibakteriell und war ein gängiges Hausmittel in alten chinesischen Haushalten. Ich wurde so ein Essig-Fanatiker, dass ich auf Partys gerne fragte, was denn das Lieblingsputzmittel der anderen war, nur um meiner Begeisterung für Essigessenz als Wundermittel der Hauswirtschaft Luft zu machen. Nachdem einige Frauen das aber in den falschen Hals bekamen (chauvinistisches Arschloch!!!), beschloss ich, meine Smalltalk-Taktik zu überdenken. Am leichtesten fällt mir das Denken beim Schrubben meiner Badewanne, während mir der säuerlich-herrliche Duft das Hirn vernebelt. Marvin Ku

    Folge 63: Der Schal

    Ich verliere oft Dinge, die ich mag. Die blaue Lieblingsmütze mit der Blume drauf, mein ganzer Stolz in der dritten Klasse. Einen Ring mit einem Stein meiner Großmutter. Den Geldbeutel in genau dem richtigen Braunton, der fast weinrot war, vom Trip nach Istanbul.

    Bei meiner Verlustbilanz ist erstaunlich, dass ich ein Accessoire über all die Jahre behalten habe: einen Schal mit Blumenmuster, quadratisch, aus Wolle. Der Schal würde mir in keinem Laden auffallen, die Farben sind irgendwas zwischen lila, grün und dunkelblau. Er ist immer genau ein paar Zentimeter zu kurz. Beim Fahrradfahren bleibe ich genervt im Herbstwind stehen, um den Schal wieder in sich selbst einzuzwicken, damit er nicht runterfällt. Den Schal habe ich von meiner Mutter. Als wir klein waren, deckte sie uns beim Mittagsschlaf darunter zu, erst meine Geschwister und später mich. Der Stoff kratzte ein bisschen, aber das war uns egal, denn er roch immer wahnsinnig gut nach Parfum.

    Vor ungefähr zehn Jahren schenkte mir meine Mutter den Schal, weil sie ihn nicht mehr trug. Zu der Zeit hatte meine Mutter ihr Parfum schon lange gewechselt, dafür hatte ich irgendwann unbewusst begonnen, ihr Parfum von früher zu kaufen – es war das einzige, das ich auch noch nach mehreren Duft-Experimenten (bizarr, teuer, Chanel) wirklich mochte. So ein Umweg, da hatte ich mich monatelang fremd eingesprüht und am Ende landete ich zuhause.

    Nicht nur den Schal, auch das Parfum habe ich bis heute, deswegen riecht die Wolle immer noch nach dem, was auf dem Parfumflakon steht: weißer Tee. Eigentlich riecht der Schal aber natürlich nach Mittagsschlaf und nach der Kinderidee, zuerst nur so zu tun, als würde man schlafen (genial!) und dem ertappten Gefühl beim Aufwachen, wenn man dann doch eingeschlafen war. Irgendwann werde ich ein Kind unter diesem Schal zudecken. Ich bete, dass ich ihn vorher nicht verliere. Theresa Hein

    Folge 62: Der Hackklotz

    Als ich vor vielen Jahrzehnten meine erste Wohnung in München einrichten wollte, fuhr ich dafür durchs oberbayrische Umland, um bei jenen Scheunen zu halten, an denen handgemalte Schilder »Antikes & Raritäten« versprachen: von Bauernhöfen ausgespuckte Überbleibsel wie Melkschemel, zerbeulte Milchkannen oder Waschzuber aus Emaile - altes Geraffel für Menschen, die froh sind, keine zerbeulten Milchkannen mehr nutzen zu müssen, aber für eine landlustige Großstädterin wie mich das Größte: so urig, so authentisch! Ich wollte diese antiken Dinge mit Modernem kombinieren, malte mir im Kopf das eklektische Interior Design meiner Butze schon aus.

    An einem Tag wanderte ich wieder durch eine Scheune voll Bauerntischen, Truhen, Anrichten, auch im Garten stand viel Zeug. Plötzlich sah ich: den schönsten Beistelltisch, den ich je gesehen hatte! Aus altem Holz, mit einer interessanten, fast grafisch anmutenden Oberflächenstruktur. Den wollte ich haben, direkt neben meinem Sofa, ich war schockverliebt. Ich fragte den Besitzer, was dieser schöne Beistelltisch kosten solle. »Was für ein Tisch? Das ist kein Tisch. Das ist mein Hackklotz. Darauf hake ich Holz für meinen Ofen.« »Oh. Kann ich den trotzdem kaufen?« »Sie wollen meinen Hackklotz kaufen?« Er sah mich irritiert an. Ich meinte, ihn innerlich den Kopf schütteln zu sehen: versteh einer diese Großstädter. Es wurde dann ein bisschen peinlich, weil keiner von uns eine Idee hatte, welchen Preis man für einen zerhauenen Hackklotz aufrufen könnte. Wir einigten uns auf 20 Mark. Die Wohnung in München habe ich schon lang nicht mehr, der Hackklotz ist viermal mit mir umgezogen, steht jetzt neben einem Sessel in meiner Berliner Wohnung, und wenn meine großstädtischen Gäste vorbeikommen, rufen sie entzückt: »Was für ein schöner Beistelltisch! So urig, so authentisch!« Kerstin Greiner

    Folge 61: Die Nachttischuhr

    Manche sind furchtbar genervt davon. Ich hingegen mag das Ticken meiner Nachttischuhr sehr gerne. Der gleichmäßige Rhythmus beruhigt mich, sodass sich meine Gedanken problemlos ordnen lassen. Unnötige »Ach!-Hättest-du-da-bloß-anders-gehandelt«-Bedenken, die mich oft vor dem Einschlafen heimsuchen wollen, werden von dem metrischen Ticktack ferngehalten.

    Schon mehr als zehn Jahre begleitet mich diese Uhr. Dabei gefiel sie mir zu Beginn gar nicht: Ich habe sie zu meinem vierzehnten Geburtstag bekommen. Gehofft hatte ich auf ein anderes Geschenk, etwas Cooleres, Teenagergerechteres als eine aufklappbare Uhr. Wenig beeindruckt stellte ich sie damals auf meinen Nachttisch. Mehrere Jahre und Nachttische später steht sie nach wie vor beim Einschlafen stets an meiner Seite.

    Optisch fand mein Teenager-Ich die Uhr »ganz okay«. Jetzt bin ich der Meinung, dass »ganz okay« ihr absolut nicht gerecht wird: Sieht man meine Nachttischuhr im geschlossenen Zustand, gleicht sie einem silbernen Kompass. Klappt man sie auf, offenbaren sich ein eierschalenfarbenes Zifferblatt und zwei Globen. Sie ist unaufdringlich elegant und klassisch – oder wie die Gen Z es sagen würde: »very demure, very mindful«.

    Ich könnte die Uhr auch als Wecker nutzen. Mit Betonung auf »könnte«. Tue ich aber nicht, da ich wegen ihr mehrmals verschlafen habe: Sie hat einfach nicht geklingelt. Trotz dieses Makels will ich sie auf meinem Nachtkästchen nicht mehr missen. Nicht nur, weil sie optisch gut zu meiner Einrichtung passt, sondern vor allem, weil ihr Ticken zu einem vertrauten Rhythmus für mich geworden ist, den ich stets mit einem Gefühl von zu Hause und Geborgenheit verbinden werde. Anastasia Tolstunova

    Folge 60: Das Kinder-Kochbuch

    Die Beziehung zwischen uns war eingeschlafen, wir hatten uns auseinandergelebt und schließlich war ich ausgezogen – während mein »Maxi-Mini-Maus-Kochbuch« bei meinen Eltern im Regal geblieben war. Aber als mich während Corona das Koch- und Backfieber erwischte, fiel es mir wieder in die Hände und meine Liebe entflammte neu. Nun wohnen wir wieder zusammen.

    Ich habe das »Maxi-Mini-Maus-Kochbuch« als Kind von der Schwester meiner Oma geschenkt bekommen. Welche Schwester es war, darüber sind sich meine Oma und ich nicht ganz einig. Vermutlich Tante Mitzi, die mit der besten Eierlikörtorte. Das Kochbuch ist von der Sendung mit der Maus, weswegen sich nicht nur Rezepte zu Nudeln, Pommes, Pizza, Muffins und Weihnachtskeksen darin befinden, sondern auch anderes Wissenswertes. Etwa: Wieso heißt die Pizza eigentlich Pizza? Gute Frage, oder? Die Maus kennt die Antwort: Das Wort Pizza stammt vermutlich aus dem Dialekt der italienischen Stadt Neapel. »Piz'za, Piz'za«, was so viel bedeutet wie »druck'ruck- druck'ruck!«,  sollen die Pizzabäcker früher gerufen haben, während sie den Teig kneteten.  

    Obendrein gibt es zu jedem Kapitel einen Basteltipp. Die Basteltipps interessieren mich inzwischen weniger, aber das ein oder andere Rezept koche ich auch heute noch nach. Und wenn mich Freunde oder Familienmitglieder fragen, woher es stammt, sage ich mit Stolz: »Aus dem Maxi-Mini-Maus-Kochbuch!« Im ersten Moment schauen sie mich dann fragend an, aber wenn ich das Kochbuch hole, schmunzeln sie. Einmal mehr ein Zeichen dafür, dass man das Kind in sich manchmal einfach bekochen sollte. Vielleicht mit Jumbo Pommes oder Pizza-Clowns? Stefanie Rabensteiner

    Folge 59: Der Mixer

    Ich weiß, es klingt absurd. Aber ich glaube schon ein wenig an die Magie der Dinge. Daran, dass Gegenstände nicht nur schön oder funktional sein können, sondern auch Glück bringen. Erinnerungen transportieren sie auf jeden Fall. Damit lädt man sie schließlich selbst auf. So wie ich meinen Mixer von Krups mit Erinnerungen an meine Großmutter. Er hat nämlich mal ihr gehört, vor fast zwanzig Jahren hat sie ihn mir zum Auszug überlassen, sie hatte sich eh gerade einen neuen gekauft. Und so kam ich in den Besitz dieses sehr schlichten weißen Mixers mit dem roten An-Aus-Knopf, den Krups TopMix Plus, produziert wurde er von 1972 bis 1984. Eigentlich gehören auch noch zwei Knethaken dazu. Aber ich habe nur die Schneebesen übernommen. Und trotz seines Alters und seiner ungezählten Arbeitseinsätze funktioniert der Mixer nach wie vor einwandfrei, ohrenbetäubend laut knattern seine Metallbesen gegen die Wände der pinken Plastikschüssel (die ich wiederum von meiner Mutter übernommen habe), wenn ich Sahne oder Eischnee schlage. Ich mache das nicht so oft, aber wenn, dann katapultiert mich dieses Geräusch sofort in die kleine Küche meiner Großmutter mit der strahlend blauen Arbeitsplatte und den holländischen Fliesen an der Wand. Und ich sitze wieder auf der gemütlichen Holzbank, schaue ihr beim Backen zu und darf später erst den Teig von den Rührbesen und dann aus der Schüssel lecken.

    Meine Oma ist tot, aber meine Erinnerungen an sie sind sehr lebendig, außerdem gibt es ihre Küche und viele ihrer Dinge noch, da bisher noch niemand Neues eingezogen ist. Wenn ich bei meinen Eltern bin, gehe ich jedes Mal rüber (die zwei Häuser sind durch einen Flur verbunden), streife durch die Räume, öffne ihre Schränke, berühre die Dinge, die sie dort hinterlassen hat. Manchmal nehme ich auch etwas mit nach Hause, zum Beispiel die kleinen Eierbecher aus Aluminium, in denen sie sonntags immer die weichgekochten Eier servierte. Die stehen jetzt bei mir im Küchenschrank und jedes Mal, wenn ich die Türen öffne und sie sehe, huscht ein Lächeln über mein Gesicht. Auch wenn meine Oma längst woanders ist, ist sie in Gestalt der Dinge, die sie einst umgaben, stets mittendrin in meinem Leben. Mareike Nieberding

    Folge 58: Die Brille

    Langzeitbeziehungen entwickeln sich nicht nur in eine Richtung, es wird nicht alles besser. Gerade denke ich übers Schlussmachen nach: mit meiner Brille. Ich liebe sie, zwangsläufig. Ohne sie wäre meine Welt unklarer. Aber es ist nicht immer einfach zwischen uns.

    Seit der Grundschule sind die Brille und ich ein Paar. Sie rettete mich vor den ewig quälenden Kopfschmerzen, ich beschützte sie vor der Bedeutungslosigkeit: Alle paar Jahre kamen die Kopfschmerzen zurück und fortan wusste ich, dass eine neue Stärke fällig war. Sämtliche Brillen, die mir je auf der Nase saßen, bewahre ich in einem Karton auf, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich sie doch noch mal brauche.

    Leider gehöre ich zu den seltenen Exemplaren der Sehkranken, denen nicht etwa ein rettendes Gestell von der Stange zugeworfen werden kann. Nein. Mein Gesicht ist nicht bloß schmal, mein Augenabstand ist nach einhelliger Expertenmeinung überaus klein. Beim Besuch in größeren wie kleineren Geschäften sehe ich Optikerinnen augenfällig und händeringend um eine Fassung bemüht. Ich schiebe den notwendigen Brillenkauf also gerne auf.

    Den Blickwinkel verändern lohnt immer. Wieso nicht den Wind im Gesicht spüren und die Welt entrückt betrachten: etwas unscharf zwar, in Punkten vielleicht und dennoch ein impressionistisches Meisterwerk. Die Brille wieder zurechtgerückt, werden aus Schemen klare Formen. Kaum jemand kann die eigene Perspektive schneller verändern als eine Brillenträgerin. Tanja Selder

    Folge 57: Die Fischkaraffe

    »Das ist ja eine witzige Vase!«, habe ich schon öfter gehört, wenn Menschen den grünen Fisch in meiner Küche entdecken. Fast, denn das ist keine Vase – das ist eine Wasserkaraffe. Aber bei dem »witzig« kann ich zustimmen. Denn der Gluckerfisch hat schon viele Menschen zum Lachen gebracht.

    Er ist aus Keramik, erinnert farblich an einen Teich am Waldrand, in dem Karpfen ihre gemächlichen Runden ziehen, und sieht aus wie ein Fisch, der die Flosse weit zurückklappt (der Griff!) und den Mund (Ausschank, tropft nicht!) weit öffnet, so als müsste gleich ein »Blubb!« daraus zu hören sein.

    Ist es auch, denn im Innern ist eine Kammer, die den Fisch bei einem gewissen Füllstand gluckern lässt; beim Einschenken, aber auch, wenn das Wasser zurück in den Bauch des Fischs schwappt.

    In meinem persönlichen Teich hat der Fisch sich seit seiner ersten Sichtung deutlich vermehrt. Ich habe ihn zuerst bei meiner Mutter im Regal gesehen, kurz danach bei meiner Schwester auf dem Esstisch. Unter dem Weihnachtsbaum lag dann mein eigener Gluckerfisch – und zog mit mir in meine WG. Meine Mitbewohnerin bekam regelmäßig Kicheranfälle am Esstisch (»Der gluckert mich an!«). Als ich in eine neue Stadt zog und die Karaffe mit mir, ging es hier weiter. Zwei Freundinnen haben ihn schon, von einer weiß ich, dass sie ihn auch gerne immer wieder verschenkt. Denn der Gluckerfisch ist zwar nur eine Wasserkaraffe, aber eben eine besonders witzige – die neben Wasser auch Freude schenkt. Dana Packert

    Folge 56: Das Klavier

    Es ist völlig verstimmt. Es ist beschämend vergilbt. Es liegt immer so viel darauf, dass ich sowieso nie darauf spielen kann. Trotzdem würde ich das Klavier nie weggeben. Dieses müde, alte Yamaha-Klavier mit dem billigen Lack, der vor Ewigkeiten mal weiß war. Wir gehören zusammen, zwei müde alte Dinger aus den 70er Jahren. Mein Vater hat es kurz nach meiner Geburt gekauft, eigentlich für sich selbst. Als ich alt genug war, um mir die Akkorde von »Our House« und »Roxanne« auf der Tastatur zusammenzusuchen, zog es um in mein Zimmer. Ich spielte als Teenager viel darauf, Klassik nach Noten eher ungern, Pop nach Gehör umso lieber. Ich hatte Klavierunterricht, aber das weiße Ding fühlte sich am wohlsten, wenn ich Stücke spielte, die ihm und mir zusammen einfielen. Ich steckte Reißnägel in die Filzhämmer, damit es härter klingt, ich holte die Reißnägel wieder raus, damit es nicht mehr so hart klingt. Das Klavier nahm es gutmütig hin. Als ich zu Hause auszog, zog es mit aus. Ich stellte Bier darauf ab, ich kippte versehentlich Kaffee darüber, Zigarettenasche landete zwischen den Tasten, es wurde bei Partys malträtiert, eines Nachts krachte eine Kleiderstange von der Wand auf die Tastatur und hinterließ böse Spuren. Das Klavier nahm es gutmütig hin. Es folgten noch mehr Umzüge, Heirat, Kinder. Das Klavier wurde immer staubiger, aber es kam mit. Heute steht es im Wohnzimmer und wird von der ganzen Familie als Ablagefläche missbraucht. Schulhefte, Rechnungen, Bücher, Handys, Malkästen, Sportbeutel, Handschuhe: Es ist ein Aushilfsregal geworden. Das Klavier nimmt es gutmütig hin. Nur selten mal räume ich es frei, klappe den Deckel auf und spiele ein paar Töne. Sie wehen verstimmt durch das ganze Haus, das Ding tut, was es kann. Ich frage leise: Psst, du bist hoffentlich nicht böse, wenn immer so viel Zeug auf dir rumliegt, oder? Das Klavier schiebt mir einen warmen E-Moll-sieben-Akkord rüber und sagt: Ist in Ordnung, Hauptsache, ich darf bei euch bleiben. Und ich sage: Klar bleibst du, für immer. Ich könnte mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.
    Max Fellmann

    Folge 55: Der Spaghetti-Tester

    Seit mehr als zwanzig Jahren wohnt in unserer Besteckschublade ein Spaghetti-Tester: ein leicht bauchig geformter Stab, an einer Seite spitz zulaufend, an der anderen mit einem runden Köpfchen versehen, das zum Stab hin eine Kerbe aufweist: Darin lässt sich – für die Al-dente-Probe – mühelos eine einzelne Spaghetti-Nudel aus dem Kochwasser ziehen. Das mag einem wahlweise überflüssig oder dekadent erscheinen (das Gerät kostet heute mehr als 50 Euro), aber für alle, die schon mal mit einer Gabel nach schlüpfrigen Nudeln geangelt und sich dabei sengendes Kochwasser auf die fahrigen Pfoten gespritzt haben, ist der Stab nicht weniger als eine Offenbarung. Bis vor Kurzem war ich mir sicher, wir hätten das Gerät damals auf die Empfehlung eines unbestechlichen Produkttesters hin gekauft, quasi eines frühen Influencers, der die Dinge, die er ausprobierte, auch mal verriss, wenn er sie für einem Schmarrn hielt. Ich hätte geschworen, Gerhard Meir, Münchner Friseur und Kolumnist, der für das SZ-Magazin in seiner Generalprobe »die Warenwelt durchkämmte«, habe irgendwann Anfang der 2000er-Jahre dem Spaghetti-Tester die volle Punktzahl auf seiner Genussskala gegeben. Aber als ich die Jahresbände im Büro durchgeblättert habe: Fehlanzeige. Der einzige Al-dente-Tester, den er präsentierte, war eine Plastikfigur, die man zu den Nudeln ins Wasser werfen musste, und die fand er unterirdisch. Tja. Aber wer immer damals den Stab rezensiert hat, er oder sie war jedenfalls begeistert, und ich bin es heute noch.

    Dass mir die Nudelprobe wichtig ist, liegt wiederum am Münchner Westend, unserem Wohnort zum Ende der Studienzeit. Dort gab es in der Kazmairstraße eine italienische Bar, nicht besonders schick, nicht besonders groß, und falls sie je einen Namen hatte, hab ich ihn vergessen. Die deckenhohen Ikea-Regale (die billigste Sorte – wir hatten die gleichen in der Küche) waren zu einem Drittel gefüllt mit allerlei italienischen Spezereien, die kaum jemand kaufte. Den restlichen Platz nahmen Weinflaschen und Spirituosen ein – die kaufte man fleißig, wie auch Käse und Salami aus der Kühltheke. Aber vor allem nahm das halbe Viertel dort täglich seinen Caffè, der immer exzellent war, serviert von Vito, der immer schlecht gelaunt war oder zumindest so tat. Vito war ein mittelalter, wettergegerbter »Etrusker«, wie er sich selbst bezeichnete, und ein wahrer Snob, was das Essen anging. Kein einziges italienisches Restaurant in München fand Gnade vor seinem Gaumen, und auch in seiner Heimat gab es nur wenige Lokale, die er – sparsam – lobte. Sein Glück, und unseres, war daher Angela, seine Frau, die am späten Vormittag in die Bar kam und in den Kulissen die Pasta für den Mittagstisch kochte. Ab 12 Uhr drängte die Nachbarschaft herein, um einen Platz an einem der Stehtische und vielleicht auch einen Barhocker zu erwischen – und dann einen Teller von Angelas Nudeln vorgesetzt zu bekommen: in wenig Sauce, perfekt al dente gegart, köstlich. Man aß, was immer sie auftischte, und wurde nie enttäuscht. Dass wir kurz darauf aus dem Westend wegziehen mussten, brach uns das Herz – nicht nur, aber auch wegen Vitos Bar. Und als wir nach einiger Zeit wieder vorbeischauten, hatten neue Besitzer die Räume bezogen; was aus Vito und Angela geworden war, konnte uns niemand sagen.

    Ich glaube nicht, dass ich je so eine fantastische Sauce hinbekommen habe wie Angela – obwohl sie immer großzügig ihre Rezepte verriet. Ich halte mich also an die Basics: kaufe Spaghetti von guter Qualität, ersäufe sie nicht in Sauce und achte darauf, dass sie al dente sind. Und wann immer ich mit meinem Stab im Kochwasser hantiere, denke ich an Vito und Angela und ihre Bar in der Kazmairstraße, und dass ich viel dafür geben würde, noch einmal dort zu essen. Daniela Ptok

    Folge 54: Das Portemonnaie

    Als ich sechzehn Jahre alt war, beschloss ich, dass es an der Zeit war für ein richtiges Portemonnaie. Meine neuerstandene Debitkarte sollte schließlich einen gebührenden Platz bekommen. Da auf der Karte aber noch das nötige Geld fehlte, kramte ich in der Kommode meiner Mutter und da war es: rotbraunes Leder, abgenutzt, geräumig und doch kompakt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Diese Liebe hält seit über zehn Jahren an.

    Das sieht man: Durch das viele Auf- und Zuklappen löst sich langsam, aber stetig die Naht an der oberen Kante meines Portemonnaies. Die untere Kante ist aufgerissen, seitdem ich es vor vielen Jahren auf einer Bar liegen ließ und jemand sein Getränk darüber schüttete. Den Vodka Energy saugte das Leder auf, aber dass ich es von der klebrigen Bar reißen musste, hat es mir schlecht verziehen.

    Klappt man das Börserl auf, kann man Rückschlüsse auf meine Persönlichkeit ziehen: Sammelpässe von meinem syrischen Friseur und meiner liebsten veganen Eisdiele stecken neben Belegen von längst versendeten Briefen (Was, wenn sie nicht ankommen?) und Fotos meiner Angehörigen. Im Münzfach sammeln sich Haargummis, vor dem Sport abgelegter Schmuck und Pfandmarken von zahlreichen Festivals und Konzerten. Hier findet sich auch noch ein Adapter von Micro-USB zu Typ-C. Ob der es jemals an den dafür angemessenen Ort schafft (das Archiv für überflüssig gewordene Technikgadgets), steht in den Sternen. Was aber klar ist: Dieses Portemonnaie wird mich begleiten, bis auch die letzte Naht gerissen ist. Sarah Aberer

    Folge 53: Der Rucksack

    Wenn ich meinen großen roten Rucksack aus dem Schrank hole, packt mich die Abenteuerlust. 65 Liter passen rein, und mehr Platz brauche ich nicht, um mehrere Monate zu verreisen. Oder um ein Wochenende wandern zu gehen mit Isomatte, Schlafsack und Zelt. Ich mag das ausgeklügelte Tragesystem und die vielen praktischen Fächer, aber es ist die Vorgeschichte des Rucksacks, die ihn zu etwas Besonderem macht: Er hat dem verstorbenen besten Freund meines Vaters gehört.

    Als ich meine erste Reise nach Asien plante, bot mir die Witwe den Rucksack an. Den brauche sie jetzt erst mal nicht mehr, sagte sie. Dass ich ausgerechnet nach Thailand wollte, wo der beste Freund meines Vaters oft und gerne hingereist war, machte das sonst so schmerzhafte Aussortieren für uns alle zu etwas Hoffnungsvollem. Ein full circle moment, der Kreis schließt sich.

    Da der beste Freund meines Vaters in etwa so groß war wie ich, passt mir sein Rucksack wie angegossen – und er ist zu meinem treuen Begleiter geworden. Ich bin damit im Sommer durch Osteuropa gereist und im Winter durch Südostasien. Ich bin damit ins Auslandssemester nach Norwegen aufgebrochen, so vollgepackt, dass ich die Schnallen fast nicht mehr schließen konnte. Ich bin damit zu Sonnenaufgängen gewandert und zum Wintercampen durch den Schnee gestapft. Ölflecken, dunkle Streifen und aufgeriebener Stoff zeugen von meinen Abenteuern der vergangenen vier Jahre, von Fahrten in klapprigen Bussen ohne Klimaanlage und mit kleinen Booten, in denen ich nass und seekrank wurde.

    Die auffälligsten Gebrauchsspuren stammen von mir, und trotzdem überlege ich häufig, was wohl sein Vorbesitzer mit dem Rucksack erlebt hat. Kurz nach seinem Tod wollte ich seine Witwe nicht darauf ansprechen, aber für diesen Sommer habe ich mir vorgenommen, ihr einige dieser Fragen zu stellen: Warum hat er sich für dieses Modell entschieden? War ich vielleicht schon an Orten, an denen er auch war? Welche Reisen hatte er noch geplant – wäre der Rucksack mit ihm noch in ganz andere Ecken der Welt gekommen? Was würde er sagen, wenn er mich mit seinem – inzwischen meinem – Rucksack auf dem Rücken sehen könnte? Ich frage mich aber auch: Wie viele Geschichten stecken noch in dem Funktionsstoff des Rucksacks, die ich nie erzählt bekommen werde – aber auf jeder Reise mit mir herumtrage? Franziska Groll

    Folge 52: Der Steamer

    Ich war ein optisch ordentliches Kind: meine Bob-Frisur meistens gekämmt, meine Fingernägel kurz und sauber, weil mein Klavierlehrer sonst gemeckert hätte, und meine Pullis und Hosen weitgehend knitterfrei. Denn in meinem Elternhaus wurde gebügelt, was das Zeug hält, sogar Handtücher und Unterhemden bekamen eine Schnellglättung, damit sie sich akkurat falten ließen.

    Als ich von daheim auszog, gehörten ein Bügeleisen mit Bügelbrett deshalb zu meiner Studentinnen-Erstausstattung, ich ging davon aus, dass man das als erwachsener Mensch eben so macht: möglichst glatt durchs Leben gehen. Aber meine neuen Freundinnen und Freunde lachten, wenn ich T-Shirts mit einer schnurgeraden Falte von der Schulter bis zum Ärmelsaum trug: »Du bügelst?? Warum nur?« Tja. Das fragte ich mich nach ein paar Monaten selbst, als ich sonntagabends am Bügelbrett stand, einen Korb Wäsche neben mir, in der Glotze irgendein schlechter Krimi. Ich schrieb einer Freundin per SMS »Pizza und Bier?«, ließ Bügeleisen, Brett und Korb stehen – und hörte in diesem Moment auf zu bügeln. Bis heute.

    Außer in Ausnahmefällen natürlich, in denen es eine Bluse ohne Falten braucht, oder die Kinder ihre Bügelperlenbilder verschmelzen lassen wollen. Ich habe dadurch sehr viel Lebenszeit gewonnen. Und gleichzeitig aber ein Viertel meines Kleiderschranks verloren, weil man manche Sachen einfach nicht in seriösen Zusammenhängen anziehen kann, wenn sie aussehen wie eine vier Tage alte Brottüte.

    Als ich zum wiederholten Mal mein geliebtes mintgrünes langes Kleid auszog, weil mir der Blick in den Spiegel verbot, derart knitterig aus dem Haus zu gehen, fiel mir diese Influencerin ein, die Werbung für einen Steamer gemacht hatte. Ein Gerät, das Kleidungsstücke angeblich nur mit dem Prinzip Wasserdampf glätten sollte.

    Ein paar Tage später fuhr ich in den Baumarkt und kaufte so ein Wunderteil. Es gab nur eins zur Auswahl, von Tefal, und ich kann mangels Vergleiche nicht sagen, ob es besonders gut oder besonders schlecht ist. Was ich aber ohne Wenn und Aber behaupte: Dieses Gerät hat mein Leben verändert. Ich benutze es mittlerweile fast jeden Morgen, und wundere mich jedes Mal, warum mir nicht viel früher jemand gesagt hat, dass jeder Mensch einen Steamer haben sollte. Klamotte der Wahl auf einen Bügel hängen, Tank füllen, anschalten, eine Minute über den Stoff gehen – fertig.

    Es hat knapp 40 Euro gekostet, um ein neuer Mensch zu werden, aber diese Verwandlung war jeden Cent wert, und im Vergleich zu sonstigen modischen Faltenbehandlungen ja auch wirklich günstig. Und wenn man bedenkt, dass noch 15 auf einmal wieder tragbare Kleidungsstücke im Preis inbegriffen waren: geradezu ein Schnäppchen. Einziges Problem: Von der faltenfreien Optik nach einer Botox-Behandlung kann man süchtig werden, heißt es, und ähnlich ist es mit den faltenfreien Klamotten. Ich fühle mich viel unwohler als früher, wenn ich verkrumpelt daherkomme. Deshalb überlege ich gerade, ob ich mir nicht auch noch einen kleinen Reisesteamer besorge. Sara Peschke

    Folge 51: Die Baseballkappe

    Ich trage keine Mützen. Auch diese nicht. Und Sachen, die ich nicht benutze, bewahre ich auch nicht auf. Die verhökere oder entsorge ich. Schönes Wort. Eine Sorge loswerden.

    Aber diese Mütze, die ich nicht benutze, bewahre ich auf immerdar. Es ist eine beigefarbene Baseballmütze mit schwarzer Stirnkappe, vorn der Schriftzug »1. FC Köln« in etwas kitschig geschwungener, sattroter Schrift. Die Mütze vereint zwei meiner Lieben: einmal die Liebe zu dem Freund, der sie mir vor etwa 25 Jahren geschenkt hat. Er hatte sie aus dem Fundus einer Filmproduktion ergattert. Und dann die Liebe zu dem Verein, der draufsteht. Auch wenn es da natürlich komplizierter wird.

    Liegt nicht an mir. Es ist der 1. FC Köln, der es einem mit dem Lieben schwermacht. Ständig dieses Verlieren. Und immer dieses »Bis hierhin war alles Mist, aber jetzt werfen wir alles um, hier der Fünfjahresplan, an dessen Ende die Weltherrschaft steht, viele Grüße, euer neuer Vorstand«, dann dieses »Verletzungspech, blöder Rasen, dunkle Mächte, dies, das«, schließlich dieses »Spätestens in zwei Jahren wollen wir wieder aufsteigen, und dann werden wir uns fest in der Spitze etablieren, hier der Fünfjahresplan«. Den 1. FC Köln müsste Christopher Nolan mal verfilmen, da gibt es dauernd exakt gleiche Wiederholungen der exakt gleichen Handlungen und andere Raum-Zeit-Scheiße.

    Als ich die Mütze geschenkt bekam, waren die meisten Spieler des Vereins älter als ich es war. Jetzt sind sie jünger, genauer gesagt: Jeder von ihnen könnte mein Sohn sein. Es fühlt sich auch so an. Wie die Sorge um das eigene Kind. Der Stolz, wenn es gewonnen hat. Die als Grimm verkleidete Nachsicht, wenn es verloren hat. Die Geduld, diese nie versiegende Geduld.

    Ach, heute setze ich die Mütze mal auf für einen Tag. Marc Schürmann

    Folge 50: Die Sonnenbrille

    Die Sommerzeit kann für Brillenträger ganz schön unpraktisch sein. Entweder, man kauft eine Sonnenbrille mit Stärke. Oder man setzt Kontaktlinsen ein und trägt eine herkömmliche Sonnenbrille darüber. Für mich kommt beides nicht in Frage: Eine Sonnenbrille mit Stärke ist mir zu teuer und ich müsste immer ein Brillenetui mit mir herumtragen. Und Kontaktlinsen und ich werden einfach keine Freunde; allein bei dem Gedanken, mir ins Auge zu fassen, zucke ich zusammen. Aber keine Sonnenbrille ist eben auch keine Option.

    Ich habe für mich aber eine Lösung entdeckt: die doppelte Brille. Seit einigen Jahren setze ich eine günstige Sonnenbrille über meiner Brille auf, sodass ich – wie ein Freund mal sagte – doppelt bebrillt unterwegs bin. Die Sonnenbrille, die ich trage, ist recht groß, damit sie über meine Brille passt und sie einigermaßen gut verdeckt, sodass man manchmal nur von der Seite sieht, dass ich zwei Brillen trage.

    Meine Überzugsonnenbrille ist nicht seit Jahren dieselbe, dafür gehe ich nicht vorsichtig genug damit um. Wenn ich sie nicht gerade über meiner Brille trage, setze ich sie auf meinen Kopf oder werfe sie in meine Tasche. So habe ich sie schnell auf- oder abgesetzt, wenn die Sonne herauskommt oder verschwindet. Meine vorletzte habe ich an einem Sommerabend in einem Feld verloren, die letzte ist am Ende des Italien-Urlaubs in die Brüche gegangen. Aber immerhin das Modell ist immer ein ähnliches: maximal 15 Euro wert, aus der Drogerie. Das ist perfekt für mich: Wenn etwas passiert, ist das nicht so schlimm. Immerhin eine Saison hält die Überziehsonnenbrille bei mir aber meistens.

    Die Doppelbrille hat in meinem Umkreis schon für die ein oder andere Überraschung gesorgt. Nicht selten müssen andere lachen, wenn ich meine Sonnenbrille abziehe und darunter eine weitere Brille auftaucht. Ein paar Freunde von mir, die auch eine Brille tragen, haben diese Lösung selbst schon probiert – und waren gar nicht mal so abgeneigt. Ich jedenfalls freue mich schon auf den Sommer mit meiner aktuellen Sonnenbrille und bin gespannt, wie lang sie mich begleiten wird. Annika Mösl

    Folge 49: Die Dekokugel

    Sie begleitet mich fast schon mein ganzes Leben: eine kleine Dekokugel, in der sich zwei Goldfische küssen, darunter Algen-ähnliches Grün auf weißen Kieseln. Klingt ein wenig kitschig, aber sie ist echt schön. Wann meine Mutter sie gekauft hat, weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber noch, wie die Kugel stets auf meinem Fensterbrett lag, in dem Dachzimmer, das ich als Kind bewohnte. Sommer wie Winter spiegelte sie dort das Fensterpanorama. Auch jetzt sitze ich manchmal einfach nur da und betrachte sie. Bei Regen zeigt sie sich grau, bei Sonnenschein in hellem Gelb, ist es wolkenverhangen, spiegelt sie das Weiß wider. Fünf Umzüge hat sie mitgemacht, vom Land in die Stadt, vom Studierendenwohnheim in die WG, von der WG in die eigene Wohnung, jetzt ziert sie das Fensterbrett in meiner Stadtwohnung. Ich weiß gar nicht, warum ich sie so liebgewonnen habe, denn sie tut ja gar nichts, außer schön auszusehen. Aber sie hat mich all die Jahre begleitet und noch immer keine Macke, keinen Mangel. Sie war da, als ich mich zum ersten Mal verliebte, als ich mich zum ersten Mal trennte, als ich mein Abitur bestand, als ich voller Anspannung und Vorfreude mein Studium begann und als ich nervös und freudig den ersten Job annahm. Heute verwende ich sie meist, um sie zwischen Fensterscheibe und Rahmen zu stellen, wenn ich das Fenster aufhabe. So verhindert sie, dass der Wind es wieder zufallen lässt. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich diesen mir in den ganzen Jahren so treu gebliebenen Artikel gerade dafür verwende. So, als wäre das keine gebührende Aufgabe für die schöne Dekokugel. Katrin Börsch

    Folge 48: Die Steckdosenleiste

    An den Moment unseres Kennenlernens erinnere ich mich noch genau: Es war ein sonniger Tag vor ungefähr 15 Jahren. Ich trug eine fleckig gebleichte Skinny Jeans und mein Papst Paul II.-T-Shirt, lief rauchend und telefonierend auf dem Parkplatz der Neon-Magazin-Redaktion Schlangenlinien und stöberte zwischendurch in den Elektroschrott-Containern, die dort abgestellt waren. Dort, zwischen Kabelknäueln und nikotingelben Tastaturen guckte sie keck heraus: meine Steckdosenleiste, 16-fach!

    Leider war das Zusammenkommen damals schon zu spät. In meinen Teenagerjahren hätten die Steckleiste und ich zusammenkommen sollen. Wenn ich mich mit meinen Freunden traf, um gemeinsam Computer zu spielen. Zu wenig Steckdosen! Bei den Partys, bei denen wir mit zusammengeschlossenen Verstärkern und vielen bemalten Glühbirnen, Schwarzlicht- und Lavalampen versuchten, Club-Lautstärke und Club-Schummrigkeit herzustellen. Immer zu wenig Dosen! Wir fischten unter Betten, hinter Regalen nach mehr Kabeln. Dreifachstecker in Dreifachstecker in Dreifachstecker steckend, erreichten wir immer nur magere zwei weitere Steckplätze für unseren Gerätepark.

    Die Jahre nach unserem Kennenlernen verbrachte die Steckleiste daher nicht auf wilden Feiern, sondern in meinen tristen Büros. Mal in einer Ecke lungernd, mal im Einsatz als Schwert bei albernen Bürokämpfen oder als Scherzartikel, wenn mal wieder irgendwo Dosennot herrschte. Denn erstmal war sie nutzlos; ihr Kabel war abgezwickt. Nachdem ich sie repariert hatte, bestromte sie mich brav, aber auch völlig unterfordert. Denn mit mehr als zwei, drei Steckern wurde sie nie belastet. Netten Bürobekanntschaften führe ich sie aber trotzdem stets stolz vor. Das ist meine! 16-fach! Hab ich vom Sperrmüll!

    Es gibt wenige Dinge, von denen ich mich schwerer trennen könnte. Dabei ist sie keine Schönheit: Ihre schwarzen Buchsen stecken in einem Alugehäuse mit Endkappen aus Plastik. Daran hängt ein steifes, schmutziges graues Kabel. Nicht von einem Designer, sondern von einem Ingenieur gestaltet. Solche Steckleisten werden im dritten Untergeschoss hinter Serverschränken versteckt. Sie werden einmal von einem Techniker und ein zweites, letztes Mal von einem Entrümpler angesehen. Meine Steckleiste ist ein anachronistisches Lachobjekt in einer kabellosen Zeit. Dass sie nicht wieder im Container landet, liegt an meinen Erwartungen und ihren Möglichkeiten. Denn vielleicht werde ich ja irgendwann wieder eine Party veranstalten, bei der ich alle ihre Buchsen belege. Bis dahin darf sie weiter unter meinem Tisch liegen und mir ihren besten Strom für meine Layouts und diesen Text spenden. Jonas Natterer

    Folge 47: Die Handyhülle

    Lange habe ich eine Handyhülle für etwas so Unnötiges wie ein Lied als Klingelton gehalten. Ich habe mein Handy nie mit Stickern beklebt, es hat schon lange keinen Namen mehr und auch mit dem Design für den Hintergrund versuche ich mich nicht lange aufzuhalten. Ich will es eigentlich nur benutzen, es muss nicht übermäßig personalisiert sein. Aber dann habe ich die Handyhülle irgendwann erst richtig kapiert. Nicht als Sturzschutz, nicht als Deko-Äußeres, sondern als Aufbewahrungsort. Seitdem liebe ich sie und gehe kaum ohne. Denn zwischen Hülle und Handy verbirgt sich ihr Sinn: Hier bewahre ich neben der Bankkarte oft auch den Haustürschlüssel, einen fünf Euro-Schein und ein Familienfoto auf. Mein Handy hat mit Hülle einen kleinen wohligen Bauch. Wenn ich ihn in der Jackentasche ertaste, beruhigt mich das. Es ist ein höchstpersönliches Alltagsversteck, das man immer dabeihat. Auf Reisen kommt der Personalausweis hinzu. Im Urlaub eher eine Hotelzimmerkarte. Seit ein paar Wochen habe ich auch eine getrocknete Blume zwischen Handy und Plastikhülle in Aufbewahrung. Bei einem technischen Gerät kam mir die emotionale Befrachtung unpassend vor, aber der schmale Zwischenraum zwischen Handy und Hülle scheint mir dafür wie gemacht. Lara Fritzsche

    Folge 46: Die Bonsaischere

    Der erste Sold war in Gedanken schon lange ausgegeben, bevor er eintraf, damals, am Anfang des Zivildienstes. Soldstufe 1, plus Verpflegungsgeld! Ein Freund träumte von Ersatzteilen für seinen Motorroller, einer von Konzerten, ein dritter wollte den Sold sparen, für die große Reise, die nach den langen Monaten im Dienst folgen sollte. Ich ging in einen kleinen Laden am Altstadtring und kaufte einen Baum. Er wurzelte in einer Schale aus Ton, das geschrumpfte Abbild der größten Gewächse der Erde, kaum eine Handspanne groß. Seine Blätter formten eine prächtige Krone, auch sie winzig klein. War es ein Ahorn? Eine Ulme? Die Erinnerung daran ist verschwommen. Sicher ist: Er war schön. Und sehr pflegebedürftig. Ein Bonsai, schärfte mir der Verkäufer ein, sei kein Spielzeug. Ein Bonsai wollte regelmäßig in Wasser getaucht, gedüngt und auf Schädlinge abgesucht werden. Seine Gestalt – das Große im Kleinen – gehe außerdem verloren, wenn er nicht zuverlässig zugeschnitten werde. Aus diesem Grund gab der Verkäufer eine Schere dazu, ein Geschenk, die gehe aufs Haus. Die Schere war geschwungen, aus Schmiedeeisen, auch sie nicht größer als ein Handteller. Es dauerte nicht lang, und der Baum war tot. Aber die Schere habe ich bis heute. Es gibt wenig, was sie nicht kann. Heftklammern aufbiegen. Kronkorken öffnen. Pakete aufschlitzen. Und so gut wie alles schneiden, was daherkommt – Papier, Pappe, Plastik, abgelaufene Kreditkarten, Wund- und Warzenpflaster, Panzerklebeband, Seile und Stricke, Gummiflicken sowie alle Arten von Leder und Blech. Nur Äste, Äste hat sie schon Jahrzehnte nicht mehr geschnitten. Roland Schulz

    Folge 45: Das Stopfei

    Von meiner Mutter habe ich ein Stopfei geerbt. Es ist ein Ei aus Holz, macht nichts her, mehr kann man dazu gar nicht sagen. Es liegt seit Jahren bei mir im Schrank. Ich benutze es nie. Aber wehe einer käme auf die Idee es zu entsorgen. Unter keinen Umständen!

    Dabei: Wer kann heute schon noch Löcher stopfen (außer mir vielleicht, auch wenn ich es nicht mache)? Kindheitserinnerungen, lang, lang her: Da saß meine Mutter abends vor dem Nähkasten, nahm sich einen Strumpf, der am großen Zeh oder der Ferse ein Loch hatte oder einen Wollpullover, dessen Ellenbogen durchgescheuert war, fädelte den farblich halbwegs passenden Wollfaden ein, legte das Stopfei unter das Loch und los gings: Immer von unten nach oben und dann von links nach rechts den Faden führen. Oder umgekehrt, nur niemals die Richtungen mischen. Irgendwann habe ich diese Kulturtechnik auch beherrscht. Darauf bin ich ein bisschen stolz, sowas kann ja heute niemand mehr. Susanne Schneider

    Folge 44: Die Gelnägel

    Letztens stand ich vor einer auf den ersten Blick einfach zu lösenden Aufgabe: Nachdem ich in einer Bar Drinks bezahlt hatte, wollte ich meine Bankkarte aufheben, die mir die Barkeeperin auf den Tresen gelegt hatte. Für die meisten Menschen sicherlich keine Bewegung, die sie überdenken, aber ich scheiterte. Meine Gelnägel konnten das dünne Kärtchen nicht anheben. Es muss ein bisschen so ausgesehen haben, wie wenn diese Stofftier-Greifautomaten auf Jahrmärkten ins Leere fassen. Die Barkeeperin und ich grinsten uns amüsiert von meiner Misere an, als ich sie schließlich über den Rand zu mir heranschob und in meinen Geldbeutel packte.

    Die Feinmotorik ist mit Gelnägeln so eine Sache. Tampon einführen, Kontaktlinsen herausnehmen, Getränkedosen öffnen. Alles machbar, aber es bedarf manchmal einer ausgeklügelten Strategie. Die Linse schiebe ich mit zwei angespannten Fingerkuppen von links und rechts aneinander, sodass sie sich von meinem Auge löst, Getränkedosen drücke ich oftmals meiner Begleitung in die Hand. Trotzdem sind künstlich verlängerte Fingernägel in den vergangenen Jahren zu meinen ständigen Begleitern geworden. Meist spitz, manchmal mit kunstvoll geschwungenen Linien darauf, alle vier bis fünf Wochen in einer neuen Farbe erstrahlend. An der Lücke zwischen Nagelbett und farbigem Gel lese ich ab, wie die Zeit vergeht.

    Mein erstes Set habe ich mir von einer Austauschstudentin in ihrer Achter-WG in Madrid machen lassen. Ich hatte keine Ahnung, wie lange das Anbringen dauern würde, wie viele Schichten aufgetragen werden müssen, bevor das eigentliche Design entstehen kann. Nach anderthalb Stunden war sie fertig und ich hin und weg von diesem neuen Gefühl auf meinen Nägeln. Aufgewachsen bin ich in einem winzigen Dorf im Erzgebirge, da trug niemand Kunstnägel und generell war es verpönt, sich zu sehr mit seinem Aussehen zu beschäftigen. Die neongrünen, mehrere zentimeterlangen Spitzen an meinen Händen passten so gar nicht in das mir anerzogene Schönheitsempfinden und ich war umso mehr schockverliebt.

    Die Menschheit doktert schon seit Jahrhunderten an ihren Nägeln herum, aber groß gemacht haben Nagelkunst vor allem Queers, Schwarze Frauen und Arbeiterinnen. Und wie bei so vielen Schönheitstrends, die heutzutage Tiktok-Berühmtheit erlangen und gesamtgesellschaftlich um sich greifen, kriegen sie dafür nicht genügend Anerkennung. Lange Nägel gelten in vielen Kontexten weiterhin als unprofessionell, billo und tussig. Ich meine, an dem Blick einer Person direkt ablesen zu können, wie sie zu den Plastikverlängerungen an meinen Fingern steht. Wenn eine mir unbekannte Person dann meine Nägel bewundert, fühle ich mich für einen kurzen Moment so wie in einer überfüllten Clubtoilette, in der Frauen und queere Menschen laut durcheinander quasseln und gegenseitig ihre Outfits loben. Es ist himmlisch. Emilia Stemmler

    Folge 43: Der »Aromaboy«

    Der Aromaboy ist eine Filterkaffeemaschine von Melitta in Miniaturformat. Der (wirklich gute) Kaffee reicht genau für einen großen Becher. Optisch entsprechen das Braun und Beige der Maschine eigentlich nicht meinem Geschmack, aber für mich war es trotzdem Liebe auf den ersten Blick.

    Als ich von zuhause auszog, bekam ich einen Aromaboy geschenkt. So musste ich nicht jeden Morgen über den Wohnheim-Flur schleichen, um in der Gemeinschaftsküche Wasser aufzukochen, sondern konnte in meinem kleinen Wohnheimzimmer Kaffee kochen.

    Später zog der Aromaboy mit mir durch verschiedene WG-Küchen. Das fröhliche Blubbern des Maschinchens am Morgen lockte verschlafene Schlafanzug-Gestalten zum Klönschnack in die Küche – und der Kaffee reichte sogar für mehrere, wenn auch kleinere Becher. Manchmal füllte jemand schon spät abends Pulver in den Filter und Wasser in den Tank: eine liebevolle Geste, über die sich die Frühaufsteher am nächsten Morgen freuten. Die kleine Maschine erreichte mit der Zeit eine immer größere Fangemeinde – und eroberte auch das Herz meines jetzigen Freundes, bevor ich es tat. Denn als er (damals nur eine Bekanntschaft) den Aromaboy zum ersten Mal in unserer WG-Küche entdeckte, war er sofort begeistert und wünschte sich ein Modell zu Weihnachten. Im Grunde führen die beiden daher eine längere Beziehung als wir.

    Vor zwei Jahren sind mein Freund und ich zusammengezogen. Meine kleine Maschine vererbte ich meiner Mitbewohnerinnen. Sie zog mit meinem Aromaboy in eine andere Stadt und immer, wenn ich sie besuche, freue ich mich, mit ihr die Minikanne zu teilen. Den Aromaboy meines Freundes nahm ich an wie meinen eigenen. Die Minimaschine blubbert noch heute in unserer Küche und wird mit Sicherheit noch den ein oder anderen Umzug mitmachen. Lea Sophie Fetköter

    Folge 42: Die Umhängetasche

    Gut möglich, dass dieser Text bei vielen Menschen eher Achselzucken auslösen wird. Euch, die Organisierten, die Menschen mit Zeitmanagement, die in der Schule schon verschiedenfarbige Marker im Mäppchen hatten und diese auch benutzt haben, euch meine ich nicht. Von mir aus könnt ihr hier aufhören zu lesen. Dieser Text geht an die Schussel, die sogenannten Vepeilten, die Verlierer. Also nicht Verlierer im Sinne von Loser, sondern im Sinne von: »Shit, wo ist mein Geldbeutel?« Sagen Sie diesen Satz so zwei bis sechs Mal die Woche? Dann meine ich Sie!

    Ich bin jedenfalls Zielgruppe meines eigenen Texts. Vielleicht bin ich sogar der inoffizielle Anführer aller Verlierer in Deutschland. Manchmal fängt meine Mutter an, Dinge aufzuzählen, die ich in den ersten 15 Lebensjahren irgendwo liegen lassen habe. Sie schließt dann immer mit dem Satz: »Wäre ein schöner Urlaub geworden - oder ein Kleinwagen.« Aber, aber, dieser Text bekommt jetzt eine unerwartete Wendung. Denn seit etwa drei Jahren verliere ich nicht mal mehr halb so viel wie früher. Schlüssel, Geldbeutel, Handy? Gar nicht mehr. Und es scheint, als hätte es dafür nur einen einzigen, lächerlich simplen Trick gebraucht. Meine Umhängetasche nämlich. 

    Die Tasche ist eine Mischung aus Männerhandtasche und Bauchtasche. Ich bekam sie von zwei guten Freunden geschenkt, die gar nicht wussten, was sie mir da Gutes tun - sie fanden sie einfach schick und dachten an mich, weil ich Landkarten mag und die Tasche von der Marke »Topo Designs« ist, deren Logo eine stilisierte Landkarte enthält. In die Tasche passen genau diese Dinge, wegen derer ich früher mehrmals pro Tag den nervigsten Tanz der Welt aufgeführt habe: Griff an die Hosentasche hinten, wo ist das Handy? Griff an die Hosentasche vorn! Brusttasche! Rucksack! Ahhhh, es liegt vor mir auf dem Tisch. Seit ich die Tasche habe, weiß ich immer, wo meine Sachen sind: in der Tasche.

    Nur letztes Jahr kam das Konzept einmal an seine Grenzen: Da ließ ich die ganze Tasche irgendwo in Tokio liegen. Ein Glück, dass ich eine Japanerin fand, die für mich auf japanisch Orte abtelefonierte, an denen ich gewesen war. In einem Soba-Nudel-Restaurant wussten sie gleich Bescheid: »Aaaah, die lustige Tasche mit der Landkarte drauf? Hängt hier an einem Stuhl!« Marius Buhl

    Folge 41: Die Glückskekszettel

    Gute Dinge sind auf dem Weg. Das sage nicht ich. Das sagt mein Glückskekszettel, also wird es wohl stimmen. Auch wenn es mir unangenehm ist, bin ich doch ein bisschen abergläubisch: Wenn ich einen Schornsteinfeger sehe, freue ich mich. Wenn ich eine Sternschnuppe in der Nacht erspähe, bin ich überzeugt, dass mein Wunsch in Erfüllung gehen wird. Und wenn ich einen Glückskeks bekomme, hat der kleine Spruchzettel, der sich im Inneren verbirgt, für mich eine Bedeutung.

    Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich mit 14 das erste Mal den Film Bride Wars gesehen habe und Anne Hathaway, im Film Emma Allan, einen Glückskeks öffnet und ein Verlobungsring statt eines Zettels herausfällt. Ich habe diese Szene geliebt. Ob darin der Ursprung meiner Glückskeks-Liebe liegt, weiß ich nicht, aber jedes Mal, wenn ich einen Glückskeks öffne, muss ich daran denken und bekomme ein wohliges Gefühl.

    Gehe ich in ein chinesisches Restaurant zum Essen, freue ich mich am meisten auf die Rechnung. Nicht, weil ich mich so sehr freue, Geld auszugeben. Sondern, weil der Rechnung meistens ein Glückskeks beiliegt. Die besten Restaurants sind für mich die, die am Ausgang eine Schüssel mit Glückskeksen stehen haben. Erstens, weil man den Glückskeks selbst ziehen darf. Zweitens, weil man sich noch einen nehmen kann, falls einem der Spruch mal nicht gefällt. Streng abergläubische Leute würden das wohl nicht tun.

    Die schönsten Zettel sammle ich gemeinsam mit Polaroid-Fotos und Kino-Tickets in meiner Handyhülle. Ich glaube, dass sie mir Glück bringen. Wenn meine Handyhülle schon unförmige Wölbungen annimmt, mache ich Platz für neue und verstaue die alten gemeinsam mit den Zetteln, die es nie in die Handyhülle geschafft haben, in einer meiner Schreibtischschubladen. Ich verstaue sie dort nicht in dem Glauben, sie jemals wieder anzuschauen, allerdings fühlt sich wegwerfen falsch an. Ich kann doch nicht einen Zettel mit: »Ihre verborgenen Talente werden sichtbar werden« in den Müll werfen. Was, wenn sie dann nicht sichtbar werden? Lieber nicht riskieren.

    Mein Lieblings-Glückskeks-Moment war übrigens, als ich beim Abendessen vor unserer WG-Hausparty den Zettel mit den Worten: »Betrinken, aber in Maßen« aus meinem Glückskeks fischte. Ein sehr weiser Glückskeks! Annelie Eckert

    Folge 40: Der Ring

    Der Winter kam und verwandelte Berlin von einer Stadt des Konsums in eine Stadt der Apotheken und Coronatest-Zelte. Kaffee gab es nur To-Go und Pizza geliefert. Meine Familie und die Menschen auf den Straßen fehlten mir. Was blieb, war die Langeweile und mein täglicher Lockdown-Spaziergang zu meinem Lieblingsort des »täglichen Bedarfs«, der Drogerie. Das klingt im Nachhinein trauriger, als es sich in dem Moment angefühlt hat. Jedenfalls stand ich dort eines Tages vor einem dieser Modeschmuck-Drehständer. Bis heute weiß ich nicht warum, aber ein silberner Ring mit glitzernden Steinen fiel mir dabei besonders auf. Ich beschloss, den Ring zu kaufen. Selbstwertgefühl für 7,90 €, zum Mitnehmen und mit Karte bitte.

    Die Qualität des Rings spielte für meine Kaufentscheidung keine Rolle, sondern die Tatsache, dass ihn mir niemand anderes schenken würde. Warum also auf das Schöne warten, wenn es direkt vor einem hängt? Außerdem: Er glitzerte so toll. Und er blieb.

    In den folgenden Jahren fand der Ring seinen Weg in und aus Umzugskisten, lag in Schmuckkästen und auf Nachttischen. Am häufigsten und liebsten steckt er aber an meinem Ringfinger, (wo auch sonst) an der linken Hand. Aus dem Symbol einer jugendlichen, naiven Selbstaufwertung wurde ein alltägliches und mein liebstes Accessoire.

    Manchmal fällt er mir gar nicht auf, oft finde ich sein Funkeln schön und selten erinnert mich der Ring daran, dass Gutes so einfach sein kann und Schönes manchmal billig ist. Und daran, dass jetzt alles anders ist. Berlin ist nicht mehr mein Zuhause, denn dort, wo ich jetzt wohne, scheint meistens die Sonne. Spazieren gehe ich nur noch, wenn ich meine Eltern besuche. Die Langeweile ist dem Alltag aus Stress und Freunden gewichen. Es gibt wieder Pizza im Restaurant, mehr zu tun und Menschen auf den Straßen. Und den Ring. Den habe und trage ich immer noch und das wird auch so bleiben. Hannah Ludmann

    Folge 39: Die Farbe Grau

    Grau, grau, grau sind alle meine Kleider! Grau, grau, grau ist alles, was ich hab!

    Besser könnte ich meine Besitztümer kaum beschreiben: Meine Seite der geteilten Kleiderstange im Schlafzimmer ist eine monochrome Sammlung grauer und schwarzer Kleidungsstücke. Selbst die wenigen weißen Oberteile, die ich besitze, fühlen sich bunt an. Und weil mein Grau-Faible in meinem Freundeskreis längst bekannt ist, habe ich inzwischen auch graues Camping-Besteck, graue Tassen und eine heißgeliebte graue Salzsteinlampe.

    Ich bin schon ewig der Meinung, dass Grau ein unterschätztes Farbspektrum ist. Vielleicht aufgrund meiner Kindheitssommer am Wattenmeer, vielleicht aufgrund meiner Liebe zum grauen Himmel über Hamburg – wer weiß. Die vermeintlich langweilige Farbe hat so viele Facetten, dass ich kaum andere brauche.

    Lange habe ich gedacht, ich bräuchte mehr Farbe im Alltag, und habe immer mal wieder versucht, buntere Kleidung zu tragen. So richtig wohl habe ich mich darin aber nie gefühlt. Mit dem Erwachsenwerden habe ich beschlossen, es sein zu lassen und mein graues Dasein zu zelebrieren. Ein Vorteil: In Läden oder auf Flohmärkten muss ich nicht alles durchstöbern, sondern greife gezielt zu den unbunten Teilen. So kann ich mir die oft erschlagende Menge an Kleidungsstücken direkt etwas reduzieren. Ganz so leicht kombinierbar, wie es scheint, ist meine Garderobe aber nicht: Grau ist für mich nicht gleich Grau – die Socken in warmem Steingrau passen auf keinen Fall automatisch zum hellgrauen Pullover! Dafür harmonieren alle anderen Farbtöne wunderbar mit Grau. Falls ich also doch mal Lust auf Farbtupfer bekomme, funktionieren Taschen oder Nagellack dafür hervorragend – und sind schnell wieder abgelegt oder entfernt, wenn es mir zu bunt wird.

    Ironischerweise ist es als Grafikerin meine Aufgabe, mit einer Vielzahl von Farben zu hantieren. Wobei ich glaube, dass mir die neutrale Farbpalette an mir und in meiner Wohnung den Kopf freihält, um beim Arbeiten Farben auswählen und kombinieren zu können – auch die Benutzeroberfläche der Programme, die ich viel nutze, ist auf ein Hellgrau eingestellt und mein Desktophintergrund (Überraschung!) eine graue Farbfläche. Ich habe mich aber auch schon »professionell« für Grau eingesetzt: Für einen Kurs in Gestaltungslehre entwickelte ich vor ein paar Jahren ein Memory, dass die Vielzahl an Grautönen im Alltag und in der Sprache illustriert.

    Ich bin mir sicher, dass mich viele meiner grauen Dinge noch sehr lang begleiten werden. Und selbst wenn das ein oder andere kaputtgeht oder ausgemistet wird – meine Liebe zur Farbe Grau bleibt ganz bestimmt. Lea Sophie Fetköter

    Folge 38: Der Textmarker

    Ich liebe Listen. Einkaufslisten, To-Do-Listen, Listen mit den Geburtstagen meiner Freunde oder die »Das muss ich noch aussortieren«-Liste: also Altglas, Klamotten, die Kommode im Wohnzimmer. Seit ich schreiben kann, schreibe ich Listen und habe eine Schwäche für schöne Schreibwaren. In der Grundschule zum Beispiel schrieb ich jeden Aufsatz mit einem anderen Füller und probierte eine neue Schrift aus. Mal ganz nach links gelehnt in großen breiten Buchstaben, mal ganz gerade und wie gedruckt, mal nach rechts lehnend und geschwungen.

    Über die Jahre hinweg habe ich viele Stifte ausprobiert. Die teuren, die schwer in der Hand liegen, deren Gehäuse Gold oder Silber glänzt und die dieses befriedigende Geräusch machen, wenn man den Deckel aufsteckt. Klack! Es gibt aber auch die Stifte, die ich auf Events geschenkt bekommen habe oder in Hotels mitgehen ließ. Mit hässlichen Logos und klapprigen Heftklammern. Und ich muss zugeben: mit genau diesen schreibe ich am liebsten meine Listen.

    Doch da ist auch dieser eine Stift, ein Marker, um genau zu sein, ohne den mein Leben sicher ein anderes, weniger gut sortiertes geworden wäre. Der Stabilo Boss Original Textmarker. Ganz egal ob in meiner Handtasche, auf dem Nachttisch oder in der Schreibtischschublade, man findet immer mindestens zwei davon. Aber nicht die grellen, schreienden Farben, sondern meistens eine ganz bestimmte: Nummer 126, creamy peach. Wenn ich etwas von meiner täglichen To-Do-Liste erledigt habe, dann krakele ich nicht mit dem Kugelschreiber darüber oder setze einen Haken dahinter, sondern male mit dem pfirsichfarbenen Textmarker darüber. Am Ende des Tages ist meine Liste dann kein Kritzelbild, sondern ein Wust aus warmen Tönen, so als hätte ein Kindergartenkind einen Sonnenuntergang gemalt.

    So gut wie kein Buch habe ich ohne diesen Stift gelesen. Immer wenn ich einen Satz besonders schön finde, markiere ich ihn. Es gab schon Urlaube, in denen ich verzweifelt durch Schreibwarenläden gerannt bin, weil ich meinen Pfirsich-Stabilo vergessen habe; oder gar nicht erst anfing zu lesen, weil ich warten wollte, bis ich wieder mit meinem geliebten Stift schöne Sätze anstreichen kann.

    »Alles ist Inspiration, alles ist Erinnerung«, schreibt die Filmregisseurin Doris Dörrie in Leben, schreiben, atmen.

    Wie gut, dass es den Textmarker gibt, sonst hätte ich diese Stelle wohl so schnell nicht wieder gefunden. Hannah Mara Schmitt

    Folge 37: Die Karten

    Die unterste Schublade meiner weißen Malm-Kommode öffne ich nur in besonderen Momenten: immer dann, wenn ich ein Jahr älter geworden bin, nach Bestehen einer Matheprüfung oder auch, wenn meine Freunde im Urlaub sind. Darin verstaue ich seit ich in der Grundschule war alle meine Geburtstags-, Glückwunsch- und Postkarten.

    Vor vier Jahren bin ich mit all meinen Karten im Gepäck ausgezogen; nun brauche ich mit dem Zug ungefähr fünf Stunden nachhause. Meine Familie und Kindheitsfreunde wohnen alle in Österreich. Wenn ich einen Hauch von Heimweh spüre, tröste ich mich mit den Karten. Lese ich auf einer zum Beispiel, dass meine Freundin in Italien war und es ihr blendend ging, sie viel Pizza gegessen und sich gesonnt und im Gardasee gebadet hat, bin ich für einen kurzen Moment ganz bei ihr und freue mich für sie.

    Schon allein deswegen würde ich die Karten niemals wegschmeißen oder im hintersten Eck im Keller vergraben. Ich schätze die kleine Mühe, die in jeder Karte steckt. Das Aussuchen eines Covers, das Wählen eines Stiftes und auch das Finden der passenden Worte für jeden Anlass. Das alles bekomme ich von einer Whatsapp-Nachricht nicht.

    Meine liebste Geburtstagskarte habe ich an meinem zehnten Geburtstag von meinem Papa bekommen. Sie ist knallgrün, die Hälfte der Karte besteht aus einer glitzernden, silbernen zehn und auf dem Cover springen überall Affen herum. Wenn man die Karte öffnet, steht in schwarz gedruckt: »Ab jetzt darf ich 10 Stücke Kuchen essen, 10-mal mehr Süßigkeiten kaufen und bis 10 Uhr nachts wachbleiben.« Das hat mir damals sehr gut gefallen.

    Das Öffnen der Karten-Schublade vergleiche ich gerne mit einer Zeitreise in die Vergangenheit – bei der nur die Orte abgeklappert werden, an denen die Menschen in meinem Umfeld und ich glücklich waren. Melanie Grünauer

    Folge 36: Die Feuerschale

    Wer aufs Land zieht, braucht eine Feuerschale«, sagten unsere Freunde und überreichten uns eine zum Einzug. Dazu noch einen Sack mit Holzstücken und den Tipp, wo man im Umkreis am billigsten »ein Ster Holz« bekommt, eine mir bis dahin als Innenstadt-Münchner unbekannte Maßeinheit. Holz und Feuerschale trug ich erstmal in den Keller, weil die ersten Wochen auf dem Land ohnehin übervoll waren an neuen Eindrücken – zum Beispiel das Pendeln zur Arbeit (nervt) und die grasenden Pferde hinterm Haus (toll). Wenn Großstädter »raus ziehen«, dann wollen sie zwanghaft sofort diese Dorf-Idylle  – ein Trampolin im Garten, einen Weber-Grill und eben eine Feuerschale, für all die gemütlichen Sommernachmittage, von denen man im fünften Stock in München-Maxvorstadt immer geträumt hat, auf dem kleinen Balkon. Sieben Jahre später habe ich immer noch kein Trampolin (der Nachbar hat einfach eins auf die nahe Wiese gestellt, wo alle Kinder hüpfen können wie sie wollen), ich hab bis heute keinen Weber-Grill – aber ich liebe die Feuerschale. (Die ich auch als Grill benutze, einfach so ein Schwenk-Grill-Gestänge drüber, zack, fertig.)

    Die Feuerschale ist ohnehin multifunktional, sie eignet sich zum Stockbrot grillen (klappt bei uns nie) und Marshmallows grillen (klappt immer). Vor allem aber ist sie gut zum drumherum sitzen und reden. Ich habe jetzt keine wissenschaftliche Studie dazu angefertigt, aber ich bin mir sicher, dass Menschen an Lagerfeuern oder Feuerschalen auffallend selten ins Handy schauen parallel. Dieser Blick ins Feuer muss menschheitsgeschichtlich tief in uns verankert sein, er gibt einem ein Gefühl von Sicherheit und Ruhe. Wobei sich meine Begeisterung über die Feuerschale vor allem auf die Glut bezieht, nicht so sehr auf das frisch entzündete Feuer, dass einen vollqualmt bei schlechtem Windstand. Aber dann, wenn das Feuer oder Grillen sich dem Ende zuneigt und noch genug Kohle rot vor sich hinglimmt, dann schafft so eine Feuerschale eine Stimmung, die mich immer wieder kriegt. Auch im Winter, wenn der Rest der Familie nach zwanzig Minuten flieht vor der Kälte – ich sitze dann immer noch etwas alleine draußen, manchmal legt sich der Hund dazu, und schaue ins Rot. Man kann dabei auch davon träumen, abends mal wieder so viele gute Restaurants zur Auswahl zu haben wie damals in der Großstadt. Marc Baumann

    Folge 35: Der Kleiderschrank

    Rechts neben der Zimmertür steht er, mein Kleiderschrank, und wirkt dabei so mächtig wie kein anderer Gegenstand in meinem Zimmer. Auch wenn er für einen Schrank eher klein ist: 99 Zentimeter lang, 41 Zentimeter tief und 189 Zentimeter hoch. Alle, die ihn bisher gesehen haben, sahen mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und wollten wissen, ob wirklich meine ganze Kleidung da hineinpassen würde.

    Tatsächlich ist alles, was ich trage, in diesem Schrank: Auf einem Brett im obersten Teil stehen drei Körbe von Ikea. Darin sind Unterhosen, BHs und lose Socken, die ich so trage, wie ich sie greife, in weiß, schwarz oder bunt. In die Unterseite des Bretts sind vier runde Haken geschraubt, die zu zweit jeweils eine Holzstange tragen. Hier haben insgesamt 37 Kleiderbügeln Platz, auf denen Pullover, Strickjacken, monochrome und gestreifte T-Shirts, weite und enge Hosen hängen. Auf dem Boden des Schrankes lagern noch drei Kartons. Auf einem steht in Versalien geschrieben: »Dinge, die ich wegwerfen könnte, aber nicht kann«.

    Bevor der Kleiderschrank seinen Platz in meinem Zimmer fand, war er zwei Straßen weiter im Keller des Hauses meiner Großeltern gestanden. In einem der Kellerräume hatte mein Großvater an einem Schreibtisch gesessen. Als Vermieter und Malermeister hatte er Verträge und Rechnungen auf einer Schreibmaschine getippt. Mein Großvater war sehr konservativ gewesen und auch so herumgelaufen – selbst zu Hause in Anzug mit Hemd und Krawatte. Zu seiner rechten war der Schrank gestanden, in dem er passende Mäntel und Hüte aufbewahrt hatte.

    Als das Haus meiner Großeltern verkauft wurde, sollte der Schrank nicht in diesem Kellerzimmer zurückbleiben. Köpfe von Schrauben oder Nägeln waren nicht zu sehen. Er war wie aus einem Stück Holz gebaut – massiv und nicht in seine Einzelteile zu zerlegen. Da er bis auf wenige Zentimeter direkt unter der Decke stand, konnte er nicht gekippt und im Ganzen herausgetragen werden. Bis heute ist es mir ein Rätsel: Wie kam der Schrank in das Haus? Oder wurde das Haus um den Schrank gebaut?

    Mit einer Stichsäge wurde er in zwei Teile zersägt, aber selbst die Einzelteile waren zu groß, um sie die Kellertreppe heraufzubekommen. So wurden sie durch die Waschküche in den Garten getragen, über den Balkon im Erdgeschoss gehievt und durch die Küche der Wohnung in den Flur bis auf die Straße zum Kofferraum eines Kombis geschleppt. In der Garage verbrachte ich viel Zeit damit, die Schichten aus Ölfarben abzukratzen und das Holz zu schleifen. Damals war der Kleiderschrank türkis – heute ist er seidenmatt weiß. Von innen sieht die Tür fast schöner aus als von außen. Wie Reliefs heben sich die Holzumrandungen hervor. Zwei Scharniere, dünner als mein kleiner Finger, gleichen Türmen eines Minaretts. Die Schranktür öffne und schließe ich mit einem Schlüssel aus Metall, der schwer in der Hand liegt. Er riecht, so wie Blut schmeckt – nach Eisen. Anne-Kathrin Oestmann

    Folge 34: Die Kaffeemühle

    Auf einem Regalbrett in der Küche meiner Oma standen zwei Kaffeemühlen, die eine hellbraun mit silberner Kurbel, die andere dunkelbraun mit messingfarbener Kurbel. Die dunkelbraune war außerdem mit Blumen bemalt, deswegen fand ich sie als Kind schöner und beanspruchte sie für mich. Meiner kleinen Schwester überließ ich die langweiligere.

    Als wir klein waren, tranken meine Schwester und ich natürlich noch keinen Kaffee, aber wir saßen trotzdem stundenlang an Omas Küchentisch und mahlten welchen. Besonders viel Spaß machte das, wenn unsere Oma uns eine Handvoll ganze Bohnen gab, aber das musste nicht sein. Wir mahlten selbst Kaffeepulver, zehn, zwanzig, dreißig Runden hintereinander, und redeten uns ein, dass er dadurch besonders fein und gut würde. Meine Oma hatte da längst einen Vollautomaten, die beiden Kaffeemühlen waren für sie nur noch Deko.

    Früher aber, sagt meine Tante, habe sich meine Oma jeden Morgen eine Kaffeemühle zwischen die Knie geklemmt und damit ihren Kaffee gemahlen. Sparsam sei sie gewesen; fast hätte sie die Bohnen abgezählt. Meine Mutter ist zehn Jahre jünger als meine Tante; sie erinnert sich schon an eine elektrische Mühle.

    Als meine Oma vor anderthalb Jahren in ein Pflegeheim zog, nahmen meine Schwester und ich die beiden alten Kaffeemühlen mit. Sie die hellbraune, ich die dunkelbraune. Seitdem mahlen meine Mitbewohnerin, meine Mitbewohner und ich damit unseren Kaffee, die Mühle zwischen unseren Beinen, wie meine Oma vor Jahrzehnten. Meistens bin ich als erste wach, manchmal knirscht mich aber auch die Kaffeemühle aus dem Schlaf, verheißungsvoller als mein Wecker.

    Meine Oma ist vergangenen Winter gestorben. Bei manchen der Dinge, die sie mir hinterlassen hat, fühlte es sich plötzlich falsch an, dass sie in meiner Wohnung waren: »Wenn ich mal nicht mehr bin, sollst du… haben« war doch immer nur Gerede gewesen, die Bedingung im ersten Halbsatz unerfüllbar. Dass sie trotzdem Wirklichkeit geworden war, daran erinnerten mich ihr Poesiealbum oder der Pulli, den sie so häufig getragen hatte. Mit der Kaffeemühle war es irgendwie anders, und ich glaube, nicht nur, weil ich sie schon kurz vor dem Tod meiner Oma bekam. Dadurch, dass sie Teil meines Alltags ist, wie sie Teil des Alltags meiner Oma war, ist mir meine Oma jeden Tag für ein paar Augenblicke auf ganz unaufgeregte, manchmal fast unmerkliche Weise nah. Agnes Striegan

    Folge 33: Das Reisebesteck

    Ich schreibe diesen Text aus einem Zug und möchte deshalb direkt zu Anfang eines versprechen: Witze über die Deutsche Bahn wird es keine geben, die haben wir alle mittlerweile mindestens einmal zu oft gehört (den mit dem denglischen Danke etwa). Dafür möchte ich etwas anderes versprechen: Ich werde mit dieser kleinen Aneinanderreihung von Wörtern jede zukünftige Bahnfahrt Ihres Lebens besser machen. Das ist hoch gepokert, ich weiß, aber ich glaube das wirklich.

    Ich fahre sehr viel Zug. In Hamburg lebe ich, die Süddeutsche Zeitung sitzt dort logischerweise nicht. Also fahre ich regelmäßig nach München. Oft auch nach Baden-Württemberg zu meiner Familie, hin und wieder zu engsten Freundinnen und Freunden nach Osnabrück oder Berlin und dann gibt es noch diese Reisen, bei denen wir Journalistinnen sagen: »Ich fahre auf Recherche«. Da geht es dann nach Stegaurach, wo ich mir eine Fabrik für veganes Hack anschaue, oder ich treffe jemanden in Köln. Zum Glück fahre ich sehr gerne Zug. Die ICE-Sitze sind bequem, ein paar Stunden lassen mich alle in Ruhe (»Der Empfang ist leider so schlecht«), ich kann lesen, schreiben und wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich manchmal sogar Rehe (wirklich!).

    Einzig eine Sache hat mich lange gestört: meine Verpflegung. Wenn ich lange nicht gefahren bin, freute ich mich bei der ersten Fahrt noch über ein Franzbrötchen und ein Bäckerbaguette und eine Butterbrezel. Beim zweiten und dritten und vierten Mal tat es schon weh, für ein Baguette, dass ich selbst besser hätte belegen können, 5,90 Euro zu zahlen und spätestens beim fünften Mal lief als Alarmsignal durch meinen Kopf: »Nie wieder Teig.«

    Als ich vor zwei Jahren in Zürich auf Recherche war, initiierte mein Kopf mal wieder einen Teigstreik (Hamburg-Zürich, 8:32 Stunden laut Fahrplan, viel Zeit für viel Gebackenes) und meldete: »Gib deinem Magen Joghurt.« Ich ging zu Coop und merkte zum Glück noch vor der Kasse, dass ich nichts hatte, mit dem ich meinen Joghurt essen könnte. Auf der Suche nach Plastiklöffeln (eh blöd) sah ich ein Reisebesteckset im Angebot: ein Löffel, eine Gabel, ein Messer, so richtig aus Metall aber ziemlich flach, aufeinandergestapelt verpackt in einer löffelförmigen Plastikhartschale. Ich griff zu und bin seither nie wieder ohne gereist.

    Zugfahren finde ich jetzt noch besser, meine Essensoptionen sind seither unendlich, auch wenn ich es mal wieder nicht geschafft habe, mir zuhause etwas vorzubereiten. Mein Zug heute ist übrigens erstmal ausgefallen (auch wirklich!), aber was soll's. Ich habe Bulgursalat und Gurke und körnigen Frischkäse zum Mittag und einen Griespudding für den Nachmittag. Susan Djahangard

    Folge 32: Dante Alighieris Inferno

    In der Zeit von E-Papers und digitalen Readern wirkt es antiquiert, ein Buch um die halbe Welt mit sich zu schleppen. Jedenfalls für einen Millennial. Trotzdem begleitet mich Dante Alighieris Inferno seit zehn Jahren. Von Neuseeland nach Amerika, in die Niederlande und zurück nach Deutschland. Zerknittert, voller Eselsohren und unglamourös steht es mittlerweile in meinem Regal. Erschöpft von den Reisen. Es ist das erste Buch der Göttlichen Komödie. Ein episches Gedicht über den Abstieg in die Hölle und den Aufstieg durch das Fegefeuer in das Paradies auf der Suche nach ewiger Liebe.

    Gefunden habe ich das Buch auf Englisch in einem süßen kleinen Antiquariat auf der Südinsel Neuseelands, inklusive Gespräch mit dem Inhaber, wie toll es sei. Ich gehöre zur »Generation Neuseeland« und war nach dem Abitur und einem Freiwilligen Sozialen Jahr natürlich für Work and Travel in Ozeanien. Irgendwann war ich müde vom Reisen und hatte Sehnsucht nach kognitiver Stimulation. Das Buch hat mich in seiner Komplexität begeistert, jedes Detail hat einen Zweck. Nur ein Beispiel: Die Göttliche Komödie besteht aus drei Büchern, geschrieben in Sätzen aus drei Versen – das symbolisiert die Heilige Dreifaltigkeit. Wäre die Version nicht kommentiert, ich hätte wohl nur Bahnhof verstanden bei Dantes geschichtlichen Anspielungen und religiösen Allegorien. Aber so habe ich einiges über religiöse Ethik gelernt. Wussten Sie, dass vorsätzliche Sünden besonders schwer wiegen? Am tiefsten Punkt der Hölle, eingeschlossen in ewiges Eis, quält Luzifer persönlich den Verrat in Person: Brutus und Judas. »Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren« ist am Eingang zu lesen. Die vorzeitige Entlassung bei guter Führung ist ausgeschlossen. Natürlich habe ich danach Literatur- und Kulturwissenschaften studiert – allerdings nur für zwei Semester. Es war zu viel gleichzeitig, aber ohne ein greifbares, konkretes Ziel. Trotzdem habe ich viel gelernt, es war eine erhellende Ernüchterung. Dann habe ich mich vollständig meinem Nebenfach Psychologie gewidmet, nur um schließlich doch in meinem Jugendtraum Journalismus zu enden.

    Wenn ich jetzt in mein Bücherregal schaue, dann sehe ich nicht nur Dante. Es kommt Nostalgie auf, Wehmut nach einer unbeschwerten Zeit und auch die Lust, weiterhin neue Erfahrungen zu machen. Ich erinnere mich an meine Reise und daran, welche Kettenreaktion dieses Buch ausgelöst hat. Wer weiß, wo ich ohne es jetzt wäre. Bjarne Overkott

    Folge 31: Chelsea Boots Gummistiefel

    Es gibt im Leben oft eine Differenz zwischen dem, wie man eigentlich gerne wäre, und dem, was man geworden ist. Ich wäre gerne laut und mutig. Jemand, der mit großen, angstbefreiten Schritten durchs Leben schreitet. Was ich in meinem Alltag aber stattdessen mache: kleine Schritte. Um Pfützen auszuweichen, matschiger Erde, matschigem Schnee, Hundekacke, Taubenkot. All der Hässlichkeit deutscher Innenstädte.

    Das liegt zum einen daran, dass ich manches davon eklig finde (zurecht). Aber es liegt auch daran, dass ich viel zu tief verinnerlicht habe, dass es wichtig ist, sich nicht schmutzig zu machen. Und keine nassen Füße zu bekommen, weil ich in eine Pfütze getreten bin und sich graubraunes Wasser durch die Nähte meiner Schuhe gedrückt hat.

    Zum Glück habe ich zwei Menschen kennengelernt, die zwar nicht schreiten, aber zumindest ohne jede Sorge durchs Leben rennen: meine Neffen. Als ich gesehen habe, wie sie auf Waldwegen durch Matsch waten, sich in schlammige Sandkästen stellen, im Zoo in Pfützen springen, dachte ich mir: Ich kann als 33-jährige Frau vielleicht keine Matschhosen tragen. Aber ich kann mir Gummistiefel kaufen.

    Wahrscheinlich erkennen die meisten Menschen nicht einmal, wenn ich sie trage. Die Schuhe, für die ich mich entschieden habe (von der spanischen Marke »Verbenas«), sehen aus wie normale Chelsea Boots. Es gibt eigentlich nur einen Unterschied, innerlich wie äußerlich: Wenn ich sie trage, schreite ich. Dorothea Wagner

    Folge 30: Kaufmanns Kindercreme

    Es gibt viele Dinge, die unangenehm und nervig sind: zwickende Unterhosen, rutschende Socken im Schuh, eingerissene Fingernägel. Für mich das unangenehmste sind aber trockene Lippen. Zum Glück sollte noch weit vor meiner Geburt ein Mann eine Mischung aus Vaseline, gereinigter Schafswolle und Zink entwickeln, die mein Leben erleichtert. Nicht nur die Rezeptur, sondern auch das Design der runden Blechdose hat sich seit 1950 nicht verändert: türkis, mit einer Illustration eines Babys und der knallgelben Aufschrift »Kaufmanns Haut und Kindercreme«. Auf der Innenseite steht: »Was dem Kinde dient, nutzt auch dem Erwachsenen.« Und genau so ist es.

    Streng genommen hat nicht Walter Kaufmann allein mein Leben verbessert, auch meine beste Freundin hat ihren Teil beigetragen, als sie besagte Dose vor etwa zehn Jahren aus ihrer Tasche zückte. Inzwischen ist die Kaufmanns-Creme in meinem gesamten Freundeskreis bekannt, denn in jeder meiner Handtaschen ist mindestens eine Dose. Es gab nur ein Problem: Meine Handtaschen sehen so aus, wie es auch in meinem Kopf oft aussieht – voll und durcheinander. Meine geliebten Dosen verbeulten daher schnell und weil der Deckel nicht wirklich gut einrastet, litt auch der Inhalt an meinem Handtaschen-Chaos. Als ich vor ein paar Jahren dann die Wundertube (ja, sie heißt wirklich so!) mit Schraubverschluss von Kaufmanns entdeckte, mochte ich das Produkt nochmal mehr.

    2020 zog ich für das Studium nach Wien und musste feststellen, dass Walter Kaufmanns Produkte es noch nicht bis nach Österreich geschafft haben. Jeder Besuch bei meinen Eltern bedeutete nun also einen Großeinkauf bei dm. Schnell importierte ich nicht mehr nur für mich, sondern auch für meine Mitbewohnerin, die ich mit meiner Liebe zur Creme angesteckt hatte.

    Dass die Kaufmanns Creme meiner Meinung nach das beste Pflegeprodukt aller Zeiten ist, entspricht allerdings nicht dem Ergebnis des Ökotests 2023. Von allen Wundschutzcremes für Babys sind nur drei Cremes mit mangelhaft bewertet worden, darunter auch meine Wundertube. Aber das verdränge ich, bis ich eine vergleichbare Creme gefunden habe. Annelie Eckert

    Folge 29: Dobble-Kartenspiel

    »Früher wurde mehr gespielt, heute schaut man lieber faul auf dem Sofa eine Serie auf Netflix.« Versuchen Sie mal diesen Satz zu sagen, ohne entweder wie Thomas Gottschalk zu klingen oder wie ein beleidigter Erdkundelehrer auf Klassenfahrt. Aber es stimmt halt: Ein Abend mit Karten- oder Brettspielen bleibt länger im Gedächtnis und verbindet mehr als die neue »True Detective«-Staffel, so gut Jodie Foster auch ist. Aber was spielen? Ich etwa liebe seit der Schulzeit »Risiko« sehr, meine Frau dagegen nur »Cluedo«, das Kind will immer »Mister X« spielen, die Oma schlägt gerne eine Partie Mühle vor und die Katze schläft am liebsten im »Sagaland«-Karton. Was aber alle mögen, mit denen ich es je gespielt habe: Dobble, auch bekannt als »Spot it!«. (Gut, bis auf die Katze, die unmöglich in die kleine runde Metallschachtel passt.)

    Dobble hat mir als Zeitvertreib auf einer langen Zugfahrt Richtung Neapel geholfen, als kurzer Post-Raclette-Wachmacher an Silvester und als Eisbrecher bei einem emotional schwierigen Krankenhausbesuch. Dobble kriegt irgendwie alle. Das Spiel ist denkbar einfach, der Hersteller erklärt es so: »Dobble besteht aus 30 Karten. Jede von ihnen zeigt acht Symbole im Comic-Stil (etwa einen Clown, eine Spinne, ein Kaktus). Egal, welche beiden Karten man miteinander vergleicht, es stimmt immer genau ein Symbol überein. Wer findet es zuerst?« Der Clou daran: Es ist gar nicht so leicht, schnell zu überblicken, welche der jeweils acht Symbole doppelt sind. Mitunter könnte man schwören, dass man auf seiner Karte kein einziges gleiches Symbol hat wie auf der aufgedeckten Karte vom Stapel, so lange sucht man danach. Aber stimmt halt nicht, es gibt immer ein Bild-Pärchen.

    Das simple Spielprinzip und der Zeitdruck beim verzweifelten Suchen nach dem übereinstimmenden Motiven macht Dobble so angenehm kurzweilig. Man kann es auch nur schnell eine Runde lang spielen, was vielleicht 15 Minuten dauert, oder den halben Abend. Kinder mögen es, Erwachsene und Senioren ebenso. Und das Kartenspiel kann man notfalls auch in Bahn oder Flugzeug auf diesen Din-A4-kleinen Aufklapptischchen spielen. Super praktisch zudem: Wenn mal eine Karte verloren geht, oder auch zwei, ist nicht gleich das ganze Spiel ruiniert. Dobble ist das Schweizer Taschenmesser der Spielekiste. Marc Baumann

    Folge 28: Das Waffeleisen

    Mein Waffeleisen hat keinen Sandwich-Einsatz, keine Grillfunktion und keinen Computerchip. Es ist nicht smart, nicht selbstreinigend und nicht mit dem Internet verbunden. Es kann eigentlich nichts außer heiß werden. Und trotzdem, oder vielleicht sogar genau deshalb ist es – gerade in stressigen Zeiten – das meistgenutzte Gerät in unserer Küche. Nichts geht so schnell wie Waffeln. Nichts schmeckt den Kindern so zuverlässig gut, von einer frischen Butterbreze vielleicht mal abgesehen. Waffeln sind praktisch: Man kann sie auf den Spielplatz mitnehmen, am nächsten Tag als Bahnproviant verwenden, sogar einfrieren und eine ganze Woche lang jeden Tag nur eine essen. Und, ich muss es zugeben, nirgendwo kann man geschickter ein paar gesunde Zutaten verstecken als in Waffeln.

    In die fantastisch einfachen Bananenwaffeln (Rezept: vier Eier, sechs Esslöffel Mehl, zwei weiche Bananen, fertig) mogle ich ein bisschen Tahin oder gemahlene Kürbiskerne. In die Spinat-Feta-Waffeln kann man wunderbar unbemerkt pürierte Erbsen schmuggeln. Waffeln sind momentan auch die einzige Darreichungsform, in der mein vierjähriger Sohn Brokkoli akzeptiert. Es gibt fast nichts, was man nicht zu Waffeln backen kann. Das Prinzip ist einfach: Man nehme Eier und Mehl als Grundzutat. Danach sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Je schwerer die Gemüse-Zutat (absteigend: Kartoffeln, Karotten, Zucchini), desto eher braucht man ein bisschen Backpulver, damit’s fluffig wird.

    Es kommt vielleicht der Tag, an dem ich mit einem Thermomix abgefahrene Kreationen ausprobiere. Bestimmt schaffe ich auch bald wieder ein paar der höllisch komplizierten Ottolenghi-Rezepte, die ich so gerne gemacht habe, bevor ich angefangen habe, für Kinder zu kochen. Bis es so weit ist, bleibt mein Krups-FDK-251-Waffeleisen auf der Küchentheke stehen. Es hat bis heute nicht mal einen Platz im Schrank, wozu auch? Wolfgang Luef

    Folge 27: Die Filzsohlen

    Im deutschen Winter kann man sich noch so schöne Ablenkungen ausdenken, ins Lieblingsrestaurant gehen, das Gesicht in die Sonne halten oder sich völlig kopflos verlieben, aber es hilft alles nicht. Die kalten Füße kommen immer mit. Und kalte Füße sind der Endgegner einer schlecht durchbluteten Spezies – einmal abgekühlt, werden sie von alleine nicht mehr warm.

    Ich habe viele Mittel gegen kalte Füße ausprobiert, gefütterte Stiefel, Sockenschichten wie Druckverbände, Plateausohlen, aber nur ein einziges erwies sich als hilfreich: auf meine Mutter hören. Vor langer Zeit hatte sie mir ein flaches Paket unter den Christbaum gelegt. Als ich es öffnete, sahen mich ein Paar olle Filzeinlagen an. »Wow, was Praktisches, genau das habe ich mir erträumt«, sagte ich, so unwissend und unverschämt wie jeder Teenager. Unter kalten Füßen litt ich damals schon, aber das hieß noch lange nicht, dass ich bereit war, den Rat meiner Eltern anzunehmen. Meine Mutter war auf diese Reaktion vorbereitet. Sie zückte eine DIN-A4-Seite aus dem Familiendrucker und begann, Produktinformationen vorzutragen. Als versierte Filzsohlen-Vertreterin hatte sie die Highlights bereits mit Textmarker hervorgehoben: 100 Prozent Schurwolle. Isolierend gegen Kälte. Langlebig. Und ach, ganz wichtig, schon in der Antike wussten die Menschen die Technik des Filzens zu schätzen. »O-kay Ma-ma«, sagte ich genervt und packte das nächste Geschenk aus.

    Einige Jahre später, als ich endlich reif genug für Praktisches war, fand ich die Sohlen in einer Schublade wieder. Es stellte sich heraus, dass meine Mutter und ich beide recht hatten: Die Filzeinlagen waren – ganz unironisch – genau das, was ich mir erträumt hatte. Sie halten warm, selbst bei Minusgraden. Inzwischen liegen sie deshalb sogar bei DM im Regal, allerdings empfehle ich die Öko-Version vom Weihnachtsmarkt oder Fachgeschäft. Mein Paar trage ich schon fünf Winter. Und wenn ich ins Lieblingsrestaurant gehe, mich in die Sonne stelle oder kopflos verliebe, verschwende ich an meine Füße kaum einen Gedanken. Daniela Gassmann

    Folge 26: Die Glücksunterhose

    Mein wichtigstes Kleidungsstück ist so unersetzlich, dass ich mal einen Zug deswegen verpasst habe. Ich saß schon im Bus zum Bahnhof, als ich feststellte, dass ich meine Glücksunterhose nicht anhatte. Weil ich auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch in der Schweiz war und das auf gar keinen Fall verbocken durfte, stieg ich an der nächsten Haltestelle aus, sprintete zurück nach Hause, stopfte dieses scheinbar unbedeutend kleine Stück Stoff in meine Manteltasche und sprintete zum nächsten Bus. Half nichts, der Zug rollte aus dem Bahnhof, als ich das Gleis erreichte. Bezeichnenderweise war mir das lieber, als die Reise ohne Glücksunterhose anzutreten.

    Ich habe sie von meiner Mutter bekommen, als ich 17 war, gar nicht geschenkt, sondern geliehen. Ich brauchte damals spontan eine Unterhose, die unter einem enganliegenden Sportanzug möglichst unsichtbar war – und meine Mutter mit ihrer Profi-Garderobe hatte ein solches Exemplar als Bestandteil eines schicken Abendoutfits im Schrank. Ich dachte mir nicht viel dabei, als ich die Unterhose für den anstehenden Wettkampf, immerhin aber eine Weltmeisterschaft, zum ersten Mal unter mein Voltigier-Trikot zog; man denkt grundsätzlich ja eher selten an die Unterhose, außer sie kneift, und das tut meine Glücksunterhose wirklich nicht. Im Gegenteil: Ich merke sie gar nicht, weil sie so unauffällig ist. Und trotzdem steckt in ihr eine Superkraft. Denn ich habe nicht nur besagten Sportwettkampf mit ihr gewonnen, sondern danach auch einige weitere. Aus einer geliehenen Unterhose meiner Mutter wurde so meine Glücksunterhose, mit der ich untenrum unter anderem noch folgendes schaffte:

    - einen Führerschein
    - ein Abi
    - die unter Erstsemestern gefürchtete Gattungspoetik-Klausur,
    - einen Halbmarathon
    - eine Hochzeit
    - zwei Geburten (zumindest zeitweise)
    - oben erwähntes Vorstellungsgespräch (zu dem ich auch mit dem nächsten Zug noch pünktlich kam, Unterhose sei Dank)

    Der Hersteller lässt sich längst nicht mehr entziffern – ich meine, es ist Triumph –, ihre ursprüngliche Farbe, eine Mischung aus Rosé und Champagner, nur noch erahnen unter dem verwaschenen Mausgrau, und im hinteren Bereich ist der Stoff schon etwas durchsichtig. Aber würde ich auf einen Himalaya-Gipfel steigen, eine Rede auf der Hochzeit einer Freundin halten oder einem meiner Kinder bei einem Klaviervorspiel die Daumen drücken – ich hätte noch immer die Glücksunterhose an (oder sie wenigstens im Gepäck).

    Ich vermute, das macht mich zu einer abergläubigen Person, aber am Ende ist es egal, was zuerst da war: das Unterhosenglück an sich oder der Glaube daran, die Herausforderungen des Lebens mithilfe dieses Glücks besser bewältigen zu können. Die Unterhose macht mich furchtloser, und mit jeder gelungenen Aktion, bei der sie mich begleitet, wird ihre Superkraft stärker. Ich habe noch keinen Plan, was ich mache, wenn die Unterhose auseinanderfällt; vielleicht einen Fetzen von ihr einlaminieren und in mein Portemonnaie stecken wie diese Fotoautomatenbilder, die man früher von sich und seinen Freunden mit sich herumtrug. Wenn ich es mir genau überlege, ist meine Glücksunterhose eh vor allem das: eine sehr gute Freundin, und das schon länger als mein halbes Leben. Meine Mutter erkundigt sich übrigens ab und an danach, ob es die Unterhose noch gibt. Als ob sie sie jemals zurückbekäme! Sara Peschke

    Folge 25: Der schwarze Kalender

    Auf der Holzkommode in meinem Zimmer staubt mein Leben voll. Es liegt dort in Form von zwölf schwarzen Kalendern, aufgetürmt zwischen Aloe-Vera-Pflanze und Duftkerze. Ich verwende die Kalender seit der Schulzeit, jedes Jahr kaufe ich das gleiche Modell. Weicher Einband, 19 Zentimeter breit, 25 lang, eine Doppelseite pro Woche, links Tage, rechts Notizen. Jedes Jahr reiße ich die Plastikhülle ab, blättere zur ersten Januarwoche, und lege los.

    Ich bin eine notorische Notiererin. Auf den elfenbeinweißen Seiten habe ich letzte Uni-Kurse festgehalten und erste Begegnungen, die Beerdigung meines Großvaters und meinen Umzug ans andere Ende des Landes. To-Do-Listen. Gesprächsfetzen. Songzitate. Ausnahmslos alle Gedanken, die sich in meinem Kopf tummeln, müssen sich über die Seiten ergießen. Dort stehen sie dann wild durcheinander und doch irgendwie geordnet. Die Kalender kennen mich wahrscheinlich besser als meine besten Freunde.

    Die reißen regelmäßig die Augenbrauen hoch, wenn ich mein schwarzes Büchlein aus der Tasche ziehe. Sie sind längst auf die digitale Version umgestiegen. Aber ich will Termine nicht synchronisieren oder Push-Benachrichtigungen aktivieren. In meinen analogen Kalendern zählt schließlich nicht nur, was drinsteht. Fast noch wichtiger ist, wie es dort steht. Ich bilde mir ein, noch heute an meiner Handschrift erkennen zu können, wie ich mich beim Aufschreiben gefühlt habe. Schlingen sich die Buchstaben wild ineinander? Ich war gestresst. Sammeln sich um die Worte Kritzeleien? Abgelenkt. Sind die Kugelschreiberstriche kaum durchgedrückt? Verträumt.

    Ich finde, ich habe nicht nur zwölf Kalender, sondern auch zwölf Tagebücher, Erinnerungsalben, Notizhefte. Blättere ich sie durch, transportieren mich meine Einträge zurück in das Jahr und den Moment. Und ja, ich entstaube den Turm auf meiner Kommode auch. Bei Gelegenheit. Trisha Balster

    Folge 24: Das Beutelchen

    Es ist klein und inzwischen etwas abgewetzt, aber es hat mich schon oft gerettet. Ein Beutelchen, vielleicht zehn mal fünfzehn Zentimeter groß, mit einem Muster aus roten Elefanten. Darin bewahre ich all die Dinge auf, die sonst immer in der falschen Handtasche sind oder im Rucksack unauffindbar: Labello, Pflaster, Kabelkopfhörer, Desinfektionsgel, Minzbonbons, Haargummis, Tabletten gegen Kopfweh und Menstruationsschmerzen. Mit meinem Beutelchen ist es ein Handgriff, und ich habe umgepackt. Ein Handgriff, und ich kann meine Locken bändigen. Ein Handgriff, und ich reiche meinem Freund eine Aspirin oder der Kollegin ein Blasenpflaster.

    Mein Beutelchen ist mittlerweile schon das zweite seiner Art. Das erste hatte mir die Mutter einer guten Freundin geschenkt, mit der ich ein Jahr im westafrikanischen Benin verbracht hatte. Sie hatte es aus einem der bunten Stoffe genäht, die wir dort getragen hatten, die aber jetzt, zurück im kalten Deutschland, die meiste Zeit in unseren Schränken lagen. Ich freute mich nicht nur, weil ich das Beutelchen so praktisch fand, sondern auch, weil ich damit mehrmals am Tag eine Erinnerung an unsere Zeit dort in den Händen hielt.

    Das zweite, elefantengemusterte Beutelchen hat mir meine Schwester genäht, als das erste nicht mehr zu flicken war. Jetzt denke ich an sie, wenn ich etwas daraus brauche. Oder jemand in meiner Nähe. Auch meine Mutter, meine Oma und meine Tante haben inzwischen selbstgenähte Beutelchen. Es mag ein bisschen pathetisch klingen, aber: für mich ist mein Beutelchen nicht nur praktisch. Es ist auch eine kleine, nette Verbindung zu anderen Menschen. Agnes Striegan

    Folge 23: Das Tuch aus Kenia

    Kürzlich war ich in Italien und hatte es nicht dabei. Ich habe es auch nicht gebraucht, doch gefehlt hat es mir trotzdem. Ich nehme es auf fast allen Reisen mit, in vorauseilendem Gehorsam sozusagen: Ich weiß nie, wofür ich das Tuch verwenden werde, wenn ich es in den Koffer, die Tasche, den Rucksack schmeiße, aber das ergibt sich fast immer von selbst.

    Das Tuch ist nichts Besonderes: weiß, rechteckig, mit zwei umlaufenden mittelblauen Streifen, es reicht vom Boden bis zu meinen Schultern, ist aus Baumwolle, durchs viele Waschen über die Jahre sehr dünn geworden, ein paar kleine Löcher haben sich im Stoff eingeschlichen, egal, es ist so weich. Mein Freund hat es mir vor bestimmt 30 Jahren aus Kenia mitgebracht. Er ist schon lange nicht mehr mein Freund – das Tuch schon.

    Bin ich auf Reisen und das Bettlaken oder der Kopfkissenbezug machen einen gräulichen Eindruck, lege ich das Tuch drüber. Ich decke mich mit ihm zu, wenn es in heißen Ländern nachts um halb vier kühler wird. Ich kann es zum Rock wickeln, als dickes Halstuch verwenden, um die Schulter werfen, wenn ich eine Kirche oder Moschee besuche. Am Strand ist es mein Laken und manchmal auch mein Handtuch und wenn mir die Sonne zu sehr auf den Kopf knallt, hole ich das Tuch raus.

    Was ich damit noch tun könnte, jedoch bisher nie getan habe: fünf Kilo Äpfel heimtragen, ein Baby auf meinen Rücken hieven, das umgeschlungene Tuch hielte es fest – und vermulich hundert Sachen mehr. Sollte jetzt jemand denken: Sicher will sie das auch mal als Leichentuch verwenden, würde ich antworten: Hab zwar noch nie dran gedacht, aber vielleicht gar keine schlechte Idee. Mein Mann beneidet mich seit einigen Jahren um mein Tuch. Seither haben er und ich sicher zehn Tücher gekauft, keines ist so weich wie meines. Vielleicht, weil es noch nicht oft genug gewaschen wurde? Sogar in Kenia war ich vor zwei Jahren. Und habe auch von dort zwei Tücher mitgebracht. Sie liegen seither in der Ecke. Zwar sind sie viel schöner und bunter als mein dünnes Tuch, aber die sind kratzig. Susanne Schneider

    Folge 22: Der Apfel

    Neulich mit Freunden in der Kneipe diskutierten wir darüber, welche Obstsorte die beste ist. Während bei den meisten rote Früchte wie Erdbeeren, Kirschen und Himbeeren sowie exotische Vitaminbomben wie Mangos, Ananas oder die klassische Banane vorne lagen, wurde ich für meinen bescheidenen heimischen Spitzenreiter belächelt: den Apfel. Der Apfel war es für mich schon immer. Er wird es auch immer sein.

    Ich bin umgeben von schwäbischen Streuobstwiesen aufgewachsen. Selbstgemachtes Apfelmus war die Spezialität meiner Großmutter, bei der ich als Kind viel Zeit verbrachte. Apfelmus gab es zu jedem Gericht – zu süßen Hauptspeisen wie Milchreis oder Grießauflauf, aber auch zum Sonntagsbraten zusammen mit Kartoffelsalat, Spätzle und Soße. Ich habe es geliebt. Vom frisch gestampften, noch warmen Apfelmus bekam ich immer den ersten Teller. Ich konnte sogar rausschmecken, welche Apfelsorte meine Oma verwendet hatte. Damals wollte ich mit diesem Talent zu Wetten dass…? gehen und berühmt werden. Beworben habe ich mich dann aber doch nie. Das beste Apfelmus gibt übrigens der Jakob Fischer Apfel – säuerlich-süß und knallpink.

    Mein liebster Tupperdoseninhalt in der Schulpause: Butterbrot und Apfelschnitze. In Schnitzform schmecken Äpfel anders – vor allem, wenn sie ein vertrauter Mensch liebevoll für einen kleingeschnitten hat. Wenn ich als Kind krank war, war das die einzige Nahrung, die ich akzeptierte. Manchmal, wenn meine Mutter Muße hatte, schnitt sie mir den Apfel dann sogar in Pommes-Form. Herrlich.

    Noch heute esse ich jeden Tag einen Apfel: meistens morgens, kleingeschnitten im Müsli oder Hafermatsch. Es geht aber auch nichts über den ersten Unterwegs-Bissen in einen frischen, saftigen Apfel. Wenn ich gestresst bin, beruhigt mich das knackende Geräusch, wenn die Zähne durch die harte Schale brechen. In der Obstabteilung im Supermarkt geht mein erster Griff in Richtung Äpfel – nie die grünen, immer die roten, und ja keine künstlich-hochgezüchtete Sorte, wie die Pinken Damen (um keine Marken zu nennen).

    Man könnte meinen, ich werde irgendwann die Nase voll von Äpfeln haben, aber ich bin mir sicher: Meine Langzeitbeziehung mit dem Apfel ist für die Ewigkeit. Solange ich noch Äpfel esse, besteht kein Grund zu Sorge. Anna Maria Jaumann

    Folge 21: Der lange Löffel

    Gestern war ein guter Tag. Der erste Kaffee hatte die perfekte Temperatur und Wirkung, die Kinder haben sich protestlos die Zähne geputzt, die Bus-S-Bahn-Verbindung ins Büro hat ohne große Wartezeiten funktioniert. Und dann lag in der Schublade in der kleinen Redaktionsküche auch noch mein Lieblingslöffel: der mit dem kleinen Kopf und dem langen Stiel. Ich glaube, in der Gastrofachsprache handelt es sich dabei um einen Eislöffel, weil man mit ihm auch das letzte bisschen Vanille-Sahne-Gemisch aus einem hohen Glasbecher angeln kann.

    Nun löffle ich am Arbeitsplatz sehr selten Eisbecher, leider. Was ich aber häufig esse, ist ein mitgebrachtes Müsli. Mal mit Joghurt, mal mit Bananen, mal mit Nüssen, aber immer in einem großen Glas mit Schraubverschluss. Und wenn ich dafür den langen Löffel benutzen kann, weil er gerade gespült und bei niemandem sonst in Gebrauch ist, macht es nicht nur mein Frühstück, sondern meinen ganzen Tag besser. Denn ich kann das Müsli in meinen Mund bugsieren, ohne meine Finger am Glasrand einzusauen und dann Tastatur und Maus zu verschmieren, außerdem komme ich problemlos in jede Ecke des Glases.

    Der Löffel macht mich, bitte erlauben Sie mir das bisschen Pathos, zu einer würdevolleren, achtsameren und saubereren Esserin. Das liegt auch an der an Haltung, mit der man den langen Löffel ins Glas und dann zum Mund führt: mit einer gewissen Eleganz, so, wie man den Stiel eines Weinglases anfasst. Das ist übrigens der große Unterschied zu einem normalen Suppenlöffel, mit dem ich mein Müsli ja auch essen könnte, weil der Stiel ähnlich lang ist. Das Verhältnis von Löffelkopf zu Löffelstiel ist ein ganz anderes, es ist gröber, schaufelartiger. Dadurch gleicht auch der Essvorgang mehr einer Bagger-Arbeit, und zwar mit gekrümmtem Rücken über dem Glas kauernd. Und in die Ecken kommt man damit schon gleich gar nicht.

    Der lange Löffel hingegen sorgt für Aufrichtung, innerlich wie äußerlich. Wenn ich mir vorstelle, dass ich mein Müsli mit dem langen Löffel esse und auf einmal steht der Chef im Zimmer, wäre es mir nicht unangenehm, sondern ich könnte den Löffel geschmeidig im Glas abstellen und wäre sofort gesprächsbereit, weil man mit dem langen Löffel auch nie den Mund zu voll nimmt, sondern er automatisch kleinere Bissen formt.

    Trotzdem bin ich froh, dass es nur diesen einen langen Löffel in der Redaktion gibt. Gäbe es mehrere, würde ich mich nicht an den Morgen freuen, wenn er in der Schublade auf mich wartet. Wahrscheinlich wäre er dann einfach ein Löffel unter vielen und ich könnte seine Qualitäten gar nicht richtig anerkennen. So aber kann er einen okayen Tag zu einem richtig guten machen. Danke dafür, mein Freund! Sara Peschke

    Folge 20: Der schwarze Rollkragenpullover

    Mark Zuckerberg und ich haben, soweit ich das einschätzen kann, wenig Gemeinsamkeiten. Aber eine Aussage von ihm kann ich sehr gut nachfühlen. Als er einmal gefragt wurde, warum er jeden Tag ein graues T-Shirt trage, antwortete er: »Ich möchte Unnötiges aus meinem Leben streichen, sodass ich so wenig Entscheidungen wie möglich treffen muss.« Womit wir bei meiner Liebe zu schwarzen Rollkragenpullovern wären.

    Wann immer ich meine Energie für andere Dinge brauche, greife ich zu ihm. Wenn ich ein schwieriges Gespräch führen muss. Wenn ich aufgeregt bin, weil ich jemanden treffe, von dem ich gerne hätte, dass er gut über mich denkt. Wenn ich mich verliebt fühle und einfach lieben möchte. Wenn ich das Baby einer Freundin im Arm halten werde und vermute, dass ich etwas Milchspucke abbekomme.

    Natürlich weiß ich, dass es Menschen gibt, die Rollkragenpullover bieder finden, langweilig, oder klischeehaft. Aber für mich bedeuten sie, mit kleinstmöglichem Aufwand gut angezogen zu sein. Wobei gut schon zu viel wäre: unauffällig. Sie fühlen sich für mich wie eine Rüstung an, hinter der ich ein bisschen verschwinde und die wenig Rückschlüsse auf mich zulässt. Ich glaube, dass Menschen meinen Worten mehr Gewicht geben als meiner Kleidung, wenn sie mich darin sehen.

    Und vielleicht ist das überhaupt die große Sehnsucht, die mich so oft zu ihm greifen lässt: dass ich einfach sein möchte und für nichts anderes bewertet werden möchte als für meine Worte und mein Wesen. Ich weiß nicht, ob ich das mit einem schwarzen Rollkragenpulli wirklich erreiche. Aber wie schön wäre es.
    Dorothea Wagner

    Folge 19: Das Einkaufsnetz

    Es ist ungefähr zwanzig Jahre her, dass meine Mutter durch das verwaiste Haus einer verstorbenen Frau ging, die keine Erben oder Erbinnen, dafür aber unzählige Besitztümer hinterlassen hatte. Meine Eltern hatten das Grundstück gekauft, auf dem ihr Haus stand, und bevor es abgerissen werden sollte, suchte sie darin nach Gegenständen, die sie vor der Entsorgung retten konnte. Dabei fand sie etwas, das mich heute noch begleitet: ein dunkelrotes Einkaufsnetz.

    Dieses Einkaufsnetz wohnt seither in der Tasche meiner Mutter und ist ihr bei jedem spontanen Einkauf ein treuer Helfer. Jedes Mal, wenn ich mit ihr an einer Ladentheke stehe, entwirrt sie begeistert den dunklen Netzstoff und sagt so etwas wie »Schau mal, das ist doch super, dass ich das jetzt habe!« Eine Aussage, der ich zu Beginn meiner Teenagerjahre vehement widersprach, denn es erfüllte eines der damals wichtigsten Kriterien nicht – es mangelte ihm an Coolness.

    Schließlich stand ich aber doch lieber gut ausgestattet als besonders chic an der Supermarktkasse, weshalb ich mir zum Auszug ein eigenes Netz kaufte. Es hilft mir bei Umzügen und Einkäufen, es passt leer in jede Tasche und ist gefüllt ein echtes Raumwunder, denn im Vergleich zum Jutebeutel ist das Netz elastisch und schmiegt sich behutsam um alles, was man darin verstaut.

    Wirklich um alles: Es funktioniert auch als Strandtasche, an deren Boden sich bestimmt keine hartnäckige Mischung aus dem Saft eines zerdrückten Pfirsichs und Sand festsetzt, oder als Begleiter für das nächste Flohmarkt-Wochenende. Die ganz kleinen Dinge darf man ihm zwar nicht anvertrauen, aber ich habe herausgefunden: Erinnerungen wie die an entspannte Einkaufssamstage mit meiner Mutter bleiben drin, trotz Löchern. Malin Köhler

    Folge 18: Die Teekanne

    Es gibt Gebrauchsgegenstände in meinem Schrank, die, wenn sie kaputt gehen, Raum für Neues schaffen. Sie erfüllen ihre Aufgabe für die Zeit, die sie da sind, und manchmal freue ich mich sogar darauf, sie irgendwann durch etwas Neues ersetzen zu können. Und es gibt meine Filio Teekanne von Mono. Sie war einst ein Geschenk meiner Patentante, die immer schon ein Händchen für stylische und doch praktische Gebrauchsgegenstände hatte. Ich bekam sie, kurz nachdem ich von zu Hause ausgezogen war – und benutze sie seither fast täglich. Immerhin schon an die 23 Jahre. Ich weiß nicht, wie viele Liter Tee ich schon aus ihr gegossen und getrunken habe. Grob hochgerechnet, bei durchschnittlich einem Liter pro Tag, im Laufe von 20 Jahren (schließlich trinke ich nicht jeden Tag Tee und bin manchmal auch länger nicht zu Hause) könnten es mehr als 7300 Liter gewesen sein. Ich habe immer schon viel Tee getrunken – schwarz, grün, Kräuter, mit den Kindern inzwischen oft Früchtetee – und ihn immer aus losen Blättern zubereitet. Und die schwimmen nun mal gerne, um ihr volles Aroma zu entfalten. Und das können sie nirgends besser tun, als in dem bauchigen Sieb, das nahezu das gesamte Volumen der Mono-Teekanne ausfüllt. In meinem Fall ist es die große Variante von 1,5 Litern. Ein runder Glasbehälter in einem filigranen Metallring aufgehängt. Sieht schön aus – ist aber leider auch zerbrechlich. Mein Filio-Glas ist mir inzwischen sicherlich schon drei oder viermal kaputt gegangen. Jedes Mal ein großer Schreck – denn wo bereite ich nun meinen Tee zu? Aber glücklicherweise gibt es das Glas auch einzeln nachzukaufen, was ich stets umgehend getan habe. Denn diese Teekanne hat ihren Platz im Schrank sicher – Raum für Neues wird es an dieser Stelle nicht geben. Höchstens für ein neues Glas, sollte es wieder mal kaputt gehen. Maria Sprenger

    Folge 17: Sonnencreme

    16 Handgriffe benötige ich für meine Hautpflegeroutine am Morgen. Öffnen und Schließen der Produkte mitgezählt. Dann ist mein Gesicht gewaschen, mit einem Toner hydriert, mit einem Serum geboostert und als Highlight mit Lichtschutzfaktor 50 geschützt. Ja, richtig gelesen: Highlight. Ich komme seit Jahren nicht mehr ohne Sonnencreme aus. Und das sollte eigentlich niemand. Egal, ob es bewölkt ist oder regnet. Auch egal, ob Winter ist.

    Sonnencreme gibt mir ein Gefühl von Kontrolle. Denn das Versprechen lautet: Wenn ich sie nutze, kann meiner Haut nichts passieren. Sonnenschutz ist der heilige Gral gegen Hautalterung, Sonnenbrand und Hautkrebs. Jede Bräunung der Haut ist eine Schädigung. Hautkrebs schleicht sich nicht über Nacht an, wir säen ihn mit den Jahren, in denen wir ungeschützt in der Sonne liegen. Sonnencreme ist Selfcare, auf einfachstem und höchstem Niveau zugleich. Und sie ist fester Bestandteil einer Routine – und meine Generation, die Mitte Zwanzigjährigen, liebt Routinen: Morgenroutinen, Abendroutinen, Sportroutinen.

    So viel Bewusstsein hatte ich natürlich nicht immer. Als Kind wehrte ich mich gegen die klebrige Paste, die erst als weißer Film meine Haut zierte und kurz danach als fettige Schlieren durch das Mittelmeer schwamm. Jahre später lag ich dann gemeinsam mit meiner Naivität und dem Wunsch nach gebräunter Haut am Badesee. Lichtschutzfaktor 10 war das Maximum. Gelegentlich wurde sogar Bräunungsöl ausgepackt.

    Das hat sich schon lange geändert: Meine Schwester und dann auch noch Social Media haben mich bekehrt. Jetzt freue ich mich jeden Morgen auf den kurzen Moment, in dem es nach Urlaub riecht. Ich erwische mich sogar dabei, wie ich fassungslos bin, wenn jemand gesteht, dass er keinen Sonnenschutz verwendet. Das ist wirklich nicht mehr zeitgemäß. In einer ernstzunehmenden Morgenroutine ist das Bett vielleicht nicht gemacht, aber Sonnencreme ist ein absolutes Muss. Kiana Lensch

    Folge 16: Die Hertha-Kerze

    Das Ding ist hässlich. Sehr, sehr hässlich. Eine dreißig Zentimeter hohe Kerze, von unten bis oben von reich verziertem Säulenwerk umschlungen, das aussieht, als käme es aus der Werkstatt des mittelalterlichen Meisterschnitzers Tilman Riemenschneider. Aber alles in blau-weiß, und in der Mitte prangt das Wappen von Hertha BSC. Dieses Prachtstück aus Wachs haben meine Frau und ich von meinem alten Schulfreund Martin zur Hochzeit bekommen. Gut sichtbar steht es bei uns im Küchenregal und hat schon oft für Spott und Verwunderung gesorgt. Doch immer wenn mein Blick auf die Hertha-Kerze fällt, empfinde ich eine tiefe Rührung. Warum?

    Kurze Rückblende in die Achtzigerjahre: Eines Tages kam ein neuer Schüler namens Martin in unsere 9. Klasse an einem Gymnasium in Berlin-Zehlendorf. Es dauerte nicht lange, bis ich auf seinem Federmäppchen die Aufschrift »Deutscher Meister 1930/31« entdeckte und ihn dadurch als Hertha-Fan identifizierte. Der Verein dümpelte damals in der Amateur-Oberliga herum, kaum jemand interessierte sich noch für sein trostloses Gekicke. Wir beide schon. Martin und ich wurden schnell Freunde und sind es bis heute. Die Kerze steht für mich also für unsere Freundschaft, für meine Kindheit und Schulzeit in West-Berlin, für eine verschwundene Welt, die mich geprägt hat und der ich mich stark verbunden fühle.

    Daneben steht die Kerze aber einfach, na klar, für den Fußballverein Hertha BSC. Irgendwie entspricht ihr bizarres Aussehen dabei dem höchst bizarren Schauspiel, das der Club in den letzten Jahren geboten hat, mit Klinsmann-Tagebüchern, versenkten Windhorst-Millionen und dem Absturz auf den letzten Platz der Zweiten Liga (von dem wir uns nun wieder etwas weggekämpft haben). Stets erinnert sie mich daran, dass zum Leben auch das Leiden gehört, selbiges aber leichter zu ertragen ist, wenn man alles mit Humor nimmt. Wir Hertha-Fans wissen das schon lange.

    Schließlich geht es beim Fußball immer auch um Hoffnung. Auf das nächste Spiel, das nächste Tor, den nächsten Sieg. Die Hertha-Kerze, so beschloss ich schon sehr früh, wird nur nach großen Triumphen angezündet, deshalb kann ich genau sagen, wann das zum letzten Mal der Fall war: Am 10. August 2013 nach einem 6:1-Sieg über Eintracht Frankfurt, der uns für eine Woche an die Spitze der Bundesliga-Tabelle brachte. Seitdem hat mir der Verein keine vergleichbaren Glücksmomente beschert, und ich bin skeptisch, ob das je wieder der Fall sein. Aber wenn doch, wird die Hertha-Kerze wieder brennen. Johannes Waechter

    Folge 15: Das Kuschelschwein

    Das Schwein kam aus New York angeflogen. Natürlich nicht selbst: Meine Großtante Fanny, die dort lebte und die ich nur aus Geschichten kenne, hatte das Kuscheltierschwein nach meiner Geburt bei Sak’s für mich gekauft und rüberschippen lassen. Es war rosa, sehr dick, hatte einen Ringelschwanz und eine rot karierte Schleife um den Hals. Als ich sprechen konnte, taufte ich es Gägä, eine verrückte Alliteration, die wenig mit Schweinen zu tun hat.

    In den nächsten Jahren flog Gägä mit nach Mallorca in den Urlaub, diente als provisorisches Kopfkissen bei Übernachtungen und kam im Ranzen mit in die Schule. Über die Jahre hat das Schwein seine Schleife verloren und ein selbstgemachtes Freundschaftsarmband bekommen – seine beste Freundin, eine Kuh, trägt das Pendant. Außerdem hat Gägä extrem an Gewicht verloren – die berühmte Knuddeldiät. Den Ringelschwanz hat mein Kinder-Ich so oft durch die Finger gezogen, dass er jetzt stecken-gerade ist.

    Vor einigen Jahren, bei einem Nähkurs mit meiner Oma, haben wir das Tier generalüberholt. Da lag es ausgebreitet wie ein angespülter Seestern aus Frottee, die Gliedmaßen von sich gestreckt. Mit ein paar Stoffresten und viel neuer Wolle sah es wieder ganz proper aus. Aber trotz aller Liebe, oder gerade deswegen, ist es schnell wieder geschrumpft. Der Kopf hängt mittlerweile und die Augen sind trüb, weil sie im Schleudergang der Waschmaschine nicht überklebt waren.

    Meine Mutter scherzt immer, dass das Schwein mal hinter Glas stehen wird, um sich nicht gänzlich aufzulösen. Aber ich denke, es muss geliebt werden. Also wird es in zehn Jahren vielleicht auf dem Fensterbrett meiner Tochter sitzen, den Kopf leicht gesenkt, aber mit Liebesspuren in den Nähten des alten, rosa Stoffs. Sophie Nothhaft

    Folge 14: Der Schal

    »Es zieht.« Ein Satz, den ich in meinem Leben öfter gesagt habe, als ich zugeben möchte. Ich fürchte mich vor Klimaanlagen, die ich nicht runterstellen kann. Vor Lüftungen in Flugzeugen. Vor Fahrtwind, der mir an den unbedeckten Ohren vorbeirauscht. Der Grund dafür ist, dass ich als Kind chronisch unter Mittelohrentzündungen litt. Bei jedem noch so kleinen Windchen muss ich an meine Mutter denken, die mir dann immer warmes Öl in die Ohren goss. Und obwohl ich schon lange keine Mittelohrentzündung mehr hatte, ist die Angst vor dem Zug noch immer groß. Vor allem deshalb habe ich seit Jahren fast jeden Tag einen Schal in der Tasche, den ich mir bei Luftzuggefahr sofort um den Kopf wickle.

    Der Schal ist außerdem die bessere Mütze. Das wusste auch Grace Kelly. Ein Schal klemmt mir nicht die Ohren ab und zerstört nicht meine Frisur. Er hinterlässt keine Abdrücke auf der Stirn. Und er löst vor allem nie dieses unerträgliche Jucken der Kopfhaut aus, wenn sich zwischen Schädel und Wollmütze die Hitze staut. Ich leide immer mit, wenn ich im Winter Kinder sehe, die sich mit ihren Fäustlingen die Köpfe reiben.

    Neben Wärme und Luftzugvermeidung hilft mir der Schal aber auch in anderen Situationen. Eine zweite Furcht von mir ist nämlich, in öffentlichen Verkehrsmitteln einzuschlafen und dabei beobachtet zu werden, wie mein Kopf immer und immer wieder nach vorne kippt. Oder – noch viel schlimmer – seitlich gegen eine Scheibe klatscht, an der sich noch der fettige Abdruck eines anderen Gesichtes befindet. Wenn es sich also gar nicht vermeiden lässt, einzuschlafen, wird mein Schal oft zum Kissen, das ich dann zwischen Kopf und Scheibe klemme. Für mich ist der Schal eines der wenigen Kleidungsstücke, die es schaffen, multifunktional und schön zu sein – zwei Eigenschaften, die sich für gewöhnlich ausschließen. Lea Mohr

    Folge 13: Die Salatschleuder

    Es soll Menschen geben, die ohne sie auskommen, ihre Daseinsberechtigung sogar in Frage stellen. So ein riesiges Ding, das nur unnötig Platz im Küchenschrank einnimmt. Das braucht es doch nicht? Allen Zweiflern und Skeptikerinnen möchte ich entgegenschleudern: Ihr wisst nicht, was euch entgeht! Bei der Salatschleuder handelt es sich um eine so simple wie geniale Erfindung. Ein Gerät, das Wasser von Salatblättern zentrifugiert. Das ohne Strom, aber mit Fliehkräften wirkt und das Leben so viel besser macht.

    Ich nutze sie täglich, seit Jahrzehnten. Dabei wuchs ich in einem Haushalt ohne auf. Salatblätter wusch meine Mutter im Spülbecken und ließ sie anschließend in einem Sieb abtropfen. Richtig trocken wurden sie aber nie, der Salat schmeckte wässrig. Kaum war ich ausgezogen, legte ich mir eine Salatschleuder zu – und plötzlich drehte sich alles in und um dieses Küchengerät.

    Egal ob Rucola, Eichblatt- oder Feldsalat, ob Blaubeeren, Petersilie oder Koriander, allen gönne ich nach dem Waschgang ein paar Runden im Rotor. Selbst die traurigsten und leicht welken Salatblätter erweckt so ein Schleudergang zu neuem Leben. Sie schmecken anschließend frischer, knackiger, gut getrocknet halten sie sich auch länger und nehmen Essig und Öl besser auf. Entnehme ich den Korbeinsatz, wird die Schleuder zur Salatschüssel, der Korb wiederum dient mir als Sieb, um zum Beispiel Nudeln abzugießen. Die Einsatzmöglichkeiten sind endlos. Einmal schleuderte ich sogar empfindliche Seidenunterwäsche darin trocken. Hat auch funktioniert.

    Für mich stellt sich also nicht die Frage, ob der Mensch eine Salatschleuder braucht, sondern nur, welches Modell. Ich habe bereits einige ausprobiert: Salatschleudern mit Schnur, aber auch welche mit Kurbel. Gerade bin ich wieder beim günstigen und gar nicht mal so großen Ikea-Modell angelangt. Und das passt wirklich in jeden Küchenschrank. Verena Haart Gaspar

    Folge 12: Die Gallseife

    Ich bin jetzt Anfang 30 und merke, dass mich kleine Momente der Bürgerlichkeit überraschend glücklich machen. Ich liebe es, an einem freien Samstagvormittag zum Wochenmarkt zu laufen und habe mir sogar einen Korb dafür gekauft, der so aussieht, wie Wochenmarkt-Körbe eben immer aussehen. Ich fühle mich gut, wenn die Altglas-Box in meiner Küche frisch geleert ist. Und ich pflege gerne meine Klamotten, damit sie länger halten. Was für mich vor allem bedeutet: Ich versuche ständig, Flecken wieder aus ihnen rauszukriegen.

    Denn da kommt bei mir einiges zusammen. Ich liebe ölige Tomatensauce auf Nudeln und Tahin-Dressings auf meinen Salaten. Ich schütte in viel zu viele Gerichte Mengen an Kurkuma.  Und vor allem benutze ich fast jeden Tag Sonnencreme, wie soll es auch anders sein, als Frau mit Instagram-Konto und einem Feed voller Skincare scheint das unausweichlich. Also haben meine Oberteile und Kleider schon einige Essensflecken und gelbe Sonnencreme-Ränder abbekommen.

    Bei jedem Umzug merke ich, wie viele Fleckentferner-Fläschchen ich über die vergangenen Jahre schon wieder angesammelt habe. Aber das hat seit einiger Zeit ein Ende. Denn da habe ich – ich glaube auf Instagram – die Empfehlung für einen Fleckentferner gesehen, der alle anderen hinfällig macht. Es ist ein Klassiker: Gallseife. Allerdings in einer überraschend süchtig machenden Darreichungsform.

    Denn bei DM (vermutlich gibt es sie auch bei anderen Drogerien, aber dort habe ich sie gekauft) bekommt man sie flüssig abgefüllt in einer Flasche, an deren Ende eine Bürste mit Plastikborsten ist. Damit kann man nicht nur Gallseife auftragen, sondern den Fleck auch gleich etwas ausbürsten. Und hier sind wir wieder bei den bürgerlichen Glücksmomenten. Den Fleck mit der Bürste auszuschrubben und später das meistens wieder sehr saubere Tshirt aus der Waschmaschine zu holen, ist schönste Selbstwirksamkeit. Hach, Anfang 30 sein, das ist schon was. Dorothea Wagner

    Folge 11: Die Riesentasse

    Zwei Teebeutel rein, einen halben Liter Wasser drauf, und ich starte gut hydriert in den Tag. Meine Riesentasse ist seit gut sechs Jahren fester Bestandteil meiner Morgenroutine. Einmal aufgefüllt, muss ich weder alle 20 Minuten frischen Tee kochen noch drei Tassen gleichzeitig an den Schreibtisch balancieren. Anders als in einer Thermoskanne, aus der man sich in regelmäßigen Abständen dampfend heiße Getränke gießt, kühlt der Tee in meiner Riesentasse langsam auf die ideale Trinktemperatur herunter – ohne direkt eiskalt zu werden. Und am Ende ist sie einfacher zu spülen als eine beschichtete Kanne.

    Insgesamt besitze ich drei Riesentassen, Freundinnen und Freunde haben sie mir unabhängig voneinander geschenkt, als ich 17 war. Lustigerweise das gleiche Modell, aber mit unterschiedlichem Print: Einhörner, in verschiedenen Formen und Farben. Dass meine Lieblingstiere darauf sind, war ausschlaggebend für den Kauf, denn einen Designaward würden die Tassen sicher nicht gewinnen. Sie sind bauchig und massiv, und beim Trinken verschwindet mein komplettes Gesicht darin. Sie brauchen viel Platz im Schrank und machen Umzugskisten deutlich schwerer. Sie sind aber trotzdem praktisch, wenn man mal Besuch hat, der auch gerne viel Tee trinkt. Oder Suppe essen möchte. Oder Eis. Oder eine Soße anrühren. Durch den Henkel liegen sie nämlich besser in der Hand als Schüsselchen, und der hohe Rand verhindert Kleckern.

    Dass ich sie bis heute täglich benutze, hätte während der Schulzeit niemand gedacht – allein schon, weil die Tassen aus einem Ein-Euro-Laden stammen. Was sie alles mitgemacht haben, ist erstaunlich. Vor den Abiprüfungen habe ich daraus nervös meinen Tee geext, während meines Volontariats war eine der Riesentassen fester Bestandteil meines Redaktions-Equipments, und danach habe ich sie in drei verschiedene Studi-WGs mitgenommen. Wohin es mich als nächstes verschlägt, steht noch nicht fest. Was ich als erstes in meine Umzugskiste packe, aber schon. Franziska Groll

    Folge 10: Die Kabelkopfhörer

    Eigentlich gibt es nichts, was für Kabelkopfhörer spricht: Bluetooth-Kopfhörer sind handlicher und mobiler. Und sie verursachen keinen Kabelsalat. Also kaufte ich mir vor eineinhalb Jahren (ich weiß, late to the party und so) meine ersten Bluetooth-Kopfhörer: klein, weiß, in-ear. Ein endgültiger Wechsel von Kabelkopfhörern zu kabellosen. Dachte ich jedenfalls.

    Ich hatte die neuen Kopfhörer gerade mal zwei Wochen, da stand ich am Bahngleis und wollte mit dem Zug zur Arbeit. Beim Einsteigen touchierte mich ein übermotivierter Drängler. Die Musik aus meinem linken Ohr verschwand. Der kleine weiße Ohrstöpsel dotzte auf dem Bahnsteig auf, zwei- oder dreimal, und verschwand im Spalt zwischen Bahnsteigkante und Zug. Im ersten Moment dachte ich, was soll’s, dann bleibt das Ding halt da liegen, und stieg in den Zug. Im zweiten Moment dachte ich, auf keinen Fall, die Teile kosten über 100 Euro, und stieg wieder aus. Als der Zug abgefahren war, kraxelte ich ins Gleisbett und angelte den Kopfhörer wieder heraus. Ich nahm den nächsten Zug, kam eine halbe Stunde zu spät zur Arbeit und war fortan mit einem flüsternden linken Kopfhörer unterwegs.

    Ich benutzte die Kopfhörer trotzdem weiter, aber immer wieder, wenn ich mich ruckartig bewegte, verabschiedete sich einer der beiden aus meinem Ohr. Das Gute daran: Ich trainierte meine Reaktionen, indem die herabstürzenden Kopfhörer mit akrobatischen Handbewegungen auffing. Das Schlechte: Ich erwischte sie nicht immer. Mit jedem Sturz wurden die Kopfhörer leiser.

    Es hat also eh nicht so gepasst zwischen Bluetooth-Kopfhörern und mir. Und es gibt noch etwas, was zwischen uns stand: Ich war eines dieser Kinder, zu dem die Eltern immer gesagt haben: »Kind, gut, dass dein Kopf festgewachsen ist, sonst würdest du den auch noch verlieren.« Und die Möglichkeit, etwas zu verlieren, wurde mit dem Kauf der Bluetooth-Kopfhörer (linker Ohrstöpsel, rechter Ohrstöpsel und Ladecase statt langes Kabel) verdreifacht. Es kam also, wie es kommen musste: Regelmäßig lief ich tagelang nur mit einem der beiden Stöpsel herum und fand den anderen wahlweise im Altpapier, im Badezimmeregal, auf der Dunstabzugshaube oder – dem Klassiker – in der Sofaritze wieder.

    Bluetooth-Kopfhörer waren für mich also vor allem zweierlei: flüsternd und selten verfügbar. Also bin ich nun wieder bei Kabelkopfhörern, wissend, dass meine Liebe zu ihnen an meinen eigenen Unzulänglichkeiten (Verplantheit und seltsam geformte Ohrmuscheln) liegt. Aber welche Liebe tut das eigentlich nicht? Florian Weber

    Folge 9: Der Handtuchponcho

    Gekauft habe ich den Handtuchponcho, einen Überwurf aus Frotteestoff mit Kapuze und zwei Löchern für die Arme, auf meiner ersten großen Backpackerreise in Marokko. Am Strand von Taghazout hatten ihn alle Surferinnen und Surfer, um nach dem Wellenreiten im Atlantik ihren Neoprenanzug darunter auszuziehen und sich dann eingemummelt an den Strand zu setzen.

    Dass der Poncho nicht nur fürs Surfen großartig ist, merkte ich später im Gemeinschaftsbad im Hostel. Viel Privatsphäre gibt es dort eigentlich nicht – aber jetzt hatte ich meine eigene, gemütliche Umkleidekabine zum Mit-mir-herumtragen. Schluss mit den unangenehmen Momenten nach dem Baden, in denen man sich mit der einen Hand das Handtuch um die Hüfte schlingt und mit der anderen versucht, das Bikiniunterteil gegen die Unterhose zu tauschen – in ständiger Angst, dass etwas verrutscht oder durch den Schlitz an der Seite blitzt. Seitdem verreise ich grundsätzlich nicht mehr ohne mein Lieblingshandtuch. Auch, wenn ich mit Freundinnen und Freunden am See schwimmen gehe, packe ich es ein. Nicht selten stibitzen sich die anderen den Poncho dann zum Umziehen.

    Gelegentlich werde ich von fremden Leuten gefragt, ob ich surfe, wenn ich den Poncho trage. Eigentlich ein netter Nebeneffekt. Teil der Wahrheit ist aber auch, dass meine ersten Surfversuche eher kläglich scheiterten und ich verfroren, frustriert und von den Wellen durchgespült an den Strand kroch. War aber nicht so schlimm – schließlich konnte ich mich danach in meinen Handtuchponcho kuscheln und, vor Wind und Blicken geschützt, mit der Kapuze schief im Gesicht, den Wellen zuschauen. Merle Hubert

    Folge 8: Der Toaster

    Als Kind hatte ich eine ausgeprägte Vorliebe für ungetoastetes Toastbrot. Mit Brotscheiben, die beim Reinbeißen auch nur im Ansatz knusperten, konnte ich nichts anfangen. Ich liebte das Geschmacklose: Je labbriger, desto besser. Meine Geschwister machten sich deswegen oft über mich lustig, mir war das egal, ich konnte mir auf dieser Welt nichts Besseres vorstellen als Brot, das im Mund sofort zerfällt und das jeden Tag. Mit dem Toaster hatte ich zu diesem Zeitpunkt kaum Berührungspunkte, das Gerät blieb in meiner Anwesenheit meistens kalt.

    Das änderte sich, als ich für mein Studium in eine WG zog: Ein Schalter wurde umgelegt. Es ratterte. Und machte dann mit einem Mal Klick. Auch in meinem Kopf.

    Dass ich dem von mir lange unterschätzten Toaster nun einen Toast aussprechen möchte, hat viel mit meiner damaligen Wohnsituation zu tun. Mit zwei Freundinnen teilte ich mir eine Wohnung, die sich direkt gegenüber von einem Supermarkt befand. Statt Wocheneinkäufen gab es bei uns Tageseinkäufe; wer für das Abendessen etwas brauchte, ging eben schnell runter und holte es. Mit anderen Worten: Wir wurden bequem.

    So kam es nicht selten vor, dass wir am Sonntag vor dem geöffneten Kühlschrank standen und erst einmal peinlich berührt überlegen mussten, was wir aus den Lebensmitteln, die wir aus unseren Tageseinkäufen noch hatten, kochen konnten. Meistens lautete die Antwort »nichts«, und so wurde das durch unseren Gemeinschaftstoaster geröstete Brot mit der Zeit zu so etwas wie unserem klassischen Sonntagsbraten.

    Unsere Einkäufe sind mittlerweile geplanter geworden, das Essen gesünder und wir ein Stück weit erwachsener. Getoastetes Brot gehört für mich dennoch bis heute zum Sonntag dazu – aus aromatischen Gründen, nicht mehr aus Mangel an Alternativen, zumindest in den allermeisten Fällen nicht. Der Toaster hat genau eine Aufgabe und die machte er gut: Er gibt jeder halbtrockenen Scheibe Brot eine zweite Chance und uns damit irgendwie auch. Marei Vittinghoff

    Folge 7: Die Swatch-Armbanduhr

    Dass Handys zum Telefonieren und Uhren zum Kontrollieren der Uhrzeit benutzt werden können, gerät mitunter in Vergessenheit. Wer will schon in ein Telefon sprechen, wenn er in der gleichen Zeit darauf ein paar Nachrichten schreiben, Youtube-Videos und Instagram-Fotos anschauen kann. Und wer braucht die Uhrzeit, wenn er stattdessen die Qualität des eigenen Schlafes, die Anzahl der getätigten Schritte und den Wetterbericht sehen kann. Tja. Ich. Ich möchte auf meiner Uhr ausschließlich die Zeit sehen – Ablenkung habe ich durch das Handy genug. Seit ich die Uhr lesen kann, besitze ich eine Armbanduhr von Swatch. Anfangs eines der kleinen Kindermodelle. Später eine mit kleinem Ziffernblatt, dafür aber doppelt langem neonpinken Armband. Eine der extra-dünnen hatte ich auch mal. Und zuletzt ein simples blaues Modell mit großen weißen Zahlen, Stunden-, Minuten- und Sekundenzeiger. Schritte zählen? Blutdruck messen? Nachrichten empfangen? Kann meine Armbanduhr alles nicht. Sie kann viel mehr.

    Sie springt mit mir in den Pool, ohne kaputt zu gehen. Sie nimmt es mir nicht übel, wenn ich sie auch mal wochenlang im Eckl liegen lasse. Ein paar Kratzer, weil meine Kinder sie einen Nachmittag lang trugen und damit die Wände entlangschleiften? Kann sie ab. Wenn das Armband anfängt, sich aufzulösen, bestelle ich ein neues und bin selbst in der Lage, es innerhalb weniger Minuten auszutauschen. Selbst die Batterie lässt sich ohne größere Schwierigkeiten wechseln. Kurz: Meine Swatch verleiht meinem Leben einen Hauch Unkompliziertheit, die es sonst manchmal vermissen lässt. Sie benötigt keine große Sorgfalt oder Fürsorge, kein Ladekabel und keine Schutzfolie. Sie tickt einfach weiter. Unbeirrbar. Sogar ziemlich laut. Wie viele Schritte ich gemacht habe, ist ihr egal. Und dafür bin ich ihr sehr dankbar. Vor allem, wenn ich abends auf dem Sofa sitze und mein Mann gerad seine sechste Runde um den Esstisch dreht, weil ihm seine Smart Watch gerade mitgeteilt hat, dass ihm noch 400 Schritte bis zum Tagesziel fehlen. Maria Sprenger

    Folge 6: Das große Wasserglas

    Irgendwann fing es an. Die ausgespülten Senf- oder Nussnougat-Gläser meiner Kindheit wurden abgelöst. Von kleinen chicen Wassergläsern. Ich glaube, der Trend ging von diesen teuren, skandinavisch eingerichteten Restaurants mit den hellen Holztischen und den graublauen Filzkissen auf den hölzernen Sitzbänken aus. Sie stellten als Erste die flachen Schälchen zum Trinken auf den Tisch. Sowas wie eine Petrischale mit hochgezogenen Seitenwänden. Nur eben nicht besonders hochgezogen. Plötzlich gab es diese Gläser überall zu kaufen, plötzlich standen sie oft bei Freunden auf den Tischen. Gläser, aus denen man keine vier vollen Schlucke machen kann, weil sie bei Schluck drei schon wieder leer sind. Fühlt sich an wie Schwimmbewegungen abbrechen, weil der Pool zu klein ist.

    Nun könnte man vom Glas gleich auf die Flasche ausweichen, wenn man gerne Wasser trinkt. Aber für einen gedeckten Tisch sind sie nichts. Und selbst auf dem Schreibtisch sehen sie immer so nach Aufbruch aus, nicht gemütlich. Außerdem riechen Plastikflaschen oft nach dem Vorgängergetränk oder dem Spültab. Glasflaschen sind besser, aber zwingen zum gespitzten Trinkmund. Tassen sind so wuchtig an den Lippen. Bierkrüge aus Glas sind zu schwer. Das dünne Glas ist einfach das beste Trinkgefäß; es riecht neutral, bleibt kühl, lässt Mund und Nase Platz.

    Und das einzige, was einen davon abhält, das Problem zu lösen, ist diese merkwürdige Nahraum-Ergebenheit. Während Spezialausrüstung wie die perfekten Schwimmflossen für vier Einsätze im Jahr ständig auf dem Prüfstand stehen, lebt man jahrelang mit zu kleinen Gläsern, zu brüchigen Gardinenstangen, zu kurzen Ladekabeln oder halbkaputten Fernbedienungen. Die Lösung liegt unsagbar nahe: Wassergläser, die einen halben Liter fassen und trotzdem keine Humpen mit Halter sind – gibt es inzwischen wieder von Kik bis HAY. Manchmal sind es eben die großen Dinge. Lara Fritzsche

    Folge 5: Der Tangle Teezer

    In der Grundschule wollte ich Sandy von den No Angels sein. Sandy hatte blaue Augen und platinblonde, glatte Haare. Ich hatte seit jeher einen praktischen Kurzhaarschnitt, den ich langsam rauswachsen ließ. Was da entstand, hatte aber mit Sandys Haar so gar nichts zu tun. In den folgenden Jahren beschäftigten mich abgebrochene Spitzen, verknotete Haarenden, ungewollte Dreadlocks und entsetzte Friseurinnen. Ein Zitat ist mir besonders im Kopf geblieben: »Meine (Pause) liebe (Pause) Kundin. Wie siehts bei (übertriebene Betonung) Ihnen denn mit der Pflege aus?«. Mein sowieso fragiles siebzehnjähriges Selbstbewusstsein traf das hart.

    Anfang 20 ließ ich mir die Haare also wieder abschneiden und die eine Seite gleich abrasieren. Mittlerweile wusste ich, welche Spülungen alle nichts gebracht hatten, und hatte als Sozialwissenschafts-Studentin kapiert, dass ich meinen Traum von Sandys Haar und mein Leiden an meinem eigenen auch der Gesellschaft zu verdanken hatte, in der ich aufgewachsen war. Sandy stand auf fast allen Fotos in der Mitte. Auch meine Grundschulfreundinnen fanden von den fünf No Angels ausnahmslos sie am Tollsten. Dass es gleich mehrere Bandmitgliederinnen mit Locken gab, war im Deutschland der frühen 2000er ungewöhnlich. Über Menschen mit Haaren wie meinen wurden in meiner Kindheit und Pubertät vor allem Debatten geführt, ob sie zu Deutschland gehören könnten und überhaupt integrationsfähig seien, wenn sie nicht gleich wie in Mölln 1992 oder Solingen 1993 Opfer rechtsextremer Anschläge wurden.

    Mit meinen kurzen Locken handelte ich mir Momo als neuen Spitznamen ein. Ansonsten war diese Frisur jahrelang eine Erfolgsgeschichte, bis ich Paterson von Jim Jarmush im Kino sah. Golshifteh Farahani, sowieso wunderschön, in der Hauptrolle mit langen, lockigen, glänzenden, schwarzen Haaren. Könnten meine Haare so aussehen? Ich ließ sie wieder wachsen, die Spitzen brachen wieder ab, die Enden verknoteten sich, sogar die Blicke der Friseure in Hamburg ähnelten denen in der schwäbischen Kleinstadt. Aber mittlerweile gab es Youtube.

    Ich schaute viele Minuten Videos von Lockeninfluencerinnen und lernte: Niemals trocken kämmen. Selten waschen. Jede Woche Haarkur. Mit zusammengebundenen Haaren oder noch besser einer Satinmütze schlafen. Manche Maßnahmen kosteten zu viel Geld oder Zeit oder beides, aber eine war preiswert und effektiv: In einem Video lernte ich den Tangle Teezer kennen, eine Bürste mit langen, dünnen, weichen Plastikspitzen, die es in den meisten Drogerien gibt. Unauflösbare Knoten und abbrechende Spitzen beschäftigen mich beim Kämmen seither nicht mehr. Wie die von Golshifteh Farahani sehen meine Haare immer noch nicht aus. Aber mit Sandy würde ich um keinen Preis der Welt mehr tauschen. Susan Djahangard

    Folge 4: Die Taschenlampe

    Drei gute Gründe für den Kauf einer hochwertigen Taschenlampe: Ich gehe mit meinem Hund oft abends im Dunkeln spazieren, ich schaue zu viel »Aktenzeichen XY… ungelöst« und ich hatte 2021 eine unheimliche Begegnung mit einem Phantom. Zusammengefasst habe ich mir eine ordentliche Taschenlampe gekauft, weil ich im Dunkeln ein kleiner Schisser bin.

    Die LED-Lampe leuchtet mit bis zu 700 Lumen jede düstere Ecke taghell aus, aus bis zu 300 Meter Entfernung. Die 42 Zentimeter lange Taschenlampe liegt dank Alugehäuse recht massiv in der Hand, notfalls könnte man Verbrecher damit verkloppen, hoffe ich. Zudem hat meine Lampe eine Art Selbstverteidigungsfunktion, im aktivierbaren Stroboskop-Modus blendet sie andere mit Lichtblitzen.

    Ob die Lampe gegen Phantome hilft, weiß ich nicht. Und damit zur Grusel-Anekdote: Ich lief eines Abends Ende November 2021 mit einem Freund und dessen Hund am See-Ufer entlang, es war neblig, die Wege unbeleuchtet. Wir bemerkten eine Gestalt, die uns in Schwarz gekleidet in einigem Abstand folgte. Immer wenn wir uns umdrehten, stand sie regungslos da. Man konnte seltsamerweise nie ein Gesicht erkennen. »Creepy Typ«, meinte mein Freund. Als wir bei seinem Haus ankamen und uns noch mal umdrehten, stand die dunkle Gestalt wieder so seltsam reglos in der Ferne. Wir blickten uns an, blickten wieder zur Gestalt – die urplötzlich verschwunden war. Ich verabschiedete mich scherzend (»Du erbst meinen Hund, wenn ich gleich ermordet werde.«) und lief alleine weiter – auf dem Heimweg kam bei mir der große Wunsch auf, sehr bald eine gute Taschenlampe zu besitzen.

    Der Akku hält übrigens bis zu 24 Stunden, ich lade sie gerne auf, wenn ich »Aktenzeichen XY… ungelöst« sehe, fürs Gassigehen danach. Die Lampe ist zugleich eine Powerbank, an der man ein Handy zwar nicht groß aufladen kann, aber es reicht, dass der Akku nicht leerer wird. Fürs Sicherer Fühlen ist also einiges getan. Marc Baumann

    Folge 3: Der aufblasbare Pilatesball

    Um die Liebe zu meinem aufblasbaren Pilatesball zu erklären, muss ich kurz ausholen: Wir sind eine vierköpfige Familie, zwei Erwachsene, zwei Kinder, und aus pragmatischen Gründen (ein Aufgabegepäck kostet oft fast so viel wie ein ganzer Flug) haben wir beschlossen, dass wir nur noch mit einem großen Koffer reisen, egal, ob wir drei Tage oder drei Wochen unterwegs sind. Jedes Familienmitglied bekommt ein Viertel Kofferinhalt Platz für Klamotten und Kulturbeutel, dazu nehmen wir einen Rucksack für Bücher und Spielzeug und einen für wichtige Dinge wie Medikamente, Reisepässe und Ladekabel mit.

    Warum das Reisen mit kleinem Gepäck sehr zu empfehlen ist, gehört in einen eigenen Text, doch diese Platzbeschränkung hängt eng mit meiner Pilatesball-Liebe zusammen. Weil wir selten in Hotels mit Fitnessbereich einchecken, ich aber schlechte Laune und Rückenschmerzen bekomme, wenn ich mich zu wenig bewege, nehme ich meinen kleinen blauen Ball überall mit hin. Lässt man die Luft raus, ist er so kompakt wie ein Sockenbündel. Aufgeblasen so groß wie ein Volleyball, ersetzt er für mich ein Fitnessstudio: Ich benutze ihn als eine Art Wackelboard für Füße, Hände oder Knie, um das Gleichgewicht zu schulen und die tieferliegenden Muskelgruppen zu erreichen, klemme ihn zwischen die Oberschenkel oder Handflächen, um gegen seinen Widerstand zu arbeiten, lehne mich für spezielle Sit-ups an ihn an, oder kreise damit um meinen Rumpf für mehr Beweglichkeit.

    Um das Unterwegs-Workout zu komplettieren, braucht es dann eigentlich nur noch zwei Wasserflaschen als Kurzhanteln und eine Feinstrumpfhose als Gummibandersatz (falls Sie das alles verwirrend oder schwer vorstellbar finden, schreiben Sie mir gern, dann verrate ich Details). Und wenn ich dann noch ein bisschen Ausdauertraining machen möchte, spiele ich eine Runde Fuß- oder Wasserball mit meinen Kindern.

    Der Haken an dem Konzept ist allerdings auch schnell erklärt: Weil wir nur diesen einen Ball für alle dabeihaben, kommt es immer wieder vor, dass er gerade anderweitig belegt ist. Und nachdem mit ihm neulich auf einem Platz mitten in Genua ein deutsch-italienisches Nachwuchs-Fußballturnier ausgetragen worden war, musste ich ihn erstmal mit unter die Dusche nehmen. Sara Peschke

    Folge 2: Das Taschenmesser

    Ich wollte nie Superman sein. Ständig in irgendwelchen Telefonzellen die Klamotten wechseln, jessas! Zum Glück muss ich das in meinem Beruf nie. Aber wenn ich mein kleines Taschenmesser dabei habe, fühle ich mich immerhin ein bisschen, als hätte ich geheime Superkräfte. Es ist so ein Mini-Modell, hat gar nicht so viele Funktionen – aber mit ein paar Tricks auf Superman-Niveau. Ich weiß nicht mehr, wie lang ich es schon besitze, zehn Jahre, fünfzehn Jahre vielleicht. Da ist erstmal, ganz klassisch, die kleine Klinge, die reicht, um Obststücke zu schneiden. Eine Nagelfeile, an der ich vor allem das Schraubenzieher-Ende Gold wert finde, für Lampen, Batteriefächer, Regalbretter, alles, was so anfällt. Im Griff steckt eine herausnehmbare Pinzette – die schon oft Kinderhände von fiesen Splittern und Stacheln befreit hat. Und ab da gehts in die Superman-Liga: ebenfalls im Griff, ausfahrbar, eine winzige Kugelschreibermiene. Wenn man am anderen Ende die Feile ausklappt, hat man insgesamt einen erstaunlich griffigen Stift in der Hand. Wie oft der mich schon gerettet hat, wenn ich unterwegs was notieren musste! Schon bis hierhin würde ich sagen, Supermesser. Aber dann klappe ich noch den USB-Stick aus, 32 Gigabyte. Welche Unmengen von Daten dieser Stick schon transportiert hat! Unterlagen, Fotos, Recherchematerial, Musik, Filme, im Grunde alles, was sich irgendwie digital speichern lässt. Dank meinem Supermanmesser herrlich unabhängig von allen Clouds und WeTransfers und ihren Datenklau-Gefahren. Ich will nicht übertreiben, aber: Wenn ich mein Taschenmesser dabei habe, fühle ich mich für alles gewappnet. Ist es fürchterlich nerdig, sich über ein Multifunktions-Taschenmesser mit USB-Stick zu freuen? Absolut. Aber hey, es gibt sogar Nerds, die ziehen sich in Telefonzellen um und retten die Welt. Max Fellmann

    Folge 1: Die Macchinetta 

    Die Leute meinen ja, es braucht eine Siebträgermaschine für einen richtig guten Cappuccino, für einen Espresso natürlich erst recht, ohne goldbraune Crema geht es nicht. Was früher Cafés von Wohnküchen unterschied, war die Kaffeemaschine. Heute steht bei vielen Zuhause ebenfalls ein silber-metallic glänzendes Familienmitglied. Es geht nur damit, oder?

    Ich habe eine kleine Anekdote aus dem Land des guten Espresso: Italien. Ich kenne dort ein Café, da bekomme ich verlässlich einen richtig guten Cappuccino, die Milch ist cremig, das Verhältnis Milch zu Kaffee perfekt, der Kaffee nicht zu heiß, aber eben auch nicht lauwarm. In dem Café steht eine sehr große, sehr beeindruckende Siebträgermaschine, denn es werden dort jeden Tag sehr viele Kaffees getrunken, und der Mann, der den Kaffee dort macht, tut das seit 30 Jahren. Es kann aber passieren, dass er mal auf Toilette muss und sein Bruder den Kaffee macht, und dann kommt aus demselben Gerät, aus den gleichen Kaffeebohnen und aus der gleichen Milch eine fast ungenießbare Plörre heraus. Das erzähle ich, weil ein guter Cappuccino von vielen Faktoren abhängt, und eine Siebträgermaschine noch lange keine Garantie für einen guten Cappuccino ist.

    Das ist die Vorrede zu meiner Langzeitliebe: es ist eine Macchinetta. Eine kleine Espressomaschine, die aufgeschraubt wird, mit Kaffeepulver befüllt und dann auf der Herdplatte Kaffee kocht. Sie kostet 10 bis 30 Euro und wird mit den Jahren immer besser. Nämlich dann, wenn Sieb, Dichtungsgummi, und jede Stelle Edelstahl vom Kaffee durchdrungen wurde und längst selbst nach Kaffee riecht und schmeckt.

    Klar, auch meine kleine Espressomaschine kann zicken, dann habe ich sie vielleicht nicht fest genug zugeschraubt oder das Wasser war nicht ganz kalt oder sie hat einfach so einen schlechten Tag. Aber meistens schmeckt er so gut, dass ich innerlich kurz seufze vor Glück, die kleine Maschine anschaue und denke, Du hast mir den Tagesbeginn gerettet, you made my day, wieder einmal. Gabriela Herpell