Metallzäune, Panzerfahrzeuge, Hunderte Polizisten, bis an die Zähne
bewaffnet - wer in der letzten Septemberwoche des Jahres 2009 zum
Oktoberfest aufbricht, kommt leicht auf die Idee, sich im Datum geirrt zu
haben. Einen vergleichbaren Großeinsatz erlebt München sonst nur zur
alljährlichen Sicherheitskonferenz im Februar. Aber eine Bannmeile um die
Bierzelte, das gab es bisher nie. Die Wiesn 2009, ein Fest hinter Gittern:
drinnen ein Prosit der Gemütlichkeit, draußen Alarmstufe Rot. Und Tariq
Samir* ist draußen.
Der Informatikstudent sitzt am Morgen des 26. September zehn Kilometer
entfernt im Münchner Norden am Schreibtisch und lernt für seine
Diplomprüfung. Sein Blick schweift aus dem Fenster, zum Firmenparkplatz
gegenüber seiner Wohnung. An Wochenenden ist der sonst wie leer
gefegt, jetzt steht dort ein silbergrauer BMW. Eigentlich würde sich Samir nichts dabei denken. Aber da war dieser Mann vor drei Monaten in der Uni-Bibliothek, der ihn mit einer Handy-Kamera filmte. Als Samir ihn aufforderte, die Aufnahmen zu löschen, hat er sich umgedreht und ist auf die Straße gerannt, in ein Auto gesprungen und losgefahren, bei Rot über die Ampel. Wie im Film. Samir notierte sich das Kennzeichen und erstattete Anzeige bei der Polizei. Der Beamte sagte, das Kennzeichen sei im Computer gesperrt, und wunderte sich.
Samir liest regelmäßig Zeitung und kennt auch den Fall von Murat Kurnaz, der mit Wissen deutscher Behörden nach Guantanamo deportiert wurde. Irgendwie ahnt Samir, dass auch er selbst Muslim, Mann, 26 Jahre alt, geboren in Marokko, regelmäßiger Moscheebesucher im Krieg gegen den Terror verdächtig sein könnte.
Natürlich würde kein Vertreter des deutschen Staates auch nur andeuten, dass er einen Mann wie Samir nach Haut- und Haarfarbe oder gar nach seiner Religion beurteilt. Auch Wolf-Dieter Remmele nicht, Chef des
Verfassungsschutzes im bayerischen Innenministerium. Er beteuert, dass es den Nachrichtendiensten »nicht um den Islam als Religion, sondern um den Islamismus als politische Bestrebung gegen unsere Verfassung« gehe.
In Deutschland gebe es aber eine gewisse Zahl von Muslimen, die »unserer westlichen Ordnung und den im Grundgesetz vertretenen Werten ablehnend gegenüberstehen«. Es sei daher geboten, »diese Werte zu verteidigen«. Am Morgen des 26. September zeigt sich, dass diese Werte nicht mehr viel gelten, sobald die Sicherheitsbehörden einen potenziellen Feind ausgemacht haben. Und dass sich, wenn die allgemeine Stimmung nur genügend aufgeheizt ist, dieser Feind auch sehr schnell findet.
Als der BMW gegen zwölf Uhr immer noch nicht verschwunden ist, läuft Samir die Treppe hinunter, um sich den Wagen genauer anzuschauen. Zwei Männer sitzen darin, einer starrt ihn an, der andere wendet den Blick ab. Samir notiert das Kennzeichen und ruft mit dem Handy die Polizei an. Er hat das Telefonat kaum beendet, als der Beifahrer aus dem BMW steigt und zu Samirs Wohnblock läuft. Dann heult der Motor auf, und der BMW entschwindet Richtung Hauptstraße.
Samir ruft noch mal bei der Polizei an. Der BMW gehöre zur Polizei, beruhigt ihn der Beamte, aber »die sind nicht wegen Ihnen da«. Der Informatikstudent verständigt eine Anwältin, die er schon länger kennt. Gegen 16 Uhr erhält er eine SMS von ihr: »Sind die immer noch da?« Wieder verlässt Samir die Wohnung, um nach den Beobachtern zu schauen. Nun geht alles sehr schnell: Zwei VW-Busse bremsen neben ihm, Männer springen heraus. Samir sieht eine Nachbarin und schreit, sie solle die Polizei anrufen. Einer der Männer, er trägt eine Sonnenbrille, lacht nur: »Wir sind doch von der Polizei.« Samir wird in einen VW-Bus gedrängt und davongefahren.
In einer Einzelzelle auf dem Polizeipräsidium verbringt Samir, wie er später sagt, »die schlimmste Nacht meines Lebens«. Er versteht nicht, warum er hier ist. In den Nachbarzellen schreien die Betrunkenen; es ist Oktoberfest. Samir hat Angst. Angst hat ihn hierher gebracht. Nicht seine eigene, sondern die Angst eines ganzen Landes: Am nächsten Morgen erklärt ihm die Richterin, er werde verdächtigt, ein Attentat auf das Oktoberfest zu planen.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Die Sicherheitsbehörden treibt die Angst um, nicht alles getan zu haben, um einen Anschlag zu verhindern.)
Die meisten Menschen wissen, dass sie sich, statistisch betrachtet, der
größten Gefahr aussetzen, wenn sie ins Auto oder in die Badewanne steigen oder sich mit Grippe infizieren. Trotzdem geben 76 Prozent der Deutschen an, dass sie vor allem Angst haben, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Die Anschläge von New York, London und
Madrid haben sich tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben; islamistischer Terror ist seit Jahren ein medialer und politischer Dauerbrenner.
Die meisten Deutschen würden wohl den Satz unterschreiben, dass gegen den Terrorismus »irgendetwas« getan werden muss. Deshalb arbeiten Polizei und Verfassungsschutz schon Wochen vor dem festlichen Anstich an der Sicherung des Oktoberfestes. Mehrere Drohvideos im Internet haben die Behörden alarmiert. Der deutsche Islamist Bekkay Harrach
warnt vor einem Attentat innerhalb von zwei Wochen nach der Bundestagswahl, sollte auch die neue Regierung am Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan festhalten.
Außerdem erzählt Harrach von einem jungen Muslim, der ein
Selbstmordattentat mit einer Autobombe begeht, um sich auf diese Weise von seinen Sünden zu befreien. Auf einem anderen Video von einem
Islamistenm namens Ayyub ist im Hintergrund das Oktoberfest zu sehen. Ermittler haben die Videos als authentisch bewertet. Immerhin wurde Harrach von Aiman Al-Zawahiri, der Nummer zwei des Terrornetzwerkes Al-Qaida, als Sprecher der Organisation in Deutschland autorisiert. Deshalb bereiten sich die Sicherheitskräfte auf das Albtraumszenario vor, dass ein mit Sprengstoff beladener Lkw in das Oktoberfest rast. Das Festgelände wird großräumig abgesperrt.
Dabei bleiben viele Fragen offen: Warum sollten Terroristen, die einen
Anschlag planen, davor warnen? Weder die Attentäter des 11. September 2001 noch die sogenannte Sauerland-Gruppe stellten Botschaften ins Netz. Junge Muslime, mutmaßen die Behörden, könnten sich doch von den aktuellen Drohvideos zu einer spontanen Aktion ermuntert fühlen.
Aber wie spontan lässt sich ein mit Sprengstoff beladener Lkw ins Oktoberfest steuern? Wie muss man sich die »jungen Muslime« überhaupt vorstellen, die sich durch das Betrachten eines Videos in Massenmörder verwandeln? Und warum spricht ein Islamist, der zum Anschlag anstacheln will, seine Brüder nicht auf Arabisch an, sondern auf Deutsch - wo doch so viele Muslime diese Sprache nicht beherrschen, wie hiesige Politiker immer beklagen?
Doch Angst fragt nicht. Anders als Liebe macht Angst tatsächlich blind. Und die Sicherheitsbehörden treibt nicht nur die Angst vor einem Anschlag. Sie treibt auch die Angst, nicht alles unternommen zu haben, um ihn zu verhindern. Wer wollte das verantworten?
Vor diesem Dilemma steht auch die Ermittlungsrichterin, die am Wochenende von Samirs Verhaftung Bereitschaftsdienst hat. Sie ist Jugendstrafrichterin am Amtsgericht, in Sachen Terror hat sie keine Erfahrung. Stundenlang wird um den Beschluss gerungen, auf dessen Grundlage Samir bis zum Ende des Oktoberfests ins Gefängnis soll.
Die Polizei begründet Samirs Festnahme mit einem 13 Seiten starken Dossier. Unter dem Punkt »staatsschutzmäßige Erkenntnisse« heißt es, zwei enge Bekannte von Samir hätten sich mit Bekkay Harrach getroffen im Jahr 2003. Daher sei es wahrscheinlich, dass auch Samir den Islamisten Harrach kennt. Außerdem habe Samir zwischen Mai und Juli 2007 mit einem Mann verkehrt, der mit dem Anführer der Sauerland-Gruppe in Kontakt gewesen sei.
Die Richterin fragt die Polizei nach weiteren Belegen. Sie deutet an, dass
sie die Beweislage für dünn halte - so schildert jedenfalls Samirs Anwältin
später die Vorgänge im Richterzimmer. Die Polizei bleibt stur, obwohl auch
eine Durchsuchung von Samirs Wohnung nichts Verdächtiges liefert. Gegen 23 Uhr gibt die Richterin dem Drängen der Staatsschützer nach: Samir wird acht Tage eingesperrt, um »einen möglichen Anschlag sicher zu verhindern«.
(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Im "Krieg gegen den Terror" ist der Ausnahmezustand die Regel: Es könnte immer irgendetwas passieren)
Die Entscheidung stützt sich auf Artikel 17 des Polizeiaufgabengesetzes:
»Die Polizei kann eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn das unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung einer Straftat von erheblicher Bedeutung für die Allgemeinheit zu verhindern.« Dieser Passus ist vor allem für Demonstranten oder Fußballfans gedacht, die ihre Gewaltbereitschaft offen zur Schau tragen; zur Terrorbekämpfung wurde er bisher nie angewendet.
Der Münchner Polizeipräsident Wilhelm Schmidbauer räumt ein, dass er und seine Mitarbeiter vor einer schwierigen Aufgabe stehen: Man habe es nicht mit einem Täter zu tun, der ein Verbrechen begangen hat. Auch nicht mit einem, der ein Verbrechen ankündigt. Es gehe darum nachzuweisen, ob es genügend Indizien gibt, dass er ein Verbrechen plant. »Wir müssen also eine Prognose stellen«, sagt Schmidbauer und verhehlt dabei nicht, »dass Prognosen auch falsch sein können, keiner von uns ist ein Prophet, das sieht man ja fast jeden Tag am Wetterbericht. Aber wir haben unser Bestes getan.«
Seit dem 11. September 2001 liegt der Schwerpunkt polizeilicher Arbeit im
Bereich Terrorismus nicht mehr auf der Aufklärung begangener Delikte,
sondern auf deren Verhinderung. Angesichts der Attentate von New York,
London und Madrid erscheint dieses Vorgehen logisch. Aber nur auf den ersten Blick: Denn wer künftige Verbrechen verhüten will, ohne mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestattet zu sein, muss auch Menschen observieren, denen keinerlei Fehlverhalten vorzuwerfen ist.
Weil theoretisch jeder Mensch ein Attentat planen könnte, aber nicht jeder beschattet werden kann, muss der Kreis der Zielpersonen irgendwie eingegrenzt werden. Dabei richten sich die Ermittler nach Kriterien, die nach dem Gleichheitsprinzip gerade nicht zur Beurteilung von Menschen herangezogen werden sollen: Alter, Geschlecht, Religion, soziale Netzwerke. Der Präventionsstaat kollidiert also zwangsläufig mit dem Rechtsstaat, der verteidigt werden sollte.
Um ihren massiven Eingriff zu rechtfertigen, gibt sich die Polizei alle
Mühe, Samir als höchst gefährlich erscheinen zu lassen. Seine Freunde heißen in dem Observationsbericht »Kontakt- und Vertrauenspersonen«; sein Bekanntenkreis ist ein »Geflecht«. Dass er sich in der Moschee mehrmals mit einem Bekannten unterhielt und beide das Gebäude »jeweils getrennt voneinander« verließen, wird als verdächtig eingestuft; ebenso wie der Umstand, dass Samir sich von der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden belästigt fühlte. »Der Betroffene zeigte sich äußerst misstrauisch« und »versuchte, seine Verfolger abzuschütteln«. Weil Samir sich nicht in aller Ruhe von Unbekannten fotografieren und verfolgen ließ, schließen die Ermittler daraus, dass er »Freiraum für Aktivitäten gewinnen« wollte.
Die Tatsache, dass Samir vor seiner Festnahme zweimal bei der Polizei
anrief, um Hilfe gegen seine Verfolger zu erbitten, fehlt in dem Bericht.
Aus gutem Grund: Der besagte Artikel 17 greift nur, wenn die Behörden
nachweisen, dass die Zielperson eine schwere Straftat begehen wird und nur durch Inhaftierung davon abzuhalten ist. Aber ruft ein Attentäter allen
Ernstes kurz vor dem Anschlag zweimal bei der Polizei an? Das muss selbst eine in Terrorangelegenheiten unerfahrene Ermittlungsrichterin misstrauisch machen.
Doch auch die Richterin hat sich das präventive Prognose-Denken zu eigen gemacht: In ihrem Beschluss wiederholt sie, was die Polizei zu Samirs angeblichen Kontakten zur Islamisten-Szene vorgebracht hat. Und schreibt: »Weitere Kontakte können nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden.« Mit diesem Argument könnte man gleich alle achtzig Millionen Bundesbürger wegsperren. Schließlich ist es immer möglich, dass irgendjemand ein Attentat plant.
Jedenfalls kann es nicht belegt, aber auch nicht widerlegt werden. Nach acht Tagen in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim wird Samir in der Nacht zum Montag, 5. Oktober, auf freien Fuß gesetzt. Er hat acht Kilo abgenommen und trägt seinen Gürtel um zwei Löcher enger. Als er um halb drei Uhr früh seine Wohnung aufschließt, sieht er sich einem Schlachtfeld gegenüber: Überall liegt Papier verstreut, darunter auch seine Zeugnisse.
Der Mülleimer wurde auf dem Boden ausgeleert, die Ermittler haben ganze Arbeit geleistet. Samir findet keinen Schlaf und beginnt, die Wohnung aufzuräumen. Was er nicht beseitigen kann, ist das ungute Gefühl, dass die Polizei vielleicht ein paar Abhörwanzen hinterlassen hat. Polizeipräsident Schmidbauer und Verfassungsschützer Remmele verbuchen den Einsatz rückblickend als Erfolg - das Oktoberfest sei ja ohne Zwischenfälle verlaufen.
Trotzdem verkündet der bayerische Innenminister Joachim Herrmann am Tag nach dem Oktoberfest, dass die Alarmstufe Rot keineswegs beendet ist: Al-Qaida habe sich mit der Ankündigung, in den zwei Wochen nach der Bundestagswahl zuzuschlagen, selbst in Zugzwang gesetzt. Als auch die Zweiwochenfrist verstreicht, werden in den Zeitungen Sicherheitskreise mit der Aussage zitiert, die Gefahrenlage bestehe unvermindert fort. Worauf sich die Prognose stützt - die Öffentlichkeit wird es nie erfahren. Denn jenseits der nebulösen Einschätzungen von »Terrorexperten« und anderen Fachleuten verweigern die Sicherheitskräfte jegliche Erklärung angeblich aus Geheimschutz- oder polizeitaktischen Gründen.
Die Bevölkerung reagiert mit einer gewissen Abstumpfung: Irgendetwas werde an all den Prognosen schon dran sein. Solange es nur eine Minderheit betrifft, in diesem Fall die Muslime, bleibt der allgemeine Aufschrei jedenfalls aus. Darf sich die schweigende Mehrheit wirklich so sicher fühlen? Besonders stutzig am Fall Samir macht die Begründung der Richterin, warum sie den Informatikstudenten für so gefährlich hält: Aufgrund der Islamistenvideos im Internet sei von einer »aktuell gesteigerten Gefährdungslage« auszugehen.
»Das Ausmaß eines terroristischen Anschlags hätte erhebliche Auswirkungen für die Allgemeinheit.« Schließlich heißt es in dem Beschluss: »An die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist.« Auf den Präventivstaat angewendet bedeutet dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ist das Szenario für einen Anschlag nur verheerend genug, haben die Sicherheitsbehörden weitgehend freie Hand.
Wie wahrscheinlich das Szenario ist - unwichtig. Es reicht, dass es möglich
erscheint. Und möglich erscheint vieles nach dem 11. September. Das heißt aber auch: Niemand, egal wie gesetzestreu er sich verhält, kann mehr sicher sein, nicht doch in die Mühlen des Sicherheitsapparats zu geraten.
Nach seiner Freilassung hat Samir wieder begonnen, für sein Diplom zu lernen. Eine Prüfung muss er im Frühjahr nachholen sie fand genau in der Woche statt, als er in Haft saß. Das wäre zu verkraften. Dass ihn weiter Polizeibeamte verfolgen, auch damit kann er leben. Nicht jedoch mit dem Terrorverdacht, der auf ihm lastet: Zwar läuft das Beschwerdeverfahren gegen seine Inhaftierung. Aber selbst wenn das Landgericht zu seinen Gunsten entscheiden sollte, wird ihm das nicht viel nützen, ahnt Samir.
Sein richtiger Name kursiert im Internet. Nach dem Studium wollte er ursprünglich in Deutschland arbeiten. Doch welche Firma will einen Bewerber, den eine einfache Google-Suche als »terrorverdächtig« ausweist? Selbst unter seinen Bekannten »fragt doch jeder, warum die gerade gegen mich ermittelt haben. Viele sagen: Die Polizei ermittelt doch nicht einfach so, das wird schon seinen Grund gehabt haben.« Seine Existenz ist hier zerstört, vermutlich wird er nach Marokko zurückgehen. »Dann haben die Behörden ihr Ziel erreicht«, lautet sein bitteres Fazit.
Aber wiegt die Sicherheit von Tausenden nicht schwerer als das Schicksal
eines Einzelnen? Fordert nicht jeder Krieg seine Kollateralschäden? Auch
diese Überlegung führt in die Irre. Frühere Kriege waren zeitlich begrenzt,
im sogenannten Krieg gegen den Terror ist der Ausnahmezustand die Regel: Es könnte immer irgendetwas passieren. Ein paar Internet-Videos haben gereicht, dass unsere Gesellschaft aus dem Ruder lief. Wer garantiert, dass sich das nicht wiederholt, auf dem Weihnachtsmarkt, im Fußballstadion, beim Karneval? Benjamin Franklin, einer der Gründer der USA, mahnte schon vor mehr als 200 Jahren: »Wer die grundlegenden Freiheiten aufgibt, um vorübergehend etwas mehr Sicherheit zu erkaufen, hat weder Freiheit noch Sicherheit verdient.« Auch kein Prosit der Gemütlichkeit, würde er heute wohl ergänzen.
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Juli Zeh und Rainer Stadler beschäftigt seit Jahren die Frage, wie weit der Staat die Grundrechte seiner Bürger einschränken darf. Die Schriftstellerin und Juristin Zeh hat dazu zwei Bücher veröffentlicht. Angriff auf die Freiheit (zusammen mit Ilija Trojanow) und den Roman Corpus Delicti. Zum selben Thema ist derzeit ihr Stück Der Kaktus am Münchner Volkstheater zu sehen. Stadler studierte vor zwanzig Jahren Informatik; der hier geschilderte Fall erinnerte ihn fatal an seine Datenschutz-Vorlesung: Was, wenn ein Staat, der alles sieht und alles weiß, seine Macht missbraucht?, lautet eine zentrale Frage. Damals war das noch Theorie.