Ich dachte, ich kenne das Gefühl von Einsamkeit

Im Supermarkt trifft unsere Autorin eine alte Dame und trägt ihr die Einkäufe nach Hause. Als sie gerade wieder gehen will, nimmt die Begegnung eine erschütternde Wendung.

Den ganze Tag alleine, und alles wird immer schwieriger – Einsamkeit im Alter kann zum Verzweifeln sein.

Foto: Druvo/istockphoto.com

Edeka am Kollwitzplatz. Am Ausgang steht eine alte Frau nach vorne gebeugt, eine Krücke in der einen und eine Einkaufstüte in der anderen Hand. Ein Mitarbeiter ist bei ihr, sagt: »Ich kann sie nicht begleiten, aber vielleicht finden Sie ja jemanden, der Ihnen hilft.«

Ich drehe mich um: »Wo müssen Sie denn hin?«
»In die Knaackstraße. Wissen Sie, ich dachte, heute würde es gehen, aber dann ist es mir reingefahren.«
»Ich trag Ihre Tüte und bring Sie schnell. Soll ich Sie stützen?«
»Danke, es geht.«

Wir laufen los. Nicht schnell, nein, sehr langsam, Schritt für Schritt.
Sie erzählt mir von ihrer Krankheit, dass man sie in ihrem Alter nicht mehr operieren wollte. Dass sie damit jetzt leben müsse.
»Wie alt sind Sie?«
»92.«

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Sie erzählt von ihrer Tochter, die ja selber krank ist, weil sie sich im Altenheim kaputtgearbeitet hat. Von ihrem Rollator, den sie normalerweise dabei hat, den sie aber heute zu Hause gelassen hat, weil sie mit dem Taxi zum Arzt gefahren ist.
»Kann man den nicht zusammenklappen?«
»Doch, doch, das geht, aber das wollte ich dem Taxifahrer nicht zumuten.«
»Hm, vielleicht muss man den Menschen manchmal einfach mehr zumuten.«
»Ja, das sagt meine Ärztin auch immer.«

Was für eine schöne Frau sie mal gewesen sein muss: ihre feine Nase, ihre vollen Lippen, ihre Augen

Wir laufen weiter, langsam, sie erzählt mir von der DDR, von dem Essen und der Kleidung, die sie sehr wohl hatten, auch wenn immer etwas anderes behauptet wurde.
»Wie lange leben Sie schon hier?«
»Seit 40 Jahren. Ich bin geboren in Berlin, dann wurden wir evakuiert. Da war ich elf. Wissen Sie, was eine Evakuierung ist?«
Ich sage »Ja«, obwohl ich weiß, dass sie mich nicht nach der Definition, sondern nach der Bedeutung gefragt hat.
»Ich habe geheiratet und Kinder bekommen, aber wollte immer zurück nach Hause, nach Berlin.«

Wir laufen an einem Restaurant vorbei, vor dem ein Mann versucht, Würstchen zu verkaufen.
»Mir tun die alle leid, haben sich in Schulden gestürzt und jetzt das. Mir tun auch die alleinerziehenden Mütter leid und die, die Hartz IV bekommen. Noch nie gab es so viel Armut in Deutschland«, sagt die Frau, die den Krieg und all seine Folgen erlebt hat.
»Laufe ich zu schnell?«
»Nein, nein. Da vorne, nur noch drei Häuser, dann sind wir da.«

Als wir vor ihrer Haustür stehen, holt sie ihren Schlüssel aus der Tasche und fängt an, das Schlüsselloch zu ertasten. Ich mache mein Handylicht an. Sie seufzt.
»Kommen Sie mit hoch? Ich wohne nur im ersten Stock.«
»Ja, natürlich!«

Dann nimmt sie eine Stufe nach der anderen, zieht sich am Geländer hoch, bleibt am Briefkasten stehen, holt die Briefe raus, murmelt: »Krankenkasse, Krankenkasse, Krankenkasse«, fragt: »Und Sie? Studieren Sie?«
Ich lächele.
»Nein, schon lange nicht mehr.«

In der Wohnung zieht sie ihre Mütze ab. Ich denke, was für eine schöne Frau sie mal gewesen sein muss: ihre feine Nase, ihre vollen Lippen, ihre Augen. Sie fasst sich in die Haare, sagt: »Die fallen mir alle aus. Das kommt von den Tabletten.«
»Rizinusöl, das hilft.«
»Ja, und wissen Sie, was noch? Urin. Einfach pullern und druff.«

Ich lächele, sie auch und fasst sich wieder in die Haare.
»Wissen Sie, die Schmerzen sieht man nicht, aber die Haare. Das ist wirklich schlimm für mich.«
»Sie sehen sehr schön aus.«
»Ach … Sie! Sie werden lange schön aussehen. Sie haben schöne Haut und bestimmt gute Gene.«
»Haben mir meine Eltern geschenkt.«
»Was kann ich Ihnen geben? Einen Apfel? Oder wollen Sie einen Kaffee?«
»Nein, danke. Ich muss leider los. Ich schreib Ihnen meine Nummer auf, falls Sie mal Hilfe brauchen.«
»Ja, und ich geb Ihnen meine. Und wenn ich nicht sofort dran gehe, ich hab ja einen Anrufbeantworter.«

Als ich zur Tür gehe, sagt sie: »Wissen Sie, irgendwann werde ich nicht mal mehr ins Bad laufen können.« Dann setzt sie sich auf einen Stuhl, der im Flur steht, und fängt an zu weinen. »Was hab ich nur verbrochen?«
Ich schaue sie an. Nicht auch noch weinen!
»Nichts. Das Leben ist oft unfair«, antworte ich und versuche, aufrecht zu bleiben.
»Ich bin hier den ganzen Tag alleine, und dann fall ich auch noch meiner Tochter zur Last, die selber krank ist. Schauen Sie mich an, wie asozial ich aussehe.«
»Das tun Sie nicht.«
»Meine Haare.«
»Ich sehe nur Ihre Augen.«

Wir schauen einander an.
»Rufen Sie an, wenn Sie ihre Tochter nicht fragen wollen, ja? Ich wohne ja um die Ecke.«
»Ja. Das mach ich.«
Dann gehe ich die Treppen runter. Stufe für Stufe, ohne Krücke, ohne Geländer, und fühle mich, als würde ich sie im Stich lassen.
Ich dachte immer, ich kenne das Gefühl von Einsamkeit. Aber in Wirklichkeit habe ich keine Ahnung.