In kleinem Rahmen sind am Mittwoch zwei Israelis vom Münchner NS-Dokumentationszentrum ausgeezeichnet worden: Ari Folman, Regisseur und Autor, und David Polonsky, Zeichner und Illustrator. Zusammen haben sie vor zwei Jahren »Das Tagebuch der Anne Frank«, eines der wichtigsten Dokumente über den Holocaust, als Graphic Novel umgesetzt. Wir haben die beiden in München zum Gespräch getroffen.
SZ-Magazin: Herr Folman, Sie sollen Ihrer Mutter einmal verboten haben, Ihrem Sohn von Auschwitz zu erzählen. Warum?
Ari Folman: Stimmt. Das war der einzige Streit, den ich mit ihr seit meiner Pubertät hatte. Sie kam am Shoah-Tag, dem 1. Mai, mein Sohn war gerade mal sieben, als sie begann, ihre üblichen Geschichten zu erzählen, die ich kenne, seit ich sieben bin. Unfassbare Geschichten, ich stoppte sie, sie beschimpfte mich, ich sagte ihr, es läge nun in meiner Verantwortung, den Kindern die Vergangenheit nahezubringen und sie seien dafür noch zu jung. Wenn er älter wäre, dürfe sie das tun. Sie war nicht einverstanden, aber konnte es schließlich akzeptieren. Jetzt ist mein Sohn 16, meine Mutter 96. Und sie erzählt ihm die Geschichten, die sie schon uns unendlich oft erzählt hat. Mein Vater redete nicht über Auschwitz, bis wir Polen das erste Mal nach dem Mauerfall 1989 besucht haben. Erst dann begann er zu reden, da war er schon Ende sechzig. Er starb vor 15 Jahren, und ich habe sicherlich nach seinem Tod viel mehr über seine Vergangenheit erfahren als zu seinen Lebzeiten. Er hat mehr gelitten als meine Mutter.
Reden heilt?
Folman: Ich weiß es nicht. Jeder hat seine eigene Methode. Meiner Mutter half das Reden offenbar.
Haben Ihre Eltern Anne Franks Familie in Auschwitz kennen gelernt?
Folman: Nein. Sie kamen wahrscheinlich am gleichen Tag an, das habe ich bei den Recherchen für unser Buch herausgefunden, aber meine Eltern kamen aus Polen, die Franks aus den Niederlanden, Polen, Tschechen, Holländer, Ungarn wurden alle in unterschiedliche Baracken gesteckt.
Was hat Ihre Mutter dazu gesagt, als Sie ihr von Ihrem Vorhaben erzählten, aus den Tagebüchern von Anne Frank eine Graphic Novel zu machen?
Folman: Sie liebte die Idee von Beginn an, aber sie ist kein seriöser Maßstab. Als es mir gelang, die Schnürsenkel selbst zu binden, sprach sie davon, was für ein Genie ich sei. Sie hat mich so gut wie nie kritisiert. Aber ich habe ja mal einen Film über den letzten Naziverbrecher gedreht, der wegen des Lösegelds von Gangstern gejagt wird. Das war im Jahr 2000 ein sehr radikaler Film, und ich machte schon damals die Erfahrung, dass Überlebende sehr viel toleranter sind, als diejenigen, die vorgeben, die Überlebenden schützen zu wollen. Auch Benini erging es so mit seinem Film Das Leben ist schön. Als der Film herauskam und eine Debatte darum entstand, ob ein Film über Auschwitz einen zum Lachen bringen dürfe, haben die Überlebenden den Film viel schneller toleriert. Heute spricht man von einem Meisterwerk.
Wurden Sie für Ihre Graphic Novel über die Tagebücher der Anne Frank in Israel kritisiert?
Folman: Ich glaube nicht.
David Polonsky: Das Medium ist heutzutage nicht mehr problematisch, es ist die Frage, was man aus dem Stoff macht.
Folman: Wir haben uns viel Freiheit genommen, und viel Freiheit von der Stiftung bekommen. David wurde irgendwann nervös, als wir ihnen die ersten Seiten zur Ansicht geschickt hatten und sie lange nicht antworteten.
Polonsky: Ein Jahr haben sie sich damit Zeit gelassen. Ich dachte schon, wir hätten die falsche Email-Adresse.
Folman: Dann hieß es nur: alles gut, weiter so.
Polonsky: Die Arbeit war ein großer Spaß, auch wenn sich das merkwürdig anhören mag, denn der Stoff war ja furchtbar, aber Anne Frank schrieb eine großartige Vorlage und war ein sehr schlaues Mädchen, das genaue Beobachtungen gemacht hat, die einfach nachzuzeichnen waren. Die Arbeit damit war also sehr befriedigend. Nur am Ende hat es mir das Herz zerrissen, als sie beschreibt, wie sie sich ihre eigene Zukunft als erwachsene unabhängige Frau ausmalt. Ich musste sie also so zeichnen, wie sie wohl ausgesehen haben könnte, wenn sie denn überlebt hätte. Dabei dachte ich unweigerlich an meine Tochter, das hat mich sehr erschüttert.
Wie haben Sie an der Graphic Novel gearbeitet? Seite an Seite?
Folman: Nein, wir haben da einen unterschiedlichen Stil in der Herangehensweise.
Polonsky: Wir arbeiten 15 Jahre zusammen.
Folman: Wir haben eine gute Verbindung, aber es ist nicht so, wie man sich das vorstellt. Er saß in seinem Studio in Tel Aviv und ich in meinem Stranddorf zwischen Haifa und Tel Aviv.
Polonsky: Einmal im Monat haben wir uns getroffen.
Folman: Ich habe ja aus jeweils 30 Seiten Tagebuch 10 Seiten Dialog gemacht, ohne zu wissen, wie man zeichnet.
Polonsky: Wir trafen uns bei mir um die Ecke in einem viel zu teuren Cafe.
Folman: Wir brauchten da immer etwa zwei Stunden, um zehn Seiten durchzusprechen. Natürlich hielten wir auch zwischendurch ständig Kontakt. Unsere Beziehung hat folgendermaßen ausgesehen: Ich übertreibe maßlos, und er ist verantwortungsvoll und zügelt mich. Aber seit seine Tochter vor sechs Jahren geboren wurde, hat er sich sehr verändert, er ist kein Vaterersatz mehr für mich. Nur deswegen konnte das Buch so wild werden.
Polonsky: Stimmt nicht, ich halte dich doch gar nicht zurück. Es ist eher so: Dort wo er übertreibt, bin ich mit den Zeichnungen oft zurückhaltend, das macht die Sache interessant.
Folman: Wir streiten recht wenig.
Polonsky: Jeder gibt seinen Teil dazu, ohne dass wir versuchen, mit einer vereinheitlichten Stimme zu sprechen. Dem Text von Anne Frank kann man ohnehin nicht schaden, wenn man ehrlich mit ihm umgeht.
Die Graphic Novel ist vor zwei Jahren erschienen. Sie wollen jetzt aus den Tagebüchern auch noch einen dokumentarischen Zeichentrickfilm machen.
Folman: Die Idee zu einem Film verfolge ich bereits seit 2013, schon lange vor dem Graphic Novel. David hat bei der Entwicklung des Filmstoffs mitgeholfen, ist aber irgendwann ausgestiegen, ich konnte das Geld lange nicht auftreiben. Als die Arbeit stockte, machten wir in der Zwischenzeit den Graphic Novel. Der Erfolg damit hat mir wiederum geholfen, Geld für den Film aufzutreiben. Nächstes Jahr werden wir fertig, in 14 Monaten sollte es soweit sein. Mein Hauptproblem lag darin, die Finanziers davon zu überzeugen, dass unser Projekt kommerziell erfolgreich werden könnte. Das glaubte mir lange niemand.
Wieviele Bücher haben Sie mittlerweile weltweit verkauft?
Folman: Um die 700 000.
Haben Sie beim Schreiben an Ihre Kinder gedacht?
Folman: Natürlich. Meine Kinder lesen überhaupt nicht. Außer vielleicht die Anleitung für Computerspiele. Davids Tochter ist gebildeter, vielleicht liest sie. Ich habe mich damit abgefunden, dass meine Kinder keine Romane lesen. Sie sind ja dennoch sehr gut in der Schule. Der Zugang zu Wissen funktioniert für diese Generation anders. Mein Sohn las nicht mal mein Buch. Erst als wir beim israelischen Präsidenten eingeladen waren, las er es auf der Fahrt nach Jerusalem. Warum jetzt so plötzlich? fragte ich ihn. Er hatte Angst, vom Präsidenten nach seiner Lieblingsstelle gefragt zu werden, und keine Antwort parat zu haben.
Polonsky: Unsere Arbeit hatte endlich mal einen Sinn. Es ging nicht mehr nur um Unterhaltung, sondern wir haben wirklich etwas Sinnvolles getan, indem wir die Gedanken dieser großartigen, ikonischen Frau der Jugend nähergebracht haben.
Lässt sich grundsätzlich alles in einem Comic erzählen?
Polonsky: Ja, ist doch schon passiert. Das Medium ist, so weit wir wissen, 200 Jahre alt. Ernste Dinge sind zum ersten Mal vor fünfzig Jahren in der Graphic Novel erzählt worden, den ersten Bestseller über den Holocaust hat Art Spiegelman herausgebracht. Seitdem ist jeder Mord, Vergewaltigung, Missbrauch schon im Comic erzählt worden. Gibt es irgendetwas, das man nicht im Film erzählen könnte? Nein, auch nicht.
Folman: Wenn man einen Film schaut, ist man völlig passiv. Fürs Lesen braucht man Vorstellungskraft. Bei der Graphic Novel gibt es auch immer eine Lücke zwischen Bild und Text. Die muss der Leser füllen.
Waren Sie beide bei der Armee?
Polonsky: Ja. Allerdings war mein Wehrdienst nicht so schlimm wie Aris. Ich saß meine drei Jahre im Bunker beim Nachrichtendienst ab.
Folman: Wir sind sogar auf dieselbe Schule gegangen, nur zehn Jahre auseinander.
Sind Sie beide nach der Armee auf Weltreise gegangen?
Folman: Nein, nur ich. Das war mein Jugendtraum. Aber es war furchtbar, ich hasste das Reisen. Weil es mir zu peinlich gewesen wäre, früher nach Hause zu zurückzukehren, hing ich in irgendwelchen Gästehäusern in Burma und Thailand ab, habe gekifft und geschrieben.
Was haben Sie geschrieben?
Folman: So eine Art erfundener Reiseberichte in Briefform. Ich habe andere Rucksackreisende befragt und ihre Abenteuer als meine ausgegeben.
Waren es gute Erfindungen?
Folman: Ich war wohl etwas obsessiv beim Schreiben. Vor zwei Jahren habe ich meine damalige Freundin wiedergetroffen. Ihr hatte ich damals 300 Briefe geschrieben, die hat sie mir mitgebracht und geliehen. Lesen sich etwas unreif, aber ziemlich witzig. Ich bewege mich heute noch immer an der Grenze zwischen Realität und Fiktion, beides lässt sich nicht immer scharf voneinander trennen.
Haben Sie noch Albträume?
Folman: In jüngster Zeit hatte ich welche, als es mir so schwer fiel, eine Filmfinanzierung zu finden. Die Produktion ist schwieriger ausgefallen, als gedacht. Aber Sie sprechen wahrscheinlich die Alpträume aus meiner Zeit bei der Armee an. Nein, ich schlafe heute recht gut.
Sie haben einen Film über Ihren Wehrdienst gedreht. Waltz with Bashir war ein dokumentarischer Zeichentrickfilm, der sogar für den Oscar nominiert wurde. Hat Ihnen der Film persönlich geholfen?
Folman: Der Film war die perfekte Therapie für mich, ja. Vor dem Film hatte ich keine Verbindung zu mir und meiner Vergangenheit. Der Film hat mich zu mir selbst finden lassen. In gewisser Weise wurde ich wiedergeboren. Einer der Gründe, warum ich den Film überhaupt gedreht habe, war, dass ich im Alter von vierzig eine frühere Entlassung aus dem Reservedienst der Armee beantragt hatte. Ich ging zum Irrenarzt der Armee, der fand mich völlig normal, gab mir aber den Rat mit, nie in meiner Vergangenheit zu wühlen. Und da fragte ich mich natürlich: Was wissen die von mir, was ich nicht selbst weiß? Die saßen also vor mir, blickten in meine Akte und sagten: Schau niemals zurück in deine Vergangenheit. Natürlich hat mich das neugierig gemacht und ich konnte nicht gar nicht umhin Fragen zu stellen.
Haben Sie die Erinnerungslücken während Ihres traumatischen Einsatzes im Libanon schließen können?
Folman: Ich bemühe mich heute gar nicht mehr darum, sie zu schließen.
»Anne Frank’s Diary: The Graphic Adaptation« von Ari Folman und David Polonsky hat den Preis des NS-Dokumentationszentrums München erhalten, der 2019 zum ersten Mal verliehen wird. Das Buch ist 2017 bei S.Fischer erschienen.