Der kranke Koloss

Spitzenmedizin und kaputte Dächer: Bald wird die Berliner Charité 300 Jahre alt. Ein Besuch im größten Krankenhaus Deutschlands.

Auf der Matratze im Ausnüchterungsraum schnarcht einer, der es nach Hause nicht mehr geschafft hätte. Zwei Engländer, auch schon gut betankt, dröhnen herein; der eine kühlt seine Schreibhand in einer mit Eiswürfeln gefüllten Plastiktüte, der andere füllt das Aufnahmeformular aus – wie heißt du eigentlich mit Nachnamen? In der Chest Pain Unit hofft ein türkischer Mann, dass sein zweites EKG um 4 Uhr 20 genauso beruhigend ausfällt wie das erste. Und in der 17 wartet immer noch Frau Maschke. Vor anderthalb Stunden ist sie von zwei Rettungsfahrern auf einem Rollstuhl hereingeschoben worden, Jahrgang 1918, verwirrt im Treppenhaus aufgefunden. Jetzt sitzt sie da in ihrem akkurat gebügelten Nachthemd unter einem knitterfreien Trenchcoat und weiß weder, welcher Wochentag, noch, was ihr widerfahren ist. Am Tag zuvor, findet sich im Computer, ist sie aus einem anderen Berliner Krankenhaus entlassen worden; nun telefoniert jemand dem Arztbrief hinterher, was sich schwierig gestaltet, weil die Nachtschwester am anderen Ende der Leitung nur löchrig Deutsch versteht. Es ist eine recht ruhige Nacht in der Rettungsstelle der Charité in Berlin-Mitte. Keine blutigen Unfälle, nichts, was nach Emergency Room aussieht. Bloß die üblichen Schmerzen und Gebrechen, die man nicht bis zum nächsten Morgen ertragen kann, lauter Routinefälle: Eine Frau fühlt sich elend, vielleicht ist es bloß Fieber, vielleicht aber auch eine Gehirnhautentzündung; ein Mann hat unklare Brustschmerzen und vor allem Angst; ein anderer ist gestürzt und hat sich nähen lassen. Jeder wird freundlich in Empfang genommen, angehört, zum Röntgen geschickt, auf die Ergebnisse der Blutprobe vertröstet, geduldige und ein wenig müde Medizinerroutine unter einem Licht, in dem jeder viel zu fahl aussieht.

Irgendwann gegen halb vier Zeit für eine Viertelstunde Kaffeepause in der Küche am Flur, bis aus der 17 Frau Maschke »Schwester, Schwester« ruft, es ist nichts, nur das Warten wird ihr zu lang. Und während man dem Kommen und Gehen zusieht, beginnt man zu ahnen, dass dieses Krankenhaus so etwas ist wie ein rettendes Ufer, an das die Stadt Berlin kleine Boote spült, die auf der offenen See des Lebens ihren Kurs verloren haben.

Über der Rettungsstelle reckt sich zwanzig Stockwerke der Bettenbau der Charité hoch, ein mächtiger Turm, in dem auch diese Nacht viel gelitten wird. Als es die Mauer noch gab, konnte man ihn auch im Westen sehen – wie aus manchen seiner Krankenzimmer das unerreichbare Westberlin. Nun, zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer, müsste der Bettenbau selbst ins Krankenhaus, damit ein paar seiner Verschleißerscheinungen behoben werden. Vor einigen Monaten drang durch ein Leck im Dach so viel Wasser, dass es in einem Elektronikraum zu einer Explosion kam. Danach fiel in einigen Stockwerken die Elektrizität aus, und obwohl das Notstromaggregat klaglos einsprang, war das wieder einmal einer der Momente, in denen der Charité-Direktor Karl Max Einhäupl nicht weiß, ob Verzweiflung oder Wut das angemessenere Gefühl ist. Erst neulich, erzählt er, sei er im zur Charité gehörenden (und in Westberlin gelegenen) Virchow-Klinikum an ein paar Eimern vorbeigekommen, in denen Regenwasser aufgefangen wird. Und weil er, wie jeder Arzt, weiß, dass Krankheiten umso gefährlicher werden, je länger man notwendige Operationen aufschiebt, hat Einhäupl Mitte Oktober nachdrücklicher als sonst Alarm geschlagen: Die Charité müsse endlich Investitionssicherheit für die dringend benötigten Sanierungsarbeiten und neue Medizintechnik bekommen; andernfalls sollte man besser über ihre Schließung nachdenken. Dass es so weit nicht kommen wird, weiß auch der 62-Jährige. Aber er praktiziert in einer Stadt, die sich so sehr an ihren schlechten Allgemeinzustand gewöhnt hat, dass man sie manchmal mit dem Tod erschrecken muss, damit sie nicht ewig nur weitermacht.

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Ein paar Tage später stand Einhäupl bester Laune bei der Eröffnungszeremonie des World Health Summit auf der Bühne und plauderte via Satellitenschaltung mit Frank De Winne, dem aktuellen Kommandeur der Internationalen Raumstation. Dort oben, 350 Kilometer über der Erde, werden Geräte erprobt, die Charité-Forscher entwickelt haben – das ThermoLab zum Beispiel, mit dem sich Körperkerntemperatur messen und übermitteln lässt, ohne dass Sonden in den Körper eindringen müssen. So etwas, gibt der ISS-Astronaut durch, kann man sicher gebrauchen, falls irgendwann Menschen auf den Mars geschickt werden – aber auch zur Überwachung bei Feuerwehreinsätzen oder von Säuglingen im Brutkasten.

Mit solchen Experimenten will Einhäupl an glorreiche Traditionen anknüpfen: Vom preußischen König Friedrich I. im Frühjahr 1710 als Pesthaus gegründet, das dann doch nicht gebraucht wurde, weil die Pest nur bis nach Prenzlau kam, ist die Charité 300 Jahre lang nicht nur ein Hospital für die Kranken der Stadt gewesen, sondern auch ein Leuchtturm des medizinischen Fortschritts. Hier entwickelte Rudolf Virchow seine Zellularpathologie, entdeckte Robert Koch die Erreger von Milzbrand, Tuberkulose und Cholera, hier wirkten legendäre Ärzte wie Albrecht von Graefe oder Paul Ehrlich. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts war die Charité eine der berühmtesten Universitätskliniken der Welt, ein Ort, an dem Forscherdrang nicht nur von Wissensdurst angetrieben wurde, sondern auch von dem Traum, die Leiden der Menschheit zu lindern – auch die der Armen in ihren unhygienischen Elendsquartieren.

Doch dann wurde auch sie gepackt von den Fieberschüben der deutschen Geschichte. Unter den Nazis wurden jüdische und unbotmäßige Mediziner verstoßen, bis sich keiner mehr den Ausmerzungsprogrammen der Rassenhygiene widersetzte, am Ende des Krieges lag die Charité auf dem Weg zu Hitlers letztem Bunker und wurde heftig bombardiert. Ohnehin fühlt man sich über den Annalen der Charité immer wieder wie ein Pathologe, der der deutschen Geschichte Gewebeproben entnimmt. In den Leichenbüchern der Obduzenten sind Rosa Luxemburg, Walter Rathenau, Horst Wessel, jüdische Selbstmörder und die hingerichteten Widerstandskämpfer des 20. Juli verzeichnet, hier wurden Republikflüchtlinge zusammengeflickt, nachdem sie von Ostberliner Grenzsoldaten angeschossen worden waren, hier wurde Erich Honecker untersucht, ehe er zum Sterben ins chilenische Exil durfte.

Seit der Wiedervereinigung und nach mehreren Klinikfusionen ist die Charité mit ihren vier Standorten zum größten Universitätskrankenhaus Europas geworden. Die Kennzahlen sind beeindruckend: insgesamt 107 Kliniken und Institute; 6750 Operationen monatlich; 700 Transplantationen, 130 200 stationäre und 497 000 ambulante Fälle pro Jahr; 2640 Wissenschaftler und Ärzte, 3630 Schwestern und Pfleger, 7300 Studenten; 1,1 Milliarden Euro Jahresumsatz. Nun sollte die Charité wieder eine große Zukunft bekommen, meint ihr Direktor, und seinen Visionen kann man sich kaum entziehen: Aberhunderte Wissenschaftler aus aller Welt, die Besten ihrer Zunft, erforschen medizinisches Neuland, tragen dazu bei, dass irgendwann etwa Krebs und Demenzkrankheiten geheilt werden können, und sorgen nebenbei dafür, dass Arbeitsplätze entstehen und sich gut ausgebildete und zukunftshungrige junge Menschen in der Stadt ansiedeln (aus der die Talentiertesten jetzt noch allzu oft weggehen müssen, weil es für sie zu wenige Jobs gibt), und dafür, dass Geld und Kongresstouristen nach Berlin strömen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Das Motto "Arm, aber sexy" hilft der Charité nicht weiter. Oft fehlt es an Grundsätzlichem.

Eigentlich müsste all das auch Berlin dringend wollen. Doch in diesen klammen Herbsttagen, in denen der Bürgermeister Klaus
Wowereit ein klägliches Ergebnis bei den Bundestagswahlen verkraften muss und seine Stadt selten sexy und meistens bloß arm wirkt, wird jede große Vision zuallererst an ihren Kosten gemessen. Danach bleibt von ihr nicht allzu viel übrig. Der neue Finanzsenator der Stadt, Thilo Sarrazins Nachfolger Ulrich Nußbaum, will sich ein weiteres Mal akribisch über Konzept und Zahlenwerk der Charité beugen, und solange nichts entschieden ist, lassen sich weder weitere Top-Forscher nach Berlin locken noch teure Medizintechnik kaufen. Man kann den Finanzsenator durchaus verstehen. Die Liste dessen, was in der Stadt dringend Geld braucht, ist entmutigend lang. Kitas, Schulen, Straßenbau, Arbeitslose, die Integration der vielen Immigranten: alles unterfinanziert. Am Patienten Berlin kann man bloß herumdoktern, für eine Heilung fehlen leider die Ressourcen. So landet man immer wieder schnell bei den ganz großen Fragen, über die man abstrakt wunderbar streiten, die man im Alltag aber nicht zufriedenstellend beantworten kann: Soll man wirklich 650 Millionen Euro ausgeben, damit die Charité werden kann, was sie werden will – ein medizinisches Hochleistungslabor, das global mitzuspielen vermag? Soll man darauf vertrauen, dass die Investitionen, die dazu nötig wären, sich nicht nur für Mediziner, Forscher und die Gesundheitsindustrie bezahlt machen, sondern irgendwann auch für die Patienten und die Stadt? Oder kann man es sich nicht leisten, den Reden, in denen die Zukunftspotenziale der Hochleistungswissenschaft beschworen werden, Taten folgen zu lassen?

Viele von denen, die hier arbeiten, aber vor allem die Patienten würden sich vermutlich schon damit begnügen, wäre die Gegenwart ein wenig besser verarztet. Die Charité sorgt in beunruhigend kurzen Abständen für Nachrichten, die einem Angst und Bange machen können. Zwischen Juni 2005 und Oktober 2006 tötete eine Krankenschwester auf der kardiologischen Intensivstation fünf Patienten. Obwohl sie Ärzten und Pflegekräften immer wieder verdächtig rabiat vorgekommen war, hatte niemand etwas unternommen. Im Juni 2006 ging ein 68-Jähriger, der für eine Augenuntersuchung ins Charité-Klinikum Benjamin Franklin gefahren worden war, verloren und wurde erst nach drei Tagen erschöpft wiedergefunden, in einem stecken gebliebenen Aufzug. Im März dieses Jahres setzte sich auf einer Behindertentoilette ein Fixer den goldenen Schuss; man entdeckte ihn erst Tage später, als die Leiche schon zu verwesen begonnen hatte.

Nach jedem dieser Vorkommnisse bemühte sich die Charité darum, Ähnliches in Zukunft zu verhindern. So gibt es seit den Morden in der kardiologischen Intensivstation ein Frühwarnsystem, bei dem jeder Mitarbeiter mysteriöse Vorfälle und verdächtige Kollegen anonym melden kann; und nach dem Tod des Fixers wurde das Reinigungspersonal eindringlich dazu aufgefordert, verschlossene Toilettentüren zu melden. Doch genügt das wirklich? Schließlich bekommt man oft genug auch mit, wie ungemütlich die Arbeitsbedingungen an der Charité sind. Erst neulich stellte sich zum Beispiel heraus, dass Mitarbeiter des Sicherheitspersonals nur 5,55 Euro Stundenlohn bekommen – weit unter dem kürzlich vom Senat beschlossenen Mindestlohn von 7,50 Euro. Wiederholt hat die IG Bau kritisiert, dass die Charité-Putzkräfte schlecht geschult und ohne ausreichenden Impfschutz ihrem Job nachgehen müssten, bei dem man naturgemäß auch mit nicht ganz ungefährlichem Material in Berührung kommt. Und neulich wurden bei Bauarbeiten im Virchow-Klinikum Mineralfasern freigesetzt, von denen ein Sprecher des zuständigen Landesamts sagte, sie seien »als krebserregend eingestuft, ähnlich wie Asbest«. Jedes Mal, wenn in der besonders bissigen Boulevardpresse Berlins neue Horrorgeschichten aus der Charité stehen, versichert diese, dass erstens alles den Vorschriften entspreche und sich zweitens niemand Sorgen machen müsse. Und dennoch fragt man sich, ob man statt über innovative Medizintechnik und künftige Nobelpreise nicht vielleicht doch lieber über Gehaltserhöhungen oder die Verbesserung der Arbeitsplatzzufriedenheit nachdenken müsste.

Dann sitzt man Ingrid Hamel gegenüber und vergisst solche grundsätzlichen Erwägungen gleich wieder – weil sie einen daran erinnert, dass es immer noch etwas Grundsätzlicheres gibt. Hamel ist seit 1982 Krankenhausseelsorgerin, zuerst in Cottbus, seit 1993 an der Charité, etwas anderes wollte sie nie machen, obwohl ihr längst aufgegangen ist, dass man vom Älterwerden nur erfahrener, nicht abgeklärter wird und das Leiden der anderen umso schlechter beiseiteschieben kann, je öfter man sich ihm aussetzt. Sie kümmert sich vor allem um Eltern, deren Kinder in der Charité gestorben sind. Um Frauen, die sich zu einer Spätabtreibung entschlossen haben, weil die pränatale Diagnostik ergab, dass ihr Kind nicht lebensfähig wäre, um die Hinterbliebenen von Babys, die nicht einmal bestattungspflichtig wurden, wie es in Behördensprache heißt. Bis vor nicht allzu langer Zeit hat man solche Eltern mit ihrer Zukunft beschwichtigen und damit trösten wollen, dass sie immer noch gesunde Babys bekommen könnten – ganz so, als wäre das Kind, um das sie gebangt haben wie verrückt, nie da gewesen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Das medizinische Personal kämpft aufopferungsvoll gegen das Unausweichliche, den Tod. Ihr Waffen: Wissenschaft und Menschlichkeit.

Frau Hamel dagegen ermutigt sie, Abschied zu nehmen. Eine Künstlerin bemalt für sie Särge, jedes Vierteljahr einen Erwachsenensarg, in dem auf einem Friedhof in Berlin-Reinickendorf die toten Kinder beigesetzt werden, deren Eltern sich das wünschen. In diesem Vierteljahr seien es 15, es seien aber auch schon einmal dreißig gewesen, und während sie es erzählt, möchte man aufstehen und so weit wie möglich davonlaufen, weil man nichts auszurichten vermag gegen die Vorstellung von dreißig Kinderleichen in einem einzigen Sarg und all den Eltern, die um ihr Gemeinschaftsgrab stehen. Natürlich lässt man sich dann doch weiter berichten: Bei wie vielen Paaren die Liebe so einen Kindstod nicht überlebt: wie Frau Hamel sich anstrengt, den Glaubens-, Trauer- und Bestattungsregeln aller Konfessionen gerecht zu werden; oder wie gut sie es findet, dass im Islam Krankenbesuche zu den religiösen Pflichten gehören und deswegen immer ganze Großfamilien um die Betten der ihren stehen.

Manfred Dietel, der Leiter des Instituts für Pathologie (und damit ein Nachfolger Rudolf Virchows), ist in vielem das exakte Gegenteil der Seelsorgerin Ingrid Hamel. Ein Wissenschaftler, kein Tröster; ein Analytiker, den zu viel Einfühlung bloß behindern würde; einer, der es mit Gewebe zu tun bekommt, nicht mit den Menschen, denen es entnommen wurde. Seine Arbeit besteht darin, Bilder zu interpretieren und Muster zu erkennen: Ist, was er unter dem Mikroskop sieht, bösartig, und, falls ja, wie genau ist diese Bösartigkeit beschaffen? Der Onkologe und der Chirurg müssen das wissen, um die richtige Therapie einleiten zu können; die Krankenversicherung, um die Mittel für die teuren Behandlungen freizugeben. Man fragt Dietel, wohin die Pathologie heute und an der Charité geht, er sagt: ins Molekulare. Mit den Methoden, die es heute gibt, kann man Zellen so genau untersuchen, dass man, falls man aus den Beobachtungen die richtigen Hypothesen ableitet, irgendwann zielgenaue Medikamente entwickeln kann, die jede Krebsart mit dem richtigen Gegenmittel bekämpfen. Das allerdings benötige viel Geld und Geduld und lasse sich allein nicht mehr bewerkstelligen. Dietel berichtet von den Ringversuchen deutscher Uni-Kliniken, bei denen im Verbund Gewebeproben untersucht und ausgewertet werden; und er erzählt, wie bei ihm am Institut Studenten aus allen möglichen Ländern oft bis tief in die Nacht säßen, um Forschungsberichte auszuwerten, neue Hypothesen zu bilden und zu diskutieren. Und während man ihm zuhört und längst nicht alles mitbekommt, was er über Antikörper, Mutationsanalysen und Wildtypen sagt, begreift man eines: Hier geht es, ganz leidenschaftlich, um Leben und Tod und darum, wie man den Tod möglichst oft doch besiegen kann. Man beginnt zu verstehen, wie sehr es die Charité ausmacht, dass hier so viele grundverschiedene Menschen am selben arbeiten – die einen, indem sie sich über menschliche Moleküle beugen, andere, indem sie Menschen trösten, denen keine Medizin mehr helfen konnte.

Wie man Patienten schlechte Nachrichten beibringt – auch das wird angehenden Ärzten der Charité beigebracht. Henrike Hölzer ist am »Trainingszentrum für Ärztliche Fertigkeiten« für das sogenannte Simulationspatienten-Programm zuständig. Dessen Zweck: Medizinern dabei zu helfen, mit ihren Patienten so zu kommunizieren, dass sie danach die richtige Therapie einleiten können und ihr Gegenüber sich verstanden statt abgefertigt fühlt. Früher mussten Studenten sich das oft bei Chefarztvisiten abgucken, heute lernen sie es im Gespräch mit Schauspielern, die Patienten simulieren – nicht nur deren Symptome wie etwa manische Redeanfälle oder Raucher-Kurzatmigkeit, sondern auch Charaktere, mit denen man es als Arzt zu tun bekommt. Wie geht man auf eine Frau ein, die über vage Energiestörungen im Sonnengeflecht klagt? Was kann man einer jungen Muslimin raten, die Ohnmachtsanfälle erleidet, weil sie im Ramadan das Fasten nicht verkraftet? Wie überzeugt man einen diabetischen Teenager von den gebotenen Lebensstil-Änderungen, während dessen Eltern argwöhnisch dabeisitzen? Wie schafft man es, Patienten nicht gleich zu unterbrechen und dadurch etwas zu übersehen? Und wie sagt man jemandem, dass es für ihn vermutlich keine Heilung mehr geben wird, sondern nur noch Linderung, so gut es eben geht? Etwa 20 000 Krankengeschichten erhebt ein Arzt in seinem Berufsleben. Während des zehnsemestrigen Reformstudiengangs Medizin lernt er rund neunzig Fälle und Persönlichkeiten kennen und ist dann hoffentlich gerüstet für einen Beruf, der oft genug an die Nieren geht. Hölzer erzählt, wie skeptisch Studenten oft sind, ehe das Interaktionstraining beginnt – und wie dankbar, sobald sie merken, wie sehr es sie wappnet gegen das, was auf sie zukommen wird.

Auch diese Erkenntnis lässt sich aus der Charité mitnehmen: Sie ist, immer noch, einer der wenigen Orte in unserer Gesellschaft, an denen das Wissen einer Elite sich einlässt auf die Schmerzen aller – auch die der Armen und der Sprachlosen, der unproduktiven Schichten, über die sich vor Kurzem der ehemalige Finanzsenator Berlins so herablassend geäußert hat. Ein kranker Körper ist ein kranker Körper und muss geheilt werden, gleichgültig, von welchem Geist er bewohnt wird; in einem Krankenhaus bringt Distinktionsgerede niemanden weiter.

Vor der Bestrahlungsambulanz stehen graugesichtige Männer und quarzen sich die Lunge weg, ehe sie gleich zur Behandlung reingehen, im Café des Bettenturms sitzen alte Damen und laben sich vor ihren Krankenbesuchen mit Torten, auf dem Platz vor dem Eingang stehen, in fadenscheinigen Morgenmänteln und Pantoffeln, Patienten und geben per Handy durch, was der Chefarzt gesagt hat. Nichts Aufregendes, lauter Routinefälle. Die einen werden es schaffen und nach Hause gehen können, die anderen hierbleiben oder wiederkommen müssen, und am Ende wird alles vergebens sein. Doch bis es so weit ist, kämpfen die Leute hier gegen die Sterblichkeit an, die meisten von ihnen überarbeitet und unterbezahlt, immer in diesem grauenhaften Licht, von dem man nach ein paar Minuten müde wird, im Hintergrund ständiges Lüftungsrauschen. Es sind seltsame Häuser, in denen man Heilung sucht. Vermutlich sollten sie uns mehr wert sein, als wir ihnen gönnen.

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Peter Praschl war glücklicherweise nicht oft im Krankenhaus, und wenn, war es nichts Ernstes. Und obwohl er jedes einzelne Mal sowohl fachlich als auch menschlich bestens behandelt wurde, hat er seine Angst vor Krankenhäusern nicht abschütteln können: zu viel Leid, zu viel Schmerz, zu viel Sterblichkeit, und Orte, die einen zur Hoffnung zwingen, können nicht wirklich angenehme Orte sein. Diese Angst ist er auch bei seiner Reportage über die Berliner Charité nicht losgeworden. Aber jetzt hat er auch noch eine Menge Respekt: Menschen, die im Gesundheitswesen schuften, verrichten gesellschaftlich außerordentlich nützliche Arbeit - und dennoch wird ihnen permanent gesagt, sie seien viel zu teuer.

Fotos: Thomas Meyer