Was Nuss, das Nuss

Was, wenn Eichhörnchen nicht nur den Balkon besuchen, sondern durch die offene Tür sogar in die Wohnung kommen? Unserer Autorin in Berlin-Mitte erging es so – und sie weiß, was man beim Füttern der Tierchen beachten sollte.

Man kann Eichhörnchen in der Stadt das ganze Jahr über füttern, am besten mit heimischen Nüssen. Das Öffnen der Nuss bekommen sie dann schon hin.

Foto: Kerstin Greiner/Lea-Sophie Fetköter

Fritzi wuselte sich vor fünf Jahren in mein Leben. Durch die offen stehende Balkontür meiner Küche im vierten Stock sah ich aus den Augenwinkeln diese hektischen Bewegungen, die ich nur von Eichhörnchen kenne: ein Flimmern aus rotbraunem Fell, der buschige Schweif schnell wie eine Sternschnuppe. Auf Englisch heißt das Eichhörnchen »squirrel«, abgeleitet von den griechischen Wörtern für »Schatten« und »Schwanz«. Auch dieses Eichhörnchen hüpfte von Kübelpflanze zu Kübelpflanze, wühlte in der Erde, rannte zur Küchentür, hielt inne. Dann sprang es durch die offene Tür auf meinen Esstisch.

Ich versuchte es mit »Gsch, gsch, gsch!«-Geräuschen zu verscheuchen, es hüpfte durchs Wohnzimmer, ich hinterher, dann jagte ich es zurück durch die Balkontür. Elegant flog es in Richtung Wandbepflanzung des Wohnhauses und verschwand raschelnd. Im Sprung sah es aus, als ob es einen Wingsuit tragen würde. Ich legte dem Eichhörnchen ein paar Walnüsse auf den Balkon und schloss die Tür. Kurze Zeit später hielt es sie in seinen putzigen Mini-Krallen und futterte. In diesem Augenblick wurde ich zur Pflegemutter. Ich nannte mein erstes Eichhörnchen Fritzi.

Seit unserer ersten Begegnung kommt Fritzi jeden Tag, oft mehrmals. Ich weiß nicht, ob Fritzi männlich oder weiblich ist. Meistens wartet Fritzi schon morgens und klopft an die Tür – kein echtes Klopfen, sondern eher ein Mit-Stakkato-Bewegungen-auf-sich-aufmerksam-Machen. Manchmal stellt es sich auf die Hinterbeine und kratzt mit den Krallen an der Glastür. Wenn ich die Balkontür offen lasse, schlittert es über mein Parkett oder klettert über die Möbel. Einmal hat es im Badezimmer alle Cremes und Tiegel umgeworfen. Ein anderes Mal sauste es während einer Videokonferenz durch mein Büro. Jeden Tag lege ich ihm Hasel- oder Walnüsse hin. Mandeln darf es nicht fressen, sie könnten giftige Blausäure enthalten, habe ich recherchiert. Eine Eichhörnchen-Futtermischung hatte ich auch schon gekauft, da verschmähte Fritzi die Sonnenblumenkerne. Karotten und Äpfel sind eine nette Abwechslung, aber seine Leibspeise bleibt die Nuss.

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Zumindest in Großstädten wie Berlin, wo ich lebe, sind Eichhörnchen auf die Unterstützung der Menschen angewiesen: Die Trockenheit durch den Klimawandel macht vielen Wildtieren zu schaffen. Die Flüsse tragen weniger Wasser, Pflanzen verdorren, Nahrung wird knapper. In den mit Asphalt versiegelten Böden der Städte gibt es wenige Wasserstellen, kaum Schlaglöcher oder Pfützen. Meine Kübeluntersetzer, in denen sich Wasser sammelt, sind die einzige Wasserquelle in der Nähe: keine Friedhöfe, die Spree läuft im Kanal, der nächste Park ist der Tiergarten.

Eichhörnchenbesuch im Homeoffice. Aber Wildtiere sollen wild bleiben, deswegen scheucht die Autorin es gleich hinaus.

Foto: Kerstin Greiner/Lea-Sophie Fetköter

Im Frühsommer dieses Jahres schlug die Eichhörnchen-Hilfe Berlin-Brandenburg Alarm: Eichhörnchen könnten dehydriert vom Baum fallen. In Berlin regnet es im Jahr nur etwa 580 Milliliter, bei 300 bis 500 Millilitern nennen Wissenschaftler die Landschaft Steppe. Durch die Trockenheit werden die Nüsse zu früh reif, und Ende des Sommers gibt es kaum noch Nahrung. Und die milden Winter könnten die für Eichhörnchen wichtige Winterruhe stören, was sie stressen und krankheitsanfälliger machen könnte – bislang gibt es darüber aber noch keine Untersuchungen, nur Vermutungen. Wegen der wärmeren Winter beginnt zudem die Paarungszeit früher, manchmal schon im Januar, und wenn es nach der frühen Geburt noch einmal kalt wird, überleben das viele Jungtiere nicht. Also ließ ich Fritzi in mein Leben. Und das Eichhörnchen mich in seines.

Stadt-Eichhörnchen haben gelernt, sich anzupassen. Wie sie mit der veränderten Umwelt umgehen, untersucht das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin: Sinah Drenske hat für ihre Doktorarbeit Eichhörnchen mit Tracking-Chips versehen und Wildtierkameras aufgestellt, außerdem hat sie Daten eines berlinweiten bürgerwissenschaftlichen Projektes ausgewertet – drei Jahre lang hatten Freiwillige Kameras in ihren Gärten aufgestellt und die Fotos auf einer Meldeplattform hochgeladen.

Erkenntnis: Eichhörnchen richten ihre tageszeitlichen Aktivitäten flexibel an der Anwesenheit von Menschen, Hunden, Katzen und Beutegreifern wie Mardern oder Greifvögeln aus. »So können sie Nahrungsquellen gut nutzen und ihr Sterblichkeitsrisiko mini-mieren«, sagt Sinah Drenske. »Sie nehmen Katzen als ihre größte Bedrohung wahr.«

Weitere Erkenntnis: Während des Corona-Lockdowns wurden die Eichhörnchen in den Gärten aktiver. In dieser Zeit gruben die Menschen dort – oder auf ihren Balkonen – herum und richteten Futterplätze ein. »Diese neuen Nahrungsquellen könnten Eichhörnchen ermutigt haben, diese Plätze aufzusuchen«, sagt Drenske. Überhaupt sei Corona ein Segen für Wildtiere gewesen: kaum gefährlicher Autoverkehr, dafür Ruhe. Menschen böten den Eichhörnchen noch einen anderen großen Vorteil: »Greifvögel halten sich stärker von Menschen fern als die Eichhörnchen. Die Menschen schützen sie.«

Im Sommer vorigen Jahres saß Fritzi in Begleitung vor meiner Tür. Ich schätze, es waren ihre zwei Jungen, denen sie eine gute Futterstelle zeigte. Das Dreier-Gewusel war so wild, dass ich kein Foto hinbekam, auf dem alle drei gemeinsam gut zu sehen sind. Eines hat einen weißen Bauch, oder sind es zwei? Ich nenne sie inzwischen alle Fritzi. Täglich bin ich im Zwiegespräch mit meinen Fritzis, manchmal sitzen sie minutenlang auf dem Balkongeländer und sehen mich an.

Eichhörnchen leben territorial und markieren ihre Reviere, aber wenn der Lebensraum klein ist, teilen sie ihn sich.

Foto: Kerstin Greiner/Lea-Sophie Fetköter

Es gebe Anzeichen, sagt Sinah Drenske, dass Städte gute Refugien für Eichhörnchen sein könnten: weniger Beutegreifer, mehr Futter. »Aus Studien in anderen Ländern wissen wir, dass es mittlerweile in der Stadt mehr Tierarten auf kleiner Fläche gibt als auf dem Land«, sagt sie. »Stadteichhörnchen scheinen weniger Scheu vor Menschen zu haben, das macht sie flexibler: weil mutige Eichhörnchen bessere Chancen haben, Wasser und Nahrung zu finden.«

Meine drei mutigen Eichhörnchen! Diese koboldhaften Tiere erinnern mich an die Frechheit und Freiheit eines Pumuckls: Plötzlich sind sie da und sehr drollig – und dann wieder weg, wie unsichtbar. Mir scheinen sie zutraulicher zu sein als andere Wildtiere, mir und dem Menschen an sich zugewandter. »Aber das ist nur der menschliche Blick: Weil wir sie süß finden und sie uns nicht gefährlich werden können. Wildschweine könnten wir auch anfüttern, aber die haben Zähne. Sie mögen den Schutz vor der Jagd und das breite Nahrungsangebot der Stadt jedoch genauso«, sagt Drenske. Natürlich weiß ich, dass meine drei Eichhörnchen nur zu mir kommen wegen meiner Hausbe­pflanzung, des verwilderten Innenhofs und meiner nie versiegenden Nusskollektion. Trotzdem ertappe ich mich, wie ich nun meinerseitsmorgens an die Balkontür der Küche trete und von innen mit den Finger­nägeln am Glas kratze, um auf mich aufmerksam zu machen. Wo bleibt ihr denn heute?

Der Zoologe und Wissenschaftler Josef H. Reichholf, Autor des Buches Das Leben der Eichhörnchen, sagte in einem Interview mit der Berliner Zeitung: »Ich habe oft den Eindruck – es ist natürlich schwer zu sagen, ob der richtig ist, als Wissenschaftler muss man vorsichtig sein –, dass wir mit unserer aufrechten Fortbewegungsweise für die Eichhörnchen irgendwie interessant sind. Sie schauen uns neugierig an.« Eine schöne Vorstellung, finde ich. Zumindest ist es ein gutes Gefühl, dass es so sein könnte.

Meine drei Fritzis sind aber nicht die Einzigen, die sich mit ihrem Verhalten an die Stadt in Berlin-Mitte angepasst haben. Vor der Terrassentür meiner Nachbarin, die im Erdgeschoss zum Hinterhof ihr Büro hat, schlief neulich den ganzen Tag lang ein Fuchs, gemütlich zusammengerollt auf dem Fußabtreter.