Beim ersten Versuch wäre sie fast ertrunken: Hannah Fraser war neun Jahre alt und wollte sein wie die Meerjungfrau in ihrem Lieblingsfilm Splash – Jungfrau am Haken, in dem sich ein Junge in eine Nixe verliebt. Also sprang Hannah in den Pool ihrer Eltern, mit einer selbst gebastelten Schwanzflosse aus einer Plastiktischdecke, Klebeband und einem Kleiderbügel. Ihre Mutter musste sie aus dem Wasser ziehen, aber Hannah machte einfach weiter: Monatelang übte sie diese wellenartige, aus dem Bauch kommende Schwimmbewegung.
Dann zog die Familie ins australische Hinterland, kein Pool, kein Meer. Also malte Hannah Meerjungfrauen im Sonnenuntergang, sehr kitschig, aber es reichte für einen Studienplatz als Grafikdesignerin. So hätte ein Berufsleben mit Meerjungfrauen-Bildschirmhintergrund, -Tattoo, -Kaffeetasse und -Komplex beginnen können.
Dass es anders kam und Hannah Fraser zur ersten professionellen Meerjungfrau der Welt wurde, verdankt sie einem Trick: Statt sich, wie während ihres Studiums, mit Modeljobs über Wasser zu halten, probierte sie es unter Wasser. Bei einem Bademoden-Shooting war sie nur eines von vielen hübschen Mädchen, sie musste irgendwie auffallen, also bastelte sie einen Meerjungfrauenschwanz, diesmal aus einem Surfanzug und einer Flosse. »In dem Kostüm konnte ich einzigartig sein.« Sie nutzte jede Chance, um entdeckt zu werden, sie folgte ihrem Mann, einem Profisurfer, um die ganze Welt. »Wenn die Wellen niedrig waren, schlüpfte ich in meinen Anzug und bezirzte die Fotografen.« Vor acht Jahren, auf Fidschi, hatte sie Erfolg damit. Eine Werbekampagne für eine Surfermarke war ihr erster großer Job.
Seitdem nennt sie sich Hannah Mermaid und lebt vom Mermaiding, dem Imitieren des Meerjungfrauendaseins. Sie kann zwölf Meter tief tauchen und zwei Minuten ohne Luft auskommen. Sie dreht Werbespots, spielt in Videos der isländischen Band Sigur Rós mit oder winkt in australischen Vergnügungsparks zwischen bunten Plastikkorallen hervor. Um im kalten Wasser entspannt zu wirken, trainiert Hannah jeden Tag Atemtechniken und Yoga. Damit sie bei Unterwasseraufnahmen nicht ständig auftauchen muss, stehen im Hintergrund manchmal Taucher bereit, um ihr Sauerstoff zu geben. Doch sie kommen kaum hinterher. Hannah schwimmt mit ihrem Flossenschwanz allen davon. Ihre neuesten, aus drei Millimeter dickem Neopren maßgeschneiderten Modelle bestickt sie mit Pailletten und Silikonstreifen. Das kostet sie jeweils rund drei Monate Arbeit und 3000 Dollar.
Inzwischen gibt es sogar andere Frauen, die ihren Stil kopieren und sich ebenfalls als Meerjungfrau fotografieren lassen. Aber Hannah Mermaid ist der Star der Szene: Sie bekommt Fanmails von Mädchen und Liebesbriefe von Männern. Die Anzahl der Hobbymeerjungfrauen schätzt sie auf mehr als 10 000.
Und diese Möchtegern-Meerjungfrauen fangen sogar an, sich zu organisieren: Letztes Jahr fand in Las Vegas die erste »Mermaid Convention« statt. Hannah hat dort die Auszeichnung für ihr Lebenswerk bekommen – mit 36 Jahren. Im Magazin Businessweek wurde sie als Angelina Jolie des Mermaiding bezeichnet. Und die Branche boomt – denn mit einer Meerjungfrau lässt sich offenbar für fast alles werben. Für wasserdichte Uhren, russischen Wodka – in China sogar für High Heels, was seltsam ist, denn Schuhe kann eine Meerjungfrau beim besten Willen nicht gebrauchen. Auch in der Popkultur tauchen Meerjungfrauen häufig auf: Egal ob im Kinofilm Fluch der Karibik
(Teil 4) oder der ZDFtivi-Kinderserie H2O – Plötzlich Meerjungfrau. Und Stephenie Meyer, Autorin der Vampirsaga Twilight, hat ein neues Buch angekündigt: Es geht um Meerjungfrauen.
Warum also sind die Nixen so beliebt? Vielleicht fallen sie einfach in die richtige Epoche. Denn ein Mischwesen aus Mensch und Meeresbewohner passt zum Zeitgeist wie ein Hybrid-Auto: nicht Fisch, nicht Fleisch, aber Sinnbild einer diffusen Sehnsucht nach Natur und Bodenständigkeit. Wobei: Laufen kann Hannah Mermaid mit ihrem Fischschwanz gar nicht. Nur ein bisschen hopsen.
Foto: Jaime Gianopolous