Kann man Kreativität definieren? Man sollte es lieber sein lassen, weil Definitionen kreative Gedanken verhindern können. Unausgesprochen weiß jeder, was mit Kreati-vität gemeint ist. Doch was ist das Ziel und was sind Bedingungen für Kreativität? Ein kreativer Prozess sollte zu etwas Neuem führen, und das Neue ist immer neues Wissen. Das Schaffen neuen Wissens kann nicht aus dem Nichts entstehen; es muss eine Basis bereitstehen, auf der das Neue entstehen kann. Ohne schon vorhandenes Wissen oder Können ist Kreativität ein blinder Prozess, in dem manch Neues entsteht, das jedoch keinen Bezug zur Realität hat.
Es gibt natürlich ein paar äußere und innere Bedingungen, die Kreativität beeinflussen. Wenn man sie berücksichtigt, kann man die Kreativitätsausbeute verbessern. Die tageszeitliche Schwankung aller Funktionen in unserem Körper bedingt, dass wir zu bestimmten Tageszeiten sehr einfallsreich oder aber sehr eingeschränkt sind. Ein besonderer Rahmen der Kreativität wird durch die Ernährung gegeben. Aufgrund der Möglichkeiten, die unsere moderne Gesellschaft bietet, sind viele von uns überernährt. Besonders kreativ sind wir aber gerade dann, wenn wir hungrig (ein wenig hungrig) sind. Abnehmen unterstützt also auch die kreativen Potenziale. Kreativität hängt weiter davon ab, wie die physikalische Umwelt gestaltet ist: von der Raumtemperatur, der Lichtintensität, dem Geräuschpegel, dem Geruch, der Architektur der Räume, in denen man sich aufhält. Da die Interaktion mit anderen für den kreativen Prozess entscheidend ist, spielt die Gestaltung der Räume oder eines Gebäudes eine maßgebliche Rolle. Es fällt auf, dass bereits ein anderes Stockwerk daran hindert, mit anderen in einen kreativen Kontakt zu treten. Kreativität findet in einem Radius von etwa fünfzig Metern statt. Eine gelungene Architektur der Kreativität muss von der Innenperspektive des Menschen ausgehen, zu der die Sehnsucht nach Einsichten gehört. Übereinandergetürmte Räume in Hochhäusern isolieren voneinander, und mangelnder Kontakt zu anderen lässt kreative Potenziale ungenutzt. Man denkt und handelt in der Ebene, und hierbei spielt der Türrahmen eine wichtige Rolle. Wie viele gute Gespräche finden im Türrahmen statt; man hat etwas gesagt, und im Hinausgehen fällt einem noch etwas ein. Der Türrahmen ist in gewisser Weise auch ein Symbol: Wenn man kreativ gewesen ist, muss man durch die Tür gehen und es anderen sagen. Wirkliche Kreativität kann nicht eingeschlossen bleiben; sie will mitgeteilt werden.
Da im menschlichen Gehirn alle Funktionen voneinander abhängig sind, spielt es auch eine Rolle, in welcher Weise sich die kreative Leistung äußert. Wenn man den Rahmen des Sprechens wählt, ist man in einer anderen Weise kreativ als beim Schreiben. Dies liegt teilweise auch an der Geschwindigkeit der möglichen Äußerung; man spricht sehr viel schneller, als man schreibt, so dass die Ankopplung des kreativen Gedankens beim Schreiben verzögert ist und dieser sich manchmal sogar verliert. Etwas zu zeichnen ist wiederum ein anderer expressiver Rahmen; Skizzen sind für manche entscheidend, um sich aus den Knäueln der Gedankenwelt herauszuwinden. Etwas zu bauen, als Modell oder nur in spielerischer Absicht, greift seinerseits auf andere kreative Potenziale zurück, und zu spielen ohne die erklärte Absicht, ein Problem zu lösen, öffnet wieder einen anderen Zugang.
Soziale Faktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Manchmal ist man dann besonders kreativ, wenn man unter Zeitdruck steht. Offenbar können in einer solchen Situation weitere Ressourcen des Gehirns angezapft werden; doch gilt dies nicht generell, denn manche geraten unter Zeitdruck in einen Angstzustand, so dass das Gehirn völlig verschlossen bleibt. Betrachtet man die zahlreichen Variablen, die individuelle Kreativität beeinflussen, so folgt daraus: Jeder sollte seine eigenen Randbedingungen kennenlernen, um seine kreativen Potenziale zu nutzen.
Wie könnte ein Ort der Kreativität gestaltet sein? Wir sind von Natur aus ortsverankerte Wesen. Wir brauchen für die Entfaltung unserer Möglichkeiten Sicherheit, und diese Sicherheit wird uns dann gegeben, wenn wir uns irgendwo heimisch fühlen.
Da viele einen großen Teil der Zeit in einem Büro zubringen, muss dieser Ort als ein persönlicher Raum empfunden werden, mit dem wir uns identifizieren. Bezieht jemand einen neuen Arbeitsraum, sind es häufig sehr persönliche Dinge, die zuerst ausgebreitet werden. Ein Revier wird in Besitz genommen, der Raum ein neuer Bezugspunkt, aus dem heraus man lebt und handelt. Wenn wir uns einen Raum zu eigen machen, nehmen wir eine Innenperspektive ein, aus der heraus wir die Welt betrachten. Bei der Außenperspektive wird uns ein Ort wie auf einer Landkarte zugeteilt, mit dem wir uns kaum identifizieren können. Hieraus folgt, dass der Verzicht auf das individuelle Büro keine angemessene Lösung ist, hat man die Förderung der Kreativität im Auge.
Eine solche Strukturierung der Arbeit, in der man jeden Tag einen neuen Arbeitsplatz zugeordnet bekommt, geht von einem Menschenbild aus, in dem wir als beliebig instrumentalisierbar angesehen werden. In solchen entpersönlichten Bürolandschaften können vielleicht Aufgaben abgearbeitet werden, ein Ort der Kreativität sind sie nicht.Der Verzicht auf den individuellen Ort bringt mich zu einer weiteren Eigenschaft des Gehirns, die uns alle kennzeichnet. Wenn immer wir etwas planen oder eine Aufgabe zu lösen haben, finden in unserem Gehirn zwei parallel laufende Vorgänge statt. Zum einen wird ein Programm der Ausführung in Gang gesetzt, die Aufgabe wird in Angriff genommen; zum anderen wird eine Kopie des exekutiven Programms gemacht, und diese Kopie wird laufend mit dem Status verglichen, in dem sich die Aufgabe gerade befindet. Wir sind also immer darüber informiert, wie weit wir sind.
Dieses Prinzip hat noch eine weitere Bedeutung hinsichtlich unserer kreativen Potenziale. Wir sind von Natur aus in der Weise konstruiert, dass wir Dinge zum Abschluss bringen müssen: wir können dies als »Prinzip der Vollendung« bezeichnen. Solange eine Aufgabe noch nicht erledigt ist, bleibt eine Restspannung in uns erhalten. Erst wenn die Aufgabe vollendet ist, tritt Ruhe und manchmal Zufriedenheit ein. Gegen dieses universelle Prinzip wird leider häufig verstoßen. Viele Zusammenschlüsse von Unternehmen scheitern allein deswegen, weil die Mitarbeiter eine Aufgabe in ihrem alten Rahmen nicht beenden und damit vollenden können. Kreativität braucht Sicherheit und Vertrauen. Wenn Mitarbeiter nur ökonomisiert und instrumentalisiert werden, verzichtet man auf ihre kreativen Ressourcen. Auf die Frustration der Einzelnen folgt der ökonomische Einbruch.
Um einen besseren Einblick in mögliche Kreativität zu erhalten, können wir uns an einigen Prinzipien der Evolution orientieren. Die Evolution des Lebens ist der kreativste Prozess gewesen, der sich auf der Erde entfaltet hat. Was können wir aus der Evolution lernen, um von einer »evolutionären Kreativität« etwa in einem Büro zu sprechen? Die wichtigsten Prinzipien der Evolution sind Mutation, Vielfalt der Merkmale und Selektion. Der zweite Punkt ist besonders wichtig, nämlich die Vielfalt oder die Variabilität. Wenn viel Verschiedenes zusammenkommt, kann leichter etwas Neues in einem Selektionsprozess entstehen. Durch Zufall (Mutation) können neue Konfigurationen entstehen und müssen dann nur aufgegriffen werden. Ein Raum muss folglich die Möglichkeit für Vielfalt geben. Welche Gestaltungsmerkmale können dabei eine Rolle spielen, und wie könnte die Arbeit zeitlich inszeniert werden?
Um mit dem Letzten zu beginnen: Ich glaube, dass der »Kreativitätsstau« in unserer Gesellschaft dann aufgelöst werden könnte, wenn die Büros in allen Institutionen täglich eine Stunde aus dem Kommunikationszwang aussteigen würden. Dies müsste natürlich überall dieselbe Stunde sein. Mein Vorschlag: Jeder kann sich jeden Tag zwischen zehn und elf Uhr konzentrieren; keiner darf gestört werden. Ein Land ist still und denkt. Kreativität benötigt zeitliche Nischen, wenn man dem Terror der Kommunikation nicht ausgeliefert ist.
Was sind äußerliche Merkmale eines Raumes, die Kreativität fördern? Es mag verwundern, doch fällt mir als Erstes der Ausblick ein. Ich muss aus dem Raum hinausschauen können; mit dem Hinausschauen wird eine Verbindung mit der Außenwelt hergestellt und aufrechterhalten. Der Blick durch das Fenster ist also nicht (nur) dazu da, den Geist in die Ferne schweifen zu lassen, sondern um den Geist im eigenen Raume zu verankern und um sicherzustellen, wo man in der Welt ist. Dasselbe gilt auch für den Blick auf Bilder. Ich kenne kein Büro, in dem nicht Bilder an der Wand hängen, und diese Bilder haben nichts mit dem unmittelbaren Aufgabengebiet zu tun. Wird das Büro individuell ausgestattet, sind es fast immer Bilder mit einem privaten Bezug, die den Raum damit in eine persönliche Umwelt formen.
Der Blick durch das Fenster und die Bilder an der Wand erhöhen die Vielfalt, und sie sind damit im Sinne einer evolutionären Kreativität wichtige Elemente für neue Bezüge und für ungewöhnliche Einfälle.Die Vielfalt wird auch dadurch erhöht, dass nicht immer alles weggeräumt wird, womit man sich gerade befasst. Ein leerer Schreibtisch mag Ausdruck von Ordnung sein, er ist aber manchmal auch Ausdruck mangelnder Flexibilität und einer gewissen Distanz zur eigenen Arbeit; man will es aus dem Weg haben. Wenn man die Dinge, mit denen man zu tun hat, und meistens hat man mit mehreren Aufgaben gleichzeitig zu tun, vor Augen behält, kann man die Arbeit nach einer Unterbrechung leichter wieder aufnehmen. Es ist eine Fährte, die schon gelegt ist und nicht erst wieder neu gesucht werden muss. Hier wirkt sich auch wieder die Ortsgebundenheit des Denkens aus: Bestimmte Vorgänge müssen immer an derselben Stelle in einem Raum ausgebreitet sein.
Manchmal wird Kreativität mit Innovation verwechselt. Kreativität ist eine persönliche Angelegenheit; das einmalig Neue kann immer nur einem Gehirn entspringen. Auch wenn man in einer Gruppe zusammensitzt, dann mag die Gruppe die Bedingung dafür sein, dass jemandem etwas einfällt, aber es fällt immer einem Einzelnen ein. Eine Innovation ist dagegen ein soziales Geschehen; ein kreativer Gedanke kann noch so genial sein, er muss erst von anderen aufgenommen werden, damit daraus eine Innovation werden kann. Hier gelten andere Gesetze, insbesondere Marktgesetze. Doch der soziale Rahmen gilt auch für die Kreativität in den Künsten oder der Wissenschaft.
Solange andere die Bedeutung eines künstlerischen Werkes, einer wissenschaftlichen Einsicht oder einer technologischen Entwicklung nicht erkannt haben, hat Kreativität noch nicht einen Rahmen gefunden, in dem sich eine Innovation verwirklichen lässt. Dies ist gerade das Problem sozialer Gemeinschaften, dass die Brücke zwischen Kreativität und Innovation nicht existiert; ich vermute, dass in Schubladen vieler Menschen Schätze schlummern, die zu Innovationen und damit zur Wertschöpfung taugen, doch die nicht genutzt werden. Was tun? Nachdem ein Forscher sein Labor verlassen hat, nachdem man sein Büro verlassen hat, könnte man sich ein paar Minuten fragen, was die eigene Arbeit möglicherweise für andere bedeuten könnte.
Natürlich würde diese Selbstbefragung eine gewisse Aufgeschlossenheit für die Welt der anderen voraussetzen. Aber das ist gerade die Bedingung von Kreativität: andere Welten, anderes Denken in das eigene Denken einzuschließen.